Buch lesen: «Alltagsrassismus», Seite 3

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Integration statt Ausgrenzung

Deutschland ist de facto seit 1945 ein Einwanderungsland, das als Territorium unter alliierter Besatzung in den vier Zonen, die von den USA, Großbritannien, der Sowjetunion und Frankreich regiert und verwaltet wurden, etwa zwölf Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten aufnehmen musste. Auf Beschluss der Alliierten mussten die unfreiwilligen Zuwanderer aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern sowie anderen ehemals deutschen Gebieten östlich der Oder und Neiße, aus der Tschechoslowakei, Ungarn und weiteren Territorien, in denen ihre Vorfahren als „Volksdeutsche“ seit Jahrhunderten gelebt hatten, in die deutsche Nachkriegsgesellschaft eingegliedert werden. Dieser Integrationsprozess gelang trotz erheblicher kulturell und emotional bedingter Reibungen zwischen Eingesessenen und Ankommenden in erstaunlich kurzer Zeit innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren. Die ankommenden Flüchtlinge und Heimatvertriebene galten nicht als Immigranten. Sie waren zwar Deutsche, wurden aber als unerwünschte Fremde wahrgenommen. Druck der Besatzungsmächte, nicht Solidarität mit den Opfern des Hitlerkrieges, war der Motor der Integration.

Die Teilung Deutschlands ab 1949 führte dann zu einem Flüchtlingsstrom aus der DDR, der bis zum Bau der Mauer 1961 auf 4,3 Millionen anstieg und erhebliche Integrationsleistungen der Bundesrepublik erforderte. DDR-Flüchtlinge erhielten sofort die BRD-Staatsbürgerschaft, waren auf dem Arbeitsmarkt willkommen und genossen soziale Eingliederungshilfen. Mit der Anwerbung von „Gastarbeitern“ wurde seit Ende der 1950er Jahre dem Arbeitskräftemangel entgegengesteuert, nach Italienern, Spaniern, Portugiesen, Griechen kamen als letzte große Gruppe Türken. Die Annahme, Gastarbeiter würden wie anfangs die Italiener nur auf Zeit und ohne Familien nach Deutschland kommen und dann in die Heimat zurückkehren, erwies sich als irrig. Aus der befristeten Arbeitsmigration wurde Zuwanderung auf Dauer, insbesondere Türken bildeten eine neue Kategorie von Bürgern der Bundesrepublik. Die DDR vermied durch Ghettoisierung und Befristung des Aufenthalts der „Vertragsarbeiter“ aus Vietnam, Mozambique oder Angola, dass aus dem Arbeitsmarktproblem ein Einwanderungsprojekt entstand. Die wirtschaftliche Rezession in der Bundesrepublik wurde 1973 mit einem Anwerbestopp für Gastarbeiter und Rückkehrprämien beantwortet.

Zuwanderer in der Größenordnung von ca. zwei Millionen Menschen waren die Russlanddeutschen, die seit den 1990er Jahren als „Spätaussiedler“ aus der Sowjetunion aufgrund ihrer Abstammung in der Bundesrepublik Aufnahme fanden, ebenso wie Juden aus der Sowjetunion aufgrund eines der letzten Gesetze der Volkskammer der DDR, die 1990 als Geste der Wiedergutmachung eingeladen waren, nach Deutschland zu kommen. Jüdische Kontingentflüchtlinge wanderten daraufhin von 1991 bis 2004 in das vereinigte Deutschland ein.

Als politisches Asyl war die Bundesrepublik aufgrund des großzügigen Verfassungsartikels und der ökonomischen Perspektiven so attraktiv, dass Möglichkeiten des Zugangs auf Betreiben konservativer Politiker durch Grundgesetz-Änderungen sukzessive erschwert wurden. Der Slogan „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ sorgte für Wählerstimmen, das Fehlen eines Einwanderungsgesetzes und mangelnde Anstrengungen zur Eingliederung von Migranten in die deutsche Gesellschaft erwiesen sich gegenüber türkischen Arbeitsmigranten in den 1980er Jahren ebenso wie gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen aus Jugoslawien in den 1990er Jahren als folgenreich: Bei vielen Deutschtürken ist das Bewusstsein gespalten in Zugehörigkeitsgefühle einerseits und Empfindungen der Unerwünschtheit andererseits. Mangelnder Bildungserfolg bei Jugendlichen bedeutet vielfach deren soziale und ökonomische Perspektivlosigkeit. Humanitäre Hilfe für bosnische Bürgerkriegsopfer mündete, nach Jahren des Aufenthalts oft in Abschiebung in eine „Heimat“, in der die Flüchtlinge fremd und unerwünscht waren, in der aber kein Krieg mehr herrschte. Die juristische Begründung der Verweigerung weiteren Aufenthalts in Deutschland war unanfechtbar, bedeutete aber für die inzwischen heranwachsende zweite Generation mit Deutsch als Muttersprache, entsprechender Sozialisation und keinerlei Bindung an die Herkunftsnation der Eltern eine Katastrophe. Die ganze Zwiespältigkeit politischen Handelns wurde im Schicksal Jugendlicher deutlich, die aus der Schule heraus in ihre „Heimat“ deportiert wurden. Viele sahen in der illegalen Rückkehr nach Deutschland den einzigen Ausweg, machten sich dadurch aber strafbar und nährten das politische Ressentiment der „Ausländerkriminalität“.

In dieser Situation, in der politische Konzepte und Perspektiven angesichts tatsächlicher Einwanderung fehlten, Parolen wie „das Boot ist voll“ oder der traditionelle rechte Schlachtruf, Deutschland sei kein Einwanderungsland, die Angst vieler Bürger vor „Überfremdung“ angesichts tatsächlicher sozialer Probleme, vor allem aber Gefühle der Unsicherheit steigerten, und verbreitetes – von Demagogen geschürtes – Unbehagen nach dem Terroranschlag des 11. September 2011 in den USA herrschte, das von interessierter Seite als bedrohliches Szenario beschworen wurde, ergab sich 2014 die humanitäre Notwendigkeit, einer Million Menschen, vor allem Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien, die deutschen Grenzen zu öffnen. Das Vertrauen der deutschen Kanzlerin auf die solidarische Mitwirkung der europäischen Nationen bei der Lösung des Problems – das die über das Mittelmeer drängenden Flüchtlinge aus Afrika steigerten – wurde getäuscht. Die Notwendigkeit der Integration der Immigranten wurde umso dramatischer deutlich, als gleichzeitig reaktionäre Kräfte mit der ausländerfeindlichen Bewegung „Alternative für Deutschland“ sensationell erfolgreich waren.

Die Autoritarismus-Studie von Sozialwissenschaftlern der Universität Leipzig aus dem Jahr 2018 macht die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft auf Zuwanderer deutlich: 35 % der Deutschen glauben, es sei das Motiv der Immigranten, den Sozialstaat auszunützen. Etwa gleich viele lehnen diese These ab, 30 % haben keine eindeutige Meinung zum Problem. Daraus folgt, dass zwei Ansätze zur Lösung erforderlich sind: Der eine muss auf die Aufklärung der einheimischen Bevölkerung zielen, über Motive der Zuwanderer und die rechtlichen, politischen und sozialen Strukturen informieren, innerhalb derer Einwanderung in Deutschland möglich ist. Der andere Ansatz verfolgt die Integration der Ankommenden (sofern die Voraussetzungen für ihren dauernden Aufenthalt gegeben sind).

Integration bedeutet generell die Eingliederung von Zuwanderern in die Gesellschaft des Aufnahmelandes, d.h. Spracherwerb, Akzeptanz der Kultur, soziale und politische Partizipation, Teilhabe am Bildungssystem und Zugang zum Arbeitsmarkt. Sozialwissenschaftler unterscheiden vier Dimensionen der Integration: erstens die Kulturation im Sinne von Sprach- und Wissenserwerb, zweitens die Platzierung in der Aufnahmegesellschaft im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt, drittens die Interaktion, d.h. die Teilnahme am sozialen Leben im Alltag und viertens die Identifikation als Gefühl der Zugehörigkeit als Individuum zur Aufnahmegesellschaft.

Ziel und Erfolg der Integration einer Person besteht darin, dass diese nicht nur handlungsfähig und teilhabeberechtigt ist, sondern sich auch als anerkannt und wertgeschätzt fühlt. Integration als Akkulturationsstrategie besteht im Erfolg der Anstrengung beider Seiten, der aufnehmenden Gesellschaft ebenso wie des Strebens nach Zugehörigkeit der Ankommenden. Integration ist nicht zu verwechseln mit Assimilation, d.h. vollkommener Preisgabe eigener kultureller Werte. Zur Integration gehört einerseits die Wertschätzung der Herkunftskultur durch die Aufnahmegesellschaft, andererseits jedoch die Anerkennung deren Werte und Normen durch Zuwanderer wie Gleichberechtigung der Geschlechter, unbedingter Vorrang der Verfassung und der Gesetze vor religiösen, sozialen, kulturellen Praktiken der individuellen oder familiären Sozialisation.

II. Historische Dimensionen des Rassismus
Das Erbe des Kolonialismus

Die historische Herrschafts- und Wirtschaftsform des Kolonialismus, die mit der Entdeckung und Eroberung des Kontinents Amerika durch Spanien und Portugal zu Beginn der Neuzeit entstand und im 19. Jahrhundert als imperialistische Ausbeutung Afrikas und Asiens durch die europäischen Staaten Großbritannien und Frankreich, Belgien, Niederlande, Italien und zuletzt Deutschland den Höhepunkt erreichte, war zutiefst von der Ideologie des Rassismus geprägt. Kolonialismus gründete sich auf das Bewusstsein der „rassischen“ Überlegenheit der Europäer als „Weiße“. Sie fühlten sich als Herrenmenschen, die das Recht beanspruchten, Menschen angeblich minderen Wertes zu beherrschen, ihrer Ressourcen zu berauben und bei Verstößen gegen die auferlegten Regeln und Strukturen nach Belieben zu bestrafen. Gerechtfertigt und dargestellt wurde die koloniale politische Praxis als Mission der Zivilisierung und der Kulturvermittlung. Der angebliche Zivilisierungsauftrag schloss körperliche Gewalt („väterliche Züchtigung“ bei Vergehen gegen die von der Kolonialherrschaft verfügte Ordnung) und Brechung von Widerstand bis zum Völkermord (an den Hereros in Südwestafrika 1904, im Maji-Maji-Aufstand in Ostafrika 1905/06) ein, um nur zwei Beispiele aus der deutschen Kolonialgeschichte zu nennen.

Die Ideale der Aufklärung, Freiheit und Gleichheit aller Menschen, verwirklicht in der Französischen Revolution und im Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten von Amerika, galten für Europäer bzw. Weiße europäischer Abstammung, nicht für die aus Afrika verschleppten Sklaven auf den Plantagen der Gründungsväter der USA, nicht für die autochthone Bevölkerung in den Kolonien der europäischen Nationalstaaten in Afrika, Asien oder Lateinamerika. Diesen war die demütige Hinnahme der Dominanz europäischer Händler, Missionare und Kolonialbeamten als gottgewolltes Schicksal zugedacht. Die Zerstörung indigener, politischer und sozialer Strukturen, von eigener Tradition und Kultur galt als Voraussetzung eines notwendigen Kulturtransfers. Die Ausbeutung der Ressourcen der „unterentwickelten“ Regionen der Erde wurde als gerechtfertigt durch die überlegenere weiße „Rasse“ verstanden und die Kolonialisierung als Hilfe zur Entwicklung stilisiert. „Rasse“ wurde von den europäischen Eroberern durch körperliche Merkmale definiert und durch anthropologische Vermessung, durch Körperabformungen, durch Bestimmung der Augenfarbe usw. „wissenschaftlich“ fixiert. Das diente der Legitimierung der Herrschaftspraxis. Der Völkerkunde und dem Kolonialgedanken gewidmete Museen bewiesen mit ihren Exponaten die „rassische“ und kulturelle Unterlegenheit der „Wilden“. Um 1900 erfreuten sich „Völkerschauen“, wie sie der Hamburger Zoodirektor Hagenbeck präsentierte (und seinem Vorbild folgten andere Unternehmer) großer Beliebtheit. Menschen wurden in ihrer exotischen Andersartigkeit zur Schau gestellt, um die Überlegenheitsgefühle der europäischen Betrachter zu bestätigen.

Carl Peters und Adolf Lüderitz, die deutschen Kaufleute, die als Vortrupp der Kolonisation in Afrika mit Eingeborenen Handel trieben und ihnen zu dubiosen Bedingungen Land abkauften, das später als deutsches Staatsgebiet deklariert wurde, werden immer noch als Entdecker und Pioniere gefeiert, weil sie den Anfang des deutschen Kolonialismus in Afrika verkörpern. Die Verbrechen an den Völkern der Herero und Nama in Südwestafrika sind ungesühnt. Für die Landnahme gab es keine Entschädigung. Ein Bewusstsein für das Unrecht und seine Folgen steht, einhundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft, erst in den Anfängen.

Als Postkolonialismus wird das Fortwirken der ökonomischen und politischen Dominanz der ehemaligen Kolonialherrschaften bezeichnet. Die Debatte über Restitutionsleistungen und den Umgang mit der jeweiligen Kolonialgeschichte kam erst lange nach dem formalen Ende der Abhängigkeit und den afrikanischen Staatsgründungen seit den 1960er Jahren in Gang. Auf der politischen Agenda stehen drei Komplexe aus dem Erbe des Kolonialismus. Erstens die offizielle Bitte der deutschen Regierung an die Adresse der Regierung Namibias um Vergebung für den Völkermord an den Herero und Nama. Zweitens der Umgang mit Kunstschätzen und anderen Kulturzeugnissen, die zur Kolonialzeit geraubt und in die Museen Europas verschleppt wurden. Drittens die Entwicklung von solidarischen Umgangsformen und daraus resultierenden seriösen Antworten auf die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme des Kontinents Afrika: Armut und Fluchtbewegungen, zu der die Ausbeutung zur Kolonialzeit den Grund gelegt hat. In Sachen Entschuldigung für den Völkermord – d.h. Anerkennung kolonialer Verbrechen – taktiert die Bundesregierung seit Jahr und Tag. Spät bat im Sommer 2018 der Berliner Justizsenator für die genozidalen Grausamkeiten deutscher Truppen in den Jahren 1904 – 1908 in „Deutsch-Südwestafrika“ Vertreter aus Namibia um Vergebung. Ein Jahr zuvor hatte das schon der Hamburger Kultursenator getan, ihnen folgte die Staatsministerin im Auswärtigen Amt Michelle Müntefering. Es waren stets Gelegenheitsanlässe, nicht die große Zeremonie. Die Bundesregierung verhandelt seit Jahren hinter verschlossenen Türen, auf Wunsch der namibischen Regierung ohne die wichtigsten Opferverbände. Dafür gibt es einen Afrikabeauftragten der Bundesregierung. Dieser, ein prominenter Bürgerrechtler der DDR, zog im Herbst 2018 Kritik auf sich, als er in einem Zeitungsinterview Ahnungslosigkeit angesichts des kolonialen Erbes erkennen ließ und sich Parolen der einstigen Kolonialpropaganda („Zivilisationsmission“) zu eigen machte. Ansätze zur entschiedenen politischen Reaktion auf die historischen Folgen des kolonialen Rassismus, die den Regierungen und Gesellschaften Afrikas wirksame Hilfe leisten würde, sind noch nicht zu erkennen.

Über den Umgang mit Kulturgut kolonialer Herkunft ist eine Debatte in Gang gekommen, die durch die Neueröffnung des Afrika-Museums im belgischen Tervuren, einem Ort an der Peripherie Brüssels, einen wichtigen Impuls empfing. Das Museum wurde 1898 von König Leopold gestiftet als Werbemaßnahme zur Kolonisierung des Kongos, der Privatbesitz des Königs war. Durch die Renovierung sollte das Museum ein Ort der Auseinandersetzung über den Kolonialismus werden. Das ist jedoch kaum in Ansätzen gelungen. Nicht nur der Denkmalschutz des Gebäudes ist daran schuld, dass die koloniale Sichtweise nicht recht überwunden wurde. Mit der belgischen Retrospektive korrespondiert das Zögern deutscher Kultureinrichtungen hinsichtlich der Rückgabe des Kunstraubes. Zwar gibt es seit kurzem den Entwurf eines offiziösen „Leitfadens des Deutschen Museumsbundes“, wie mit kolonialen Sammlungen in deutschen Museen zu verfahren sei. Aber für das Humboldt-Forum im rekonstruierten Berliner Schloss gab es kurz vor der Eröffnung noch keine Anzeichen für ein Umdenken. Das riesige aus Afrika stammende Dinosaurierskelett im Berliner Naturkundemuseum ist eine weltweite Attraktion. Aber wem gehört sie wirklich? Wie geht man mit Ritualobjekten um, die in europäischen Museen profaniert und ausgestellt sind?

Besonders sensibel sind menschliche Überreste, die aus Kolonialraub stammen. In feierlichem Ritual der Diplomatie wurden 2011 einige Schädel an die Regierung von Namibia zurückgegeben. Sie waren zu rassistischen Forschungen vor einem Jahrhundert aus Südwestafrika nach Deutschland gebracht worden. NGO-Vertreter hatten den Akt der Rückgabe durch die Forderung nach einer Entschuldigung für die Kolonialverbrechen gestört. Damit sich das nicht wiederholen sollte wurden im Sommer 2018 Aktivisten gar nicht eingeladen, als im französischen Dom in Berlin menschliche Überreste (Schädel, Knochen, Hautstücke), einer Delegation aus Namibia zurückgegeben wurden. Mit dem Rückzug auf interne Provenienzforschung schotten sich deutsche Museumsleute gegen Rückgabeforderungen ab und spielen auf Zeit, verweigern Transparenz und Konsequenz der Erwerbungsgeschichte ihrer Kunstwerke aus Übersee. Frankreichs Präsident Macron beauftragte dagegen zwei Experten, die Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und den Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr mit einem Gutachten über den Umgang mit geraubter Kunst aus den Kolonien. Sie kamen ohne Umschweif zum Schluss, Raubkunst müsse restituiert werden und zwar vollständig. Der Präsident begann unverzüglich mit der Umsetzung der Empfehlung.

Der deutsche Kolonialismus endete nicht im Ersten Weltkrieg. Das Problem hatte eine weitere Dimension: Dem Verlust der spät erworbenen Kolonien Deutsch-Südwest- und DeutschOstafrika (heute Namibia bzw. Tansania, Ruanda, Burundi, Kionga-Dreieck in Mosambik), Kamerun und Togo sowie dem Besitz in der Südsee trauerten nach dem Ersten Weltkrieg der „Reichskolonialbund“ und die NSDAP nach. Sie pochten unter der Parole „Volk ohne Raum“ auf einen vermeintlichen deutschen Anspruch zur Expansion, der ersatzweise für die verlorenen Gebiete in Übersee in Osteuropa befriedigt werden sollte. Das geschah im Zweiten Weltkrieg, der gegen die Bevölkerung slawischer „Rasse“ in Polen, in der Ukraine, in Russland und Weißrussland als Ausrottungskrieg geführt wurde.

Die Rassenlehre des Nationalsozialismus

Im Wörterbuch der Nationalsozialisten gehörte der Begriff „Rasse“ zu den wichtigsten Vokabeln. An den Schulen und Universitäten wurde „Rassenkunde“ als Fach gelehrt und der Kernsatz dieser Lehre lautete, dass die Menschheit in ethnische Gruppen von verschiedenem Wert einzuteilen sei. Ganz oben in der Werteskala stand die „nordische Rasse“ der Germanen, und zwar am schönsten und edelsten verkörpert im deutschen Herrenmenschen. Ganz unten standen die Juden, sie waren in der NS-Ideologie als „Untermenschen“ diffamiert und verachtet.

Als Klassiker verehrten die Rassenideologen den französischen Diplomaten und Schriftsteller Arthur Graf Gobineaù (1816 – 1882), der ein vierbändiges Werk über die Ungleichheit der menschlichen Rassen publiziert hatte. Prophet des damit begründeten Rassismus war dann der Kulturphilosoph Houston Stewart Chamberlain (1855 – 1927), der als Schwiegersohn Richard Wagners im Dunstkreis Bayreuths lebte und schrieb. Er hatte 1899 sein Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ veröffentlicht. Darin wurde die Rassenideologie der zu höherem als andere berufenen „Arier“ weiterentwickelt.

Gobineaù und Chamberlain waren als Dilettanten und Denker Außenseiter (wie später der Buchautor Thilo Sarrazin), aber ihre Ideen blieben nicht ohne Wirkung. Unter ihrem Einfluß stand auch Adolf Hitler, der das Rassedenken zur Heilslehre machte und das „Recht des Stärkeren“ im Umgang mit vermeintlich minderen „Rassen“ predigte. Die allgemeine Verbreitung des Rassenwahns als politischer Kult, wie er im nationalsozialistischen Deutschland mit entsetzlichen Konsequenzen gepflegt wurde, war aber nicht ohne weiteres möglich. Die schwer lesbaren Wälzer Gobineaùs und Chamberlains waren zwar im Bildungsbürgertum geschätzt, aber nicht für jedermann verständlich. Es gab jedoch ein handliches Büchlein, das mit wissenschaftlichem Anspruch auftrat und in leicht fasslicher Form einen Überblick bot. Im November 1936 meldete der Verleger Lehmann stolz das Erscheinen des 150.000. Exemplars der kleinen Schrift. Sie war seit 1928 in immer neuen Auflagen auf dem Markt. „Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes“ lautete der Titel. Als Verfasser zeichnete ein Professor Dr. Hans F. K. Günther. Er hatte 1922 eine „Rassenkunde des deutschen Volkes“ veröffentlicht, die ebenfalls bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches ein Bestseller war und ihrem Verfasser zu Ansehen und Erfolg verholfen hatte.

Das Buch verstand sich als eine Art Wegweiser, in dem die Merkmale und Eigenschaften der europäischen Menschenrassen aufgeführt waren, aber nicht zum Selbstzweck, sondern mit engagiertem Bekenntnis zum „Nordischen Gedanken“ und mit deutlichen Vorschlägen zur Nutzanwendung. Reich bebildert sind die Unterschiede der nordischen, der westischen, der dinarischen, der ostischen, der ostbaltischen, der fälischen und der sudetischen Rasse beschrieben. Der Aufzählung körperlicher Unterscheidungsmerkmale – „breit- und hochgewachsen, wuchtig“ die einen, „hochbeinig, derb-schlank“ die anderen – folgt die Beschreibung der seelischen Eigenschaften. Viele Passagen lesen sich heute wie Erzeugnisse unfreiwilligen Humors, etwa die folgende Charakterisierung der Ostbalten: Sie „neigen zum Massengeist und Geführtwerden und werden dadurch bei angemessener Führung, zumal ihnen zumeist ein lebhafter Vaterlandssinn eignet, zu willigen Untertanen, deren Anhänglichkeit an sie leitende Menschen sich bis zur Unterwürfigkeit steigern kann. Nahestehenden gegenüber sind ostbaltische Menschen meist hilfreich und gastfrei, oft überschwenglich entgegenkommend, zu ihren Angehörigen zärtlich. Fernerstehenden gegenüber neigen viele ostbaltische Menschen zur Verschlagenheit und bei Anlässen dazu auch zu berechnender Rachsucht. Eine Neigung zu Rohheit und Hinterlist ist unverkennbar, sie bedingt es wahrscheinlich, daß Ostpreußen, Posen und Schlesien „kriminell stark belastet“ erscheinen, vor allem durch gefährliche Körperverletzung und einfachen und schweren Diebstahl.“ Oder: „Der fälische Mensch ist im Seelischen ebenso wuchtig schwer geartet wie im Leiblichen: wuchtiges Standhalten, unerschütterliche Ausführung ruhig gefaßter Entschlüsse, Drang zu Gewissenhaftigkeit und Rechtschaffenheit, ja ein gewisses Bedürfnis, sich treu zu erweisen, kennzeichnen ihn. Erscheint der nordische Mensch als vordringend, von kühner, angreifender Willenskraft, so der fälische als beharrend von trotziger Willenskraft, die ihn zu stoßkräftiger Abwehr befähigt, aber auch zu Starrköpfigkeit werden kann.“ Wie im Horoskop waren die Eigenarten von Menschen nach „Rassen“ unterschieden als Mischung von gut und böse dargestellt.

Ideologen und Politiker setzten die wissenschaftlich klingenden Erkenntnisse in die Praxis von Diskriminierung und Verfolgung um. Die Gesetze zur „Rassenhygiene“ bildeten den Anfang, unter Begriffen wie Aufartung, Auslese, Ausmerze, Rassereinheit und Rassenschande wurde der Rassengedanke als Weg nach Auschwitz, zum Völkermord praktiziert. „Rasse“ war der wichtigste Begriff der NS-Ideologie. Davon abgeleitet spielten mit positiver Bedeutung „Rassenkunde“, „Rassenpflege“, „Rassenhygiene, „Rassereinheit“ eine erhebliche Rolle. Negativ besetzt waren „Rasseverrat“ und „Rassenschande“. Zur sozialen Praxis gehörten die Begriffe, mit denen die Anwendung der „Rassenhygiene“ umschrieben wurden: Auslese und Ausmerze.

Mit der Idee der Rassenreinheit wurde die Eugenik begründet, die in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg unter der Bezeichnung „Rassenhygiene“ propagiert wurde. Protagonisten waren der Mediziner Wilhelm Schallmayer (1857 – 1919), der mit seinem Buch „Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker“ 1903 der nationalsozialistischen Rassenhygiene das Programm vorgab, und Alfred Ploetz (1860 – 1940), ebenfalls ein führender Vertreter des Sozialdarwinismus. Er gründete die „Gesellschaft für Rassenhygiene“ (1905) und wurde 1936 von Hitler zum Professor ernannt. Das war der Lohn für den akademischen Außenseiter, der sich ganz dem germanischen Rassegedanken verschrieben hatte.

Die jüngeren Vertreter der Rassenlehre, Fritz Lenz (1887 – 1976), der 1923 in München den ersten Lehrstuhl für „Menschliche Erblehre“ (Rassenhygiene) in Deutschland erhielt, und der Psychiater Ernst Rüdin(1874 – 1952), Abteilungsleiter eines Kaiser-Wilhelm-Instituts und vielfacher Funktionär und Experte in Diensten des NS-Staats, entwickelten das Fach weiter zum Instrument nationalsozialistischer Ideologie. Fritz Lenz erfuhr aus seiner Nähe zum NS-Regime auch nach 1945 kein Nachteil, er wirkte 1946 bis 1955 als Professor für Humangenetik in Göttingen.

Als positive Maßnahme der Eugenik sollten durch „Auslese“ erwünschte Volksteile gefördert, d.h. zur Ehe und zum Kinderreichtum stimuliert werden. Der Auslese stand ein negativer Maßnahmenkatalog gegenüber, der Unerwünschte (nach „rassischen“ und sozialen Kriterien oder aus beiden Gründen) durch Sterilisation und Heiratsverbot bis hin zur wörtlich verstandenen „Ausmerze“ an der Fortpflanzung hindern oder sie physisch beseitigen sollte.

Als Kampfbegriff der äußersten Rechten bezeichnete „Rassenschande“ auch schon vor dem NS-Regime in eindeutig herabsetzender Absicht sexuelle Kontakte zwischen Angehörigen verschiedener „Rassen“. Insbesondere die Denunziation von Juden als „Rassenschänder“ war als antisemitisches Ressentiment verbreitet. Mit dem Begriff „Rassenschande“ wurden im selbstbewussten Stolz, einer überlegenen, der weißen „Rasse“ anzugehören, sexuelle Kontakte mit Angehörigen anderer „Rassen“ umgangssprachlich gebrandmarkt. Als rabiater Vertreter des völkischen Antisemitismus publizierte Artur Dinter (1876 – 1948) 1917 den Erfolgsroman „Die Sünde wider das Blut“, in dem er die Folgen von Verstößen gegen die „Rassereinheit“ anprangerte. Die „Rheinlandbastarde“ – Kinder deutscher Frauen und Angehöriger französischer Kolonialtruppen aus Afrika bei der Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg – galten als verachtenswerte Resultate der Rassenschande. Zum kriminellen Delikt wurde Rassenschande mit dem „Blutschutzgesetz“ 1935, einem der nationalsozialistischen Nürnberger Gesetze, dessen § 2 „Mischehen“ und jeden Geschlechtsverkehr zwischen „Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ unter Strafe stellte. Der neue Straftatbestand entsprach einer Forderung des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ und wurde von der NS-Justiz exzessiv ausgelegt und angewendet. Eine Anzeige wegen Rassenschande vernichtete mit Sicherheit die Existenz des beschuldigten Juden. Dass beteiligte Frauen wegen des Deliktes nicht verurteilt werden durften umgingen Justiz und Gestapo durch Einweisung ins KZ (wozu es keiner Begründung bedurfte) oder durch eine Strafe wegen angeblichen Meineides oder Begünstigung.

Dem Professor Günther, der 1929 auch eine „Rassenkunde des jüdischen Volkes“ veröffentlicht hatte, wurde später, nach dem Zusammenbruch des NS-Staats, gerichtlich bescheinigt, er habe niemals antisemitische Hetze betrieben, er habe niemals die Grenze von Wissenschaft und Gelehrsamkeit überschritten. Nach eigenem Bekunden war er auch nie Mitglied der NSDAP gewesen. Die Partei hatte sich ihm gegenüber trotzdem sehr erkenntlich gezeigt für die Popularisierung und Propagierung der Rasseforschung. Schon 1930 ernannte ihn der nationalsozialistische thüringische Minister Frick zum Professor an der Universität Jena. Seriöse Wissenschaftler betrachteten das als Skandal. 1935 erhielt Günther beim Nürnberger Reichsparteitag den von Hitler gestifteten Preis der NSDAP für Wissenschaft. In der Begründung hieß es: „Das Ringen der NSDAP hat sich von ihrem ersten Tage an aus den Erkenntnissen der Rassenkunde und des Schutzes des gesunden deutschen Blutes aufgebaut. In diesem Kampf hat der Forscher Dr. Hans Günther Entscheidendes für die Gestaltung dieser Rassenkunde und der Ausbildung des heldigen Gedankens unserer Zeitepoche beigetragen. In seinen vielen Schriften und vor allen Dingen in seiner ,Rassenkunde des deutschen Volkes‘ hat er geistige Grundlagen gelegt für das Ringen unserer Bewegung und für die Gesetzgebung des nationalsozialistischen Reiches.“

So wenig originell und so wissenschaftlich wertlos die Publikationen des akademischen Amateurs Günther waren, so haben sie mit ihren hohen Auflagen tatsächlich die geistigen Grundlagen gelegt für den Kern der nationalsozialistischen Politik. Nämlich für den rassistischen Vernichtungskrieg gegen angeblich Minderwertige.

Den ersten Schritt dazu bildete der Krankenmord. Die Tötung unheilbar Kranker wurde als Erlösung und als Gebot der „Erbgesundheit“ im „Dritten Reich“ öffentlich thematisiert und in Filmen wie „Das Erbe“ (1935) oder „Ich klage an“ (1941) und in Schulbüchern mit Rechenexempeln über unnütze Esser propagiert. Die seit 1933 praktizierte sozialdarwinistische Bevölkerungspolitik gegen Behinderte, die als „Ballastexistenzen“, „Defektmenschen“, „leere Menschenhülsen“ diskriminiert waren, wurde nach der Besetzung Polens erstmals gegen arbeitsunfähige Insassen polnischer Pflegeanstalten praktiziert. Ein mobiles „Sonderkommando“ tötete mit Kohlenmonoxyd aus Stahlflaschen. In Posen wurden Geisteskranke in einer Gaskammer ermordet. Eine SS-Einheit erschoss in einem polnischen Waldgebiet Kranke aus Pommern und Westpreußen.

Im Gebiet des Deutschen Reiches begann die Mordaktion mit der euphemistischen Tarnbezeichnung „Euthanasie“ (griechisch: „Schöner Tod“) Ende Oktober 1939 unter größter Geheimhaltung. Formale Grundlage bildete erst eine mündliche Ermächtigung Hitlers, die dann, auf einem Briefbogen der Privatkanzlei des „Führers“ schriftlich fixiert, auf den 1. September 1939, den Kriegsbeginn, zurückdatiert war. Karl Brandt, Hitlers Leibarzt, und Philipp Bouhler, der Chef der „Kanzlei des Führers“, waren von Hitler „ermächtigt“, unheilbar Kranken bei „kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes den Gnadentod“ zu gewähren. Meldepflicht für missgestaltete Neugeborene bestand ab August 1939, Meldebögen und ärztliche Gutachter sorgten für ein geregeltes Verfahren des nun einsetzenden Massenmords, der in den Heil- und Pflegeanstalten Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein betrieben wurde. Unter der Tarnbezeichnung „Aktion T 4“ war eine nahezu perfekt arbeitende Organisation tätig, die in einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4 ihre Zentrale hatte.

Eigene Standesämter beurkundeten den Tod, die Leichen wurden sofort eingeäschert. Erkennbar falsche Angaben der Todesursache weckten bei der Benachrichtigung jedoch oft das Misstrauen der Angehörigen und der ständige Betrieb der Krematorien in den Euthanasie-Anstalten erregte die Aufmerksamkeit der Umgebung.

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