Buch lesen: «Jahrhundertwende», Seite 11

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22. Dezember 1990, Los Quemados (La Palma)

Hier wurzelt alle Ökonomie in der Ökonomie des Wassers. An der nötigen Infrastruktur der Bewässerung hat das Gemeinwesen seine Aufgabe. Alte Ordnungen der Verteilung der Ressource. Feudale und dann wieder (oder kombiniert) kapitalistische und Monopolansprüche beschworen Kämpfe auf Leben und Tod herauf. Einer der durch den Staat vermittelten Kompromisse besagt, dass an einer derartigen Anlage dem einzelnen Bauern so viel Wasser zusteht, wie er an einem Tag im Monat mit einem ausgehöhlten Kürbis schöpfen kann. Sie schöpften wie der Teufel, und der Erschöpfung kamen sie durch Nachbarschaftshilfe zuvor. – Koppelungsstelle zwischen Arbeitszeit und Gebrauchswert: ein Tagwerk Wasser.

26. Dezember 1990

Sonderbare Serie von Träumen. Gestern Nacht in einer Kirche, an die Zionskirche erinnernd, eine Podiumsdiskussion, bei der Alexander Dubček auftrat, in vornehm-wehmütiger Haltung von der Empore sprechend. Zwei Nächte träumte mir von Gysi. Es ging um irgendeine Unkorrektheit in seiner Partei, worüber eine Versammlung tagte; ich glaube, jemand hatte einen Handel mit Parteikrempel aus der vorigen Epoche aufgemacht, und Gysi sagte zu mir: »Einer hat halt immer die Hände unter der Decke.« Wieder eine Nacht zuvor HK, die ich aus einer Redaktionssitzung befördern musste, während sie sich, auf Kindsgröße schrumpfend, an mein Bein klammerte, wimmernd und feucht wie ein sexueller Kobold. Heute Nacht hatte man angesichts der Weltwirtschaftskrise den kühnen Entschluss gefasst, das gesamte Gewicht des Staates in die ökonomische Waagschale zu werfen, Krise und Bankrott gleichsam wegzugarantieren. Nachdem die Planwirtschaft zusammengebrochen und vom Privatkapitalismus vereinnahmt worden war, musste sie nun hinterrücks wieder eingeführt werden, als staatliche Trägerschaft der gesamten Wirtschaft, oberflächlich noch die bisherigen Formen weiter- und auslaufen lassend. Es war ein gigantisches und einmaliges Experiment, und ich hatte getan, was ich beim umgekehrten Vorgang bezüglich der DDR versäumt hatte: Beobachter animiert, die von überall her Material sammelten, um das Geschehen aufzuzeichnen.

27. Dezember 1990

Sonst träume ich monatelang nichts (zumindest erinnere ich mich nicht daran), jetzt allnächtlich. Diesmal von einem Kongress in Ost-Berlin, mit ehemaligen SEDlern, die noch benommen von der Katastrophe waren. Die emotionale Qualität ihres Zusammenhangs untereinander und mit der untergegangenen DDR.

Ich habe es noch nicht im Ernst begriffen. Weltgeschichtliche Sackgasse? In den Träumen lernen die Emotionen.

28. Dezember 1990

Schlecht geschlafen und heftige Traumarbeit. Ein Unbewusstes, das zurande zu kommen versucht. Blutige Befreiungskämpfe in der Antike, aber am Schluss, unter den Linden, nach dem gerufen, der »das alles« verantwortet. Ein gründgenscher Conférencier inszenierte dessen Auftritt: Hitler! Aber Hitler war schwarz.

In der zweiten Hälfte der Nacht im Traum mit Volker Braun sisyphusgleich am Staat gearbeitet.

Tagsüber lerne ich Altgriechisch. Großes Bedürfnis danach. Wie ein Tor zu einem nächsten Lebensabschnitt. Es könnte der letzte sein.

Der Urlaub halb vorbei; ich lege den Artikel »Dummheit« zur Seite und wende mich dem Vorwort zur Gramsci-Ausgabe zu.

1991
4. Januar 1991

Auf dem Flughafen von La Palma entdeckte Frigga zwei DDR-Kolleginnen, die in der Argument-Frauen-Redaktion mitgearbeitet hatten. Da sind wir also eine Urlaubsgemeinschaft geworden. Was für ein Wandel seit vor einem Jahr. Große Bedrückung angesichts des Wie. Das Wort der Tage heißt »Abwicklung«. Ich kann mich nicht des Gedankens erwehren, dass es derselben Spracharbeit entspringt wie einst die »Endlösung«.

Aus einer herumliegenden Zeitung vom Rücktritt Schewardnadses im Konflikt mit Gorbatschow erfahren. Er sieht die Gefahr einer neuen Diktatur.

5. Januar 1991

Klaus Bochmann berichtet Bedrückendes über »Abwicklung« und »Evaluierung« aus Leipzig und Halle. Auch in Halle hatten Studenten die Universität besetzt. Hatten anscheinend versucht, mich für irgendeinen Vortrag zu gewinnen. Nur an der Humboldt-Universität hat sich der Rektor auf die Seite der Studenten gestellt.

In den USA steigt die Arbeitslosigkeit. Nach amtlichen Angaben (denen nicht zu trauen ist) waren es im Oktober noch 5,7 Prozent, im Dezember bereits 6,1. Im Arbeitsministerium rechnet man für Juli mit dem Zusammenbruch der Arbeitslosenversicherung in mindestens acht Bundesstaaten.

7. Januar 1991

Wenn Antisozialismus Kristallisationskern eines jeden Faschismus, was wird dann, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, aus der faschistischen Gefahr? Marginal?

Wird die Kapitalistenklasse wieder problemlos hegemonial, Konsens bündelnd für ein Projekt, das Profitinteressen mit zivilgesellschaftlichem Universalismus artikuliert? Ist der heraufziehende Ölkrieg dafür exemplarisch?

Gramscis Terminologie. »Subalterne« hatte ich als Tarnwort unter Bedingungen der Zensur verstanden. Hat aber Sinn: Kategorie vom Standpunkt der Selbstregierung.

9. Januar 1991

Die von der litauischen Regierung beschlossenen Preiserhöhungen schufen Fronten quer zu den Nationalitäten. Endlich! Nationen gegeneinander – das war unbearbeitbar. Vergebens rief der Parlamentspräsident über den Rundfunk um Hilfe gegen die Demonstranten. Das Parlament wurde aufgebrochen, die Regierung Prunskiene trat zurück, die Preiserhöhungen sind ausgesetzt.

10. Januar 1991

Was Lafontaine von den Kosten der Vereinigung und von der Unmöglichkeit, ohne Steuererhöhungen zurechtzukommen, gesagt hatte, pfeifen jetzt die unzufriedenen Spatzen von den Dächern. Aber der Name L. wird nicht genannt.

Einer Bücherliste in Gramscis 1. Gefängnisheft entnehme ich: Heinrich Manns Untertan heißt in der französischen Ausgabe Le Sujet.

11. Januar 1991

Weltkrieg neuen Typs. – Mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination wartet die bürgerliche Welt auf den Öl-Krieg, denn »Golf« ist doch nur ein geographischer Name für Öl. Ich vermag mich der lüsternen Haltung der Konsumenten von Fernsehbildern vom Krieg nicht gänzlich zu entziehen, obgleich sie mir zuwider ist. Was bevorsteht, ist ein Weltkrieg neuen Typs: scheinbar erklärt die ganze Welt, vertreten durch die Weltorganisation, dem Irak den Krieg. Real und doch auch nur scheinhaft, weil unter der von den USA hegemonisierten Welt eine andere sich rührt. Der Krieg mag sich ausbreiten, soundso viele Völker oder Teile von ihnen werden sich – gegen ihre eignen Regierungen – daran beteiligen.

Mein Bruder fragte, ob es ratsam sei, während der möglichen Kriegszeit Urlaub auf einer der kanarischen Inseln zu machen. Ich riet ihm ab. Ich rechne mit einem Krieg, den ich mir nicht vorstellen kann.

12. Januar 1991

Baudrillard benützt die Vorkriegssituation zur Bebilderung seiner Simulationsthese. Der Krieg am Golf finde nicht statt. Joseph Hanimann, dessen Bericht ich den Hinweis entnehme, gibt zu wenig Material, um diese Äußerungen von verschmockter Blödheit zu unterscheiden.

13. Januar 1991

Dürrenmatts Rede auf Gorbatschow. – Am Tag vor seinem Tod, am 14. Dezember 1990, hat Dürrenmatt seine am 25. November gehaltene Rede auf Gorbatschow überarbeitet. Logik und Ausgang des Kalten Krieges leitet er aus der epochalen Leit-Destruktivkraft, der Atombombe, ab, die »eine Kettenreaktion an Furcht« ausgelöst habe. Die Ideologien nur Rationalisierungen eines »irrationalen Konflikts«, dessen Bewegungsform die Unbeweglichkeit war, in der jede Seite sich lähmend in der andern spiegelte. So kam es, »dass die beiden Gegner, im Versuch, einander zu Tode zu rüsten, das Resultat des Zweiten Weltkrieges umkehrten, die Verlierer des heißen Krieges, Deutschland und Japan, wurden zu Siegern des Kalten, und wenn der deutsche Bundeskanzler den tiefsinnigen Ausspruch tat, Karl Marx sei tot und Ludwig Erhard lebe, so vergaß er, dass die Bundesrepublik nur durch den Kalten Krieg zu dem geworden ist, was sie war und schon nicht mehr ist, weil sie sich dank eines Marxisten mit der deutsch-demokratischen Republik zu einem neuen Deutschland vereinigen konnte.«

Dürrenmatt, der Nichtmarxist, schärft ein, man müsse G als Marxisten ernst nehmen, der den Marxismus zu erneuern versucht. (Einiges an Dürrenmatts Darstellung deutet darauf hin, dass er mein Buch über Gorbatschow kannte.) Er schildert die Demilitarisierung der Systemkonkurrenz und die entsprechende Korrektur der Annahmen über das Verhältnis von Imperialismus und Krieg (verwechselt dabei übrigens den 27. Kongress der KPdSU mit dem siebzehnten). Gorbatschow »ahnte die Wirkung kaum, die er auslöste«, als er am Parteiprogramm entsprechende Änderungen vornahm.

Dürrenmatts Kenntnisse über Marx bzw. Marxismus (Marxismen, muss man ja sagen) sind ebenso begrenzt wie diejenigen über die Spezifik menschlicher Entwicklung im Vergleich mit tierischer Evolution. Er macht da keinen Unterschied. Auch hält er Marx für einen mechanistischen Materialisten, für den die industrielle Revolution »abgeschlossen« gewesen sei und der keinen Begriff von Destruktivkräften und vom möglichen Untergang gehabt habe. Das alles falsch. Aber interessant der Hinweis, dass Vaihinger in seiner Philosophie des Als-Ob sich auf Adam Smith bezogen hat, und zwar auf dessen »abstraktives« Als-Ob, die Individuen handelten alle ausschließlich egoistisch. Dann eine etwas privatphilosophische (kaum vermeidlich beim theoretisierenden Schriftsteller) Herr-Knecht-Dialektik. Axiom: das Herr-Knecht-Verhältnis ist »in der menschlichen Natur begründet«. Darauf kenne die Politik zwei Antworten: »Die realistische besteht darin, das Verhältnis Herr und Knecht gerechter, den Knecht freier und den Herrn unfreier zu gestalten, ohne freilich das Verhältnis Herr und Knecht je aufheben zu können […]; die Freiheit liegt mit der Gerechtigkeit ständig im Kampf, der Kapitalismus mit dem Sozialismus, die Welt kann nur sozialer werden, nie sozialistisch, oder nur kapitalistischer, aber nie kapitalistisch.« Die fiktive Antwort auf das (wie bei Aristoteles als naturgemäß vorgestellte) Verhältnis von Herr und Knecht gebe Marx mit seiner Abstraktion des Klassenkampfs. Abstraktionen sind für D allesamt »abstraktive Fiktionen«. Smith’s Abstraktion des Egoismus gilt D als rational im Unterschied zur marxschen Abstraktion des Klassenkampfs.

Man spürt den Stückeschreiber, der seinen Boden betritt, wo er diese luftigen Gedanken handeln lässt. Denn weil die Arbeiterklasse und ihre Emanzipation Fiktionen und weil Fiktionen nicht handeln, muss sich ein Akteur-in-ihrem-Namen finden, und das ist natürlich die Partei. Sie tritt an die Stelle der Bourgeoisie und stellt so das Herr-Knecht-Verhältnis wieder her, aber als gespenstische Repräsentanz der Knechte. Das setzt auch die Abstraktion von Smith, den Egoismus, wieder ins Spiel, aber ganz unfiktiv, die Klassenfiktion vollends zum blutigen Witz machend, als Machtkampf innerhalb der Partei.

Hübsch die Beobachtung von einer Nebenspaltung der Partei in Planer und Beaufsichtiger: »Die Planer haben die Produktion zu planen, und die Beaufsichtiger einerseits die Proletarier, ob sie die Pläne im Sinne der Planer ausführen, andererseits die Planer zu beaufsichtigen, ob sie parteigemäß planen, was wiederum die Planer zwingt, die Beaufsichtiger zu beaufsichtigen, ob sie im Sinne der Partei oder in ihrem eigenen Sinne beaufsichtigen, ein ganzes System von Beaufsichtigern und Planern, bis hin zum obersten Beaufsichtiger und Planer, der als einziger Herr auf einer Pyramide von Knechten sitzt, wobei jeder Knecht die unter ihm befindlichen Knechte als Knechte empfindet und sich als Herr.«

Es ist immer noch Dürrenmatts dramatisches Muster von der Welt als Irrenhaus (»Die Physiker«), wohinein sich ihm der Stoff wie von selbst füllt. Nicht realistische Züge: Waren es früher noch Klassiker-Interpretationskämpfe, mittels derer Machtkämpfe geführt wurden, so geriet Aufstieg zunehmend zur Treueprämie der jeweils höheren Türhüter, wodurch die gesamte Herr-Knechte-Verkettung zu einer Verkettung des Aufstiegs wurde. Das bekannte Regime der verwalteten Apathie entstand.

Gorbatschow sei als »Arbeitsunfall des Politbüros« an die Spitze gekommen. »Zuerst wunderte er sich« – über die Stagnation. (Die von D hier verwendeten Zitate und die kategorialen Verdichtungen finden sich allesamt in meinem Buch.) Es folgt der Rückgriff auf den späten Lenin, der die Perestrojka zu einer »taktischen Maßnahme, die kommunistische Revolution in der Sowjetunion weiterzuführen«, habe machen sollen, wobei Gorbatschow aber übersehen habe, »dass der Kommunismus mehr ist als eine Ökonomie«. Das entgleist wieder. Hier schließt D sein mechanistisches und ökonomistisches Marx-Bild an. Die nie verstandene, aus Furcht vorm (technisch nicht besiegbaren) Tode motivierte Erfindung der Metaphysik, der Magie, der Religion, der Kunst, in einem Wort: der Kultur. Kant, der den Menschen zum Ärger Goethes für radikal böse gehalten habe, ist Dürrenmatts Held. Die Fiktionen sind notwendig, aber der Einsichtige muss nicht an sie glauben. Marx transponierte die Metaphysik in die Fiktion vom Klassenkampf, blieb ihr jedoch unbewusst immer verhaftet, war kein Revolutionär, das war Lenin. Marxens Theorie sei letztlich Religion. Hier bezieht D einiges ihm Passende von Künzlis unsäglicher Marx-»Psychographie«, etwa über angeblichen jüdischen Selbsthass.

Mein Gott, ist eine solche Weltanschauung bequem! Und wie wohl sie aufgenommen wird von der erfreuten Umwelt der Herrschaftsinteressenten! Sie gibt den Freibrief, der den Zugang ins FAZ-Feuilleton gewährt. Aber unter ihrem Schirm gelangen auch Wahrheiten in die Zeitung, die denselben Interessen sehr unbequem sind: Den bundesdeutschen (parasitären) »Siegesrausch« – »die freie Marktwirtschaft wurde heilig gesprochen, das Wort Sozialismus verteufelt« – konfrontiert D mit dem Blick auf eine soziale Welt, die unserem physikalischen Weltbild gleicht: alles fliegt katastrophisch auseinander. »Wir bauen uns eine technische und ökologische Katastrophenwelt auf. Die Galaxis der Armut droht die unsere des Wohlstands zu durchdringen, die freie Marktwirtschaft beschwört Krisen herauf, Hochkonjunkturen dauern nicht ewig, sie saugen wie ein Schwarzes Loch die Ressourcen der Dritten Welt auf. Alte Nationen fordern wieder neue unabhängige Staaten, anderen droht der Untergang. Nie war der Hunger, das Elend und die Unterdrückung so groß, und schon droht im Golf ein Krieg, bei dem nicht für ein Ideal, sondern für Öl gestorben wird. […] Wir können uns im Chaos verlieren oder in eine höllische Ideologie zusammenstürzen, und die atomaren Waffen sind erfunden. Sie können nicht rückgängig gemacht werden.«

Zurück zu Gorbatschow: Dürrenmatt sieht ihn einzig beim ersten Zug frei, aber das Bedeutende an ihm sei, dass er bei den folgenden Zügen von seinem Plan nicht abwich. Daher Auflösung des Ostblocks, Sturz der kommunistischen Regierungen. Die entprivilegierte KP »gleicht jetzt einer frei schwebenden Pyramide, die in sich zusammenfällt«. Selbstapplikation, paradox: »Die Perestrojka überwindet mit marxistisch-leninistischer Logik die marxistisch-leninistische Ideologie. Diese war eine Arbeitshypothese. Sie hat ihre Arbeit getan und kann fallen gelassen werden.«

All das mündet in eine Apotheose Gorbatschows als eines praktisch gewendeten Kant: »Was wir brauchen, ist die furchtlose Vernunft Michail Gorbatschows. Was sie bewirken wird, wissen wir nicht, er steht der wirtschaftlichen und politischen Krise gegenüber, die er durch die Perestrojka hatte vermeiden wollen. Auch eine Scheinordnung, die zerstört wird, schafft eine Unordnung. Aber eine furchtlose Vernunft ist das einzige, was uns in der Zukunft zur Verfügung stehen wird, diese möglicherweise zu bestehen, uns, nach der Hoffnung Kants, am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen.«

13. Januar 1991 (2)

Truppeneinsatz in Litauen. – »Noch bevor Bagdad in Flammen steht«, wundert (entrüstet?) sich der ZDF-Kommentator. Es soll über zwanzig Tote gegeben haben, der erste ein sowjetischer Soldat mit einem Schuss im Rücken. Eine Parallele zu 1968, als die SU den britischen (?) Krieg gegen Ägypten für den Einmarsch in der ČSFR nutzte. Aber der Unterschied zu beachten: diesmal geht es um den Erhalt der SU selbst, und Gorbatschows Ultimatum, das dem Truppeneinsatz vorausging, verlangte die Wiederherstellung der Verfassungsordnung. Aber was weiß ich, vielleicht handelt es sich um großrussische Tricks, vielleicht spielt die Armee bereits mit. Die Sprecher des Westens, soweit sie heute vom ZDF gezeigt wurden, vermitteln den Eindruck, die Perestrojka sei beendet, eine neue Phase angebrochen. Ins Bild passt Schewardnadses Rücktritt.

Aber seit Tagen liest es sich in der FAZ so: bislang war es im »deutschen« oder auch »westlichen« Interesse, Gorbatschow zu stützen, jetzt steht er im Wege. Dies, weil er sich gegen die Auflösung der SU wendet (wenden muss, auch im Namen des rechtsstaatlichen Universalismus).

Von den überall in der BRD und sonstwo stattfindenden Demonstrationen gegen den Ölkrieg kein Wort im ZDF.

14. Januar 1991

Kommentar eines New Yorker Börsenmaklers zum Öl-Krieg. – »Dies ist der erste moderne Krieg, der nach dem Vorbild der Futures-Märkte geführt wird.« Er will damit sagen, dass morgen der Fälligkeitstermin sein wird.

Litauen. – Der Militäreinsatz anscheinend vorbereitet von langer Hand und nach alten Mustern. Anzeichen: die Ersetzung des Innenministers Bakatin durch Pugo, Schewardnadses Rücktritt, die zeitliche Abstimmung mit dem Vortag des erwarteten Krieges gegen Irak. Jetzt nur mehr von halb so vielen Toten die Rede wie anfangs. Der nach Prunskienes Rücktritt gewählte neue Ministerpräsident über Nacht samt Familie verschwunden … Aber die Armee beherrscht das Feld nicht allein, Verfassungsorgane haben sich eingemischt. Das müsste im Sinne Gorbatschows sein, für den Gewalt nur als Rahmen für einen verfassungsmäßigen Rechtsstaat infrage kommt.

Zu den Preiserhöhungen, die den unmittelbaren Anlass für die Chaotisierung der litauischen Politik gebildet hatten, finde ich in der FAZ die erhellende Bemerkung: »Wer nicht an Devisen gelangt, hat Schwierigkeiten. Deshalb die Proteste in Litauen: Die bis auf das Fünffache angehobenen Preise sind mit einem durchschnittliche Monatslohn, der bei 250 bis 300 Rubel liegt, nicht mehr zu bezahlen, sondern nur mit schwarz getauschter Fremdwährung.«

Die geldzugewandte Seite der Welt. – Gestern ist Lothar Späth zurückgetreten, einer der fähigsten bürgerlichen Politiker. Er hatte sich so viele stattliche Zuwendungen von so vielen Kapitalisten machen lassen, dass es beim besten Willen nicht mehr unter »Persönliches« abgelegt werden konnte. Blendax, Grundig, SEL. Grundig etwa mietete für 500 000 DM eine Concorde für eine Ferienreise Späths nebst sieben Nahestehender in die Karibik. Die Zuwendungen anscheinend immer derart konsumtiv. Ein üppig-feudaler Lebensstil deutet sich an. Die FAZ dezent und spitz zugleich: »Späth konnte sich nicht der Täuschung hingeben, dass er als Person für all die Industriellen und Reichen so anziehend war, dass sie sich seinetwegen in Kosten stürzten.«

15. Januar 1991

Vor-Kriegszeit.

Von Monika Leske, Benno Hirschmann und André Türpe eine Kritik meiner »Fragen zur Frage ›Was ist Philosophie‹«, die mir den Mund verschließt. Geschimpfe, engstirniger Missionarismus, was mir jäh klarmacht, dass die SED nicht nur von oben gebellt hat, sondern dass auch »heilige Überzeugungen« dahintersteckten. Auf »philosophischem« Gebiet taut hier unvermutet ein entwicklungslos eingefrorener Diskurs wieder auf. Ich soll also zum Schimpfen (Verletzen, Heruntermachen) verführt werden und will (wollte?) doch mit diesen Menschen zusammenarbeiten. Warum wollte ich mit ihnen zusammenarbeiten? In der Erwartung, dass es nun möglich würde, objektiv wie subjektiv, die unterlassene Diskussion befreiend nachzuholen, erneuernd in einem gemeinsamen geistigen Universum tätig zu werden. Nun gebärden die andern sich mir gegenüber wie gegen einen Feind, und es stellt sich heraus, wir haben kein gemeinsames Universum.

In der DDR sei »die Philosophie« unterdrückt gewesen; meine Philosophie-Kritik nützlich für ihre Unterdrücker. – Der Mensch: das philosophische Wesen. Philosophie: nach Totalität fragen. – Operative Dialektik nicht als solche erkannt, man begnügt sich mit Dialektik als Gegenstand.

Es lohnt nicht. Die Fehler ergeben kein Profil.

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