Ein Anti-Heimat-Roman

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Ein Anti-Heimat-Roman
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Ein Anti-Heimat-Roman
Bildungseisen durch
ein unbekanntes Land
1943 – 2012

Von Willi Bredemeier

Für G.

Inhalt

1. Kapitel 1626 - 1943 Erinnerungen eines Mammakindes

2. Kapitel 1943 - 2013 1000 tote Geschichten von der Liebe zum Land

3. Kapitel 1945 - 1950 Ein paralleles Universum aus Worten, Bildern und Geschichten

4. Kapitel 1957 und vorher Nazis und Juden (1)

5. Kapitel 1953 - 1955 Das proletarische Ruhrgebiet vor dem Untergang

6. Kapitel 1954 - 1958 Der Untergang des proletarischen Ruhrgebiets

7. Kapitel 1955 - 1958 Die Versicherungswirtschaft im Ruhrgebiet: Die umfassende Unterforderung

8. Kapitel 1955 - 1958 Die Versicherungswirtschaft im Dreifrontenkrieg gegen Innendienst, Außendienst und Versicherungsnehmern

9. Kapitel 1958 Am Abgrund

10. Kapitel 1958 - 1965 Die letzte Zuflucht

11. Kapitel 1965 - 1966 Schere im Kopf, Langeweile im Nacken

12. Kapitel 1968 - 1982 Die Verdreifachung des Lebens: Revolution, Planstelle, Wissenschaftskonsumption

13 .. Kapitel 1971 - 1980 Politikberichterstattung und Ruhrgebietsentwicklung

14 . Kapitel 1998 und früher Nazis und Juden (2)

15. Kapitel 2010 - 2012 Alle diese Geschichten

1. Kapitel
1626 - 1943
Erinnerungen eines Mammakindes

Als Kind habe ich meine Mamma gesucht und nicht wieder gefunden. Als Erwachsener suchte ich weiter, obgleich ich wusste, ich würde erfolglos sein. Das ist in zwei Sätzen meine Geschichte.

Drumherum lassen sich Fragen stellen: Warum sehe ich die Dinge in meinem Umfeld anders als die anderen Leute? Bin ich wie verrückt traumatisiert? Oder bin ich als einziger in der Lage zu erkennen, wie die Verhältnisse sind? Offenbarte ich mich, wie ich mich gelegentlich überschätze, schriebe man mir eine besonders schwerwiegende Variante des Wahnsinns zu.

Ich kann meine Geschichte auch in mehr Sätzen erzählen. Dann begänne ich damit, dass ich ein doppeltes Mammakind bin. Einfache Mammakinder sind Kinder, die sich an die perfekte Symbiose mit ihrer Mutter im Mutterleib erinnern. Wir nennen diese Symbiose das Urparadies. Unsere Vorstellungen von der umfassenden harmonischen Gemeinschaft und vom Sozialismus, der mit eherner Notwendigkeit kommen wird, stammen aus dieser Zeit. Während der Studentenrevolte debattierten wir in verräucherten Nächten, wie die perfekte Gesellschaft mit uns zu konstruieren sei. Tatsächlich meinten wir immer nur die umfassende Einheit mit unseren Müttern.

Als wir uns im Mutterleib befanden, waren wir glücklich. Wir gaben das empfangene Glück an unsere Mütter zurück. Wir kommunizierten höchst differenziert auf vegetativer Ebene. Das fürchterlichste aller Erlebnisse ist die Geburt. Die Trennung von der Mutter zerreißt allen Mitgliedern der menschlichen Spezies das Herz. Wie können wir glücklich sein, da wir solches erlebt haben?

Ein doppeltes Mammakind ist ein Kind, das seine Mamma zweimal verliert. Wie das geschehen ist, daran erinnert es sich allenfalls in Fragmenten. Oder es bildet sie sich ein, weil es sich ohne Erinnerungen mit möglichst plastischen Bildern schwer aushalten lässt.

Ein doppeltes Mammakind ist nicht damit einverstanden, dass es seine Mamma verloren hat. Das ist allerdings so, als ob man ununterbrochen protestierte, dass man irgendwann stirbt. Da es seine Mutter nicht wiederhaben kann, verbringt es sein Leben damit, die Bruchstücke seiner womöglich nur eingebildeten Erinnerungen an die Mamma zusammenzukitten. Sollte dazu ein vollständiges Bild entstehen, möchte es einen Altar errichten und das Bild darauf stellen. Aber dazu wird es nicht kommen.

*

Ein Mammakind darf nicht mit einem Muttersöhnchen verwechselt werden. Muttersöhnchen sind auch traumatisiert, und zwar so, dass sie sich nicht an das Urparadies mit ihrer Mutter erinnern. Sie sind unfähig, die Liebe, die sie durch ihre Mutter erfahren, an sie oder irgendeinen anderen Menschen zurückzugeben. Vielmehr nutzen sie erst die Mutter und danach ihre ganze Welt aus.

Mutersöhnchen werden für ihr späteres Leben nicht durch das Urparadies, sondern durch die Ursituation am Wickeltisch determiniert. Kaum ist das künftige Muttersöhnchen auf die Welt gekommen, liegt es auf den Tisch und schreit sich die Seele aus dem Leib. Rund um den Wickeltisch findet eine Gesellschaft zusammen, um das Baby zu versorgen. Keiner will wissen, in was für ein Monster das Baby sich später verwandeln mag.

Sobald sich die Gesellschaft am Wickeltisch kümmert, liefert das Baby eine Gegenleistung ab, indem es die Gesellschaft erfreut. Diese Gegenleistung wird mit den Jahren auf Null reduziert. Wer könnte einen Zwei-Zentner-Moloch süß finden? Das Baby lernt vor allem zwei Dinge: Es kann selbst nichts Konkretes bewirken. Es ist ein Leichtes, die Umwelt zu bewegen, etwas für das Baby zu tun. Es muss nur ein Geschrei machen. Sobald sich die Gesellschaft rund um den Wickeltisch (oder später den Chefsessel) auf vorauseilenden Gehorsam eingestellt hat, reicht ein Gequengel.

Innerhalb der Gesellschaft zur Versorgung des Wickelkindes steht an vorderster Front herrschend, koordinierend und aus vollem Herzen liebend die Mutter. Wenn ein „Du, du“ nicht reicht, nimmt sie das Baby auf den Arm und gibt es womöglich an andere Arme weiter. Es ist ein Privileg und ein Glück, das Baby halten zu dürfen. Wenn alles nicht hilft, legt die Mutter das Baby an die Brust. Oder sie gibt ihm das Fläschchen. Gierig nuckelt und schaufelt das Baby Welt in sich hinein. Anders als im Mutterleib geht es nicht um die Entwicklung und Entfaltung von Potenzialen, vielmehr um die Lösung eines Mengenproblems, also das Gewinnen von Pfunden.

Die gleichförmig wiederkehrenden Situationen am Wickeltisch prägen sich dem künftigen Muttersöhnchen ein. Es denkt sein Leben lang, es gäbe nichts anderes. Wenn Muttersöhnchen zu Pickelträgern, Couch Potatoes und Neervensägen herangewachsen sind, konstituieren sich neue Gesellschaften für sie um den nunmehr hypothetisch gewordenen, aber mit realer Macht begabten Wickeltisch.

Wie schafft es ein Muttersöhnchen, seine Umwelt immer wieder aufs Neue zu unterwerfen? Das Muttersöhnchen ist auf dem Wickeltisch liegen geblieben und hat sich so einen kindlichen Charme bewahrt. Da schmelzen ganz andere Frauen als die Mutter dahin. Wollten sie sich nicht ohnehin kümmern? So lernt das Mutersöhnchen nie, verpflichtungsfähig zu sein. Bald ist von der wundervollen Symbiose zwischen Mutter und Kind nichts außer Vorhaltungen, Beschwerden und kleinliches Wünschen übrig geblieben. Ein Muttersöhnchen bleibt ein solches, selbst wenn es vierzig Jahre und älter geworden ist, weil es immer wieder neue Dienstboten findet.

Mittlerweile hat das Muttersöhnchen Menschen kennen gelernt, die sich seinem Herrschaftsanspruch nur bedingt unterwerfen. Da hilft auch kein Quengeln. Also kehrt das Muttersöhnchen zu seiner Mutter zurück. Auf sie, das weiß es seit Babyzeiten, ist immer Verlass. Sie hat sich ihrem Baby auf ewig dienstbar gemacht. Spätestens, wenn die Mutter hinfällig wird, hält das Muttersöhnchen nach Ersatzmüttern Ausschau. Zum Glück gibt es viele passende Gefährtinnen, die, auch wenn sie es nicht wissen, unterworfen sein wollen.

Mammakinder möchten weder zornig werden noch eingreifen, wenn sie die Erniedrigung der Mütter und Ersatzmütter durch Muttersöhnchen beobachten. Aber leicht fällt ihnen das nicht. Andererseits packt sie die irre Wut, wenn sie, was gelegentlich vorkommt, mit Muttersöhnchen verwechselt werden.

*

Viktoria ist das erste Mädchen, mit dem ich es über längere Zeit aushalte. Wenn ich sie auf eine meiner Reisen in die Vergangenheit mitnehme, gehe ich höhere Risiken ein.

Für heute habe ich beschlossen, mich näher an mein Geburtshaus zu wagen. Wir haben meinen Wagen oben am Berg geparkt. Das Zechentor und die Zeche dahinter haben aufgehört zu existieren. Hinter der Mauer wuchern, vom ständigen Fieseln in unserem Regenloch gedüngt, Pflanzen, die unter Naturschutzverdacht stehen. Vielleicht gibt es deswegen weit und breit keinen Gewerbepark. Viktoria und ich gehen den Berg hinunter. Früher gingen die Kumpels zu Hunderten vor Schichtbeginn in düsterem Schweigemarsch diesen Berg herauf. Diesmal sehe ich vor meinem hypothetischen Auge nicht, wie sie mir entgegenkommen.

Die Fassaden meines Geburtshauses sind die alten geblieben. Ich kam als Hausgeburt oberhalb einer Kneipe mit Dortmunder Kronen Bier zur Welt, während die Kumpels im Erdgeschoss ihren Zehntageslohn vertranken. Ich gehe am Haus vorbei, ohne einen Blick seitwärts oder zurück zu werfen. Da ich mich allem Anschein nach nicht aufgeregt habe, kehre ich zu meinem Geburtshaus zurück.

 

Der Gastwirt hat seine Kneipe dicht gemacht. Mit der Bergbaukrise sind ihm die durstigen Seelen abhanden gekommen. Ein einsamer Mann kommt aus dem Haus und ballert die Tür hinter sich zu. Er geht an mir vorbei die Straße herunter. Die Tür zu meinem Geburtshaus ist wieder geschlossen. Man benötigte einen Schlüssel, um das Haus zu betreten. Das gab es in den Vielfamilienhäusern in Bergarbeiterkolonien nicht. Die Besucher stiefelten die Treppen hoch und klopften an meistens nicht abgeschlossenen Türen. „Ey, Gerd, bist du da? Komm in die Puschen.“

Mittlerweile dürfte der Vermieter die Toiletten von den Zwischenstocks in die Wohnungen der Mieter verlegt haben. Sanierungen wie diese sind heute für jeden Hausbesitzer notwendig. Der Vermieter hat seinen Mietern eine Badewanne gestiftet. Danach erhöht er ihnen die Mieten. Die Bergschäden mit ihren schräger werdenden Wänden und dem sich täglich vergrößernden Fleck an der Decke bekommt er weniger leicht weg. Er kann nur hoffen, dass sein Haus unter Denkmalsschutz gestellt wird und die entsprechenden Fördergelder fließen.

Irgendwie komme ich den Berg hoch und kehre zu meinem Auto zurück. Während ich mich auf dem Fahrersitz niederlasse, wimmere ich als kleines Kind, in das ich mich gelegentlich rückwärts verwandele. „Was ist los mit dir?“ fragt Viktoria. Damit meint sie, dass sie sich einen anderen Freund suchen wird, damit ich mich ungestört mit den Freunden meiner Mutter auseinandersetzen kann.

*

Niemand verbietet uns, von unserer Mamma zu reden. Dennoch halten sich alle, die von meiner Familie übrig geblieben sind, an das Gebot, das es nicht gibt. Zwischen uns gibt es nur noch wenige Gemeinsamkeiten, außer dass wir uns anschweigen.

Wir haben unser Bestes gegeben, uns auseinander zu leben. Meine Schwester hat aus dem Wenigen, was ihr die Welt bot, das Bestmögliche gemacht. Wenn wir uns sehen, was selten genug vorkommt, vermeiden wir alles in unseren Gesprächen, was die Leichen unter unseren Betten in Versuchung führen könnte, sich zu wälzen, zu knarren und mit uns zu flüstern.

Mittlerweile bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der sich für meine Mamma interessiert, auch wenn ich mich kaum an sie erinnere. Aber manchmal unterläuft meiner Schwester ein Satz über unsere Mutter. Sie sagt, dass sie zur Ungeduld neigte. „O ja“, bekräftigt sie, als habe die Angst des kleinen Mädchen vor ihrer Mutter nach all den Jahren weiter Bestand.

In der Mitte des Sommers kehre ich aus der Badeanstalt zurück. Ich hätte den Bus nehmen sollen, aber mir fehlte das Geld. Während ich von einer Straße in die andere biege, beknallt mich die Sonne. Sobald ich in unsere Wohnung zurückgekehrt bin, eile ich ins Badezimmer und hänge mich unter den Wasserhahn. Mein Vater beobachtet mich durch die offene Tür. Er schüttelt den Kopf und sagt: „Deine Mutter war ähnlich hastig. Für sie musste alles Schnell, schnell gehen.“ Wut kommt hoch in mir und verflüchtigt sich wieder, sobald ich ihn ansehe. Mein Vater ist von der Rolle, wenn es um mich geht. Ich habe vom ersten Tag meines bewussten Lebens an bedauert, dass ich ihm nicht weiter entgegenkommen kann. Ich haue mich auf die Couch und wende mein Gesicht der Wand zu. Das war ein anstrengender Tag, denke ich.

*

Meine Eltern wandern getrennt voneinander ins Ruhrgebiet ein. Sie fühlen sich in den Städten verloren. Die Romantiker der Arbeiterliterliteratur bedachten nicht, dass sämtliche Einwanderer Bauernlümmel waren. Sie wollten nicht in die Hölle der Städte, nur weil die Hölle in den Dörfern eine andere war. Als meine Eltern einander kennenlernen, stellen sie fest, dass sie aus benachbarten Dörfern gekommen sind. Sie dürften über vier wenn nicht drei Ecken miteinander verwandt sein. Das wäre ein weiterer Grund, sich aneinander zu klammern.

Die Menschen im Ruhrgebiet wissen, dass sie nicht ins Landleben zurückkehren können. Das verdrängen sie zum Teil. Warum sollte man nicht, wenn einem die Maloche eine halbe Stunde übrig gelassen hat, mit dem Träumen beginnen? Für die lange Zeit, in der sie weder der Stadt noch dem Land angehören, richten sich die Einwanderer mit Kaninchen und Tauben eine Kleingartenidylle ein. Wenn sie zu Familienfeiern in die Dörfer zurückkehren, sprechen sie gebrochenes Platt und reden ihren Verwandten nach dem Munde, nur weil sie sich aus Heimweh nach dem Lande verzehren. Dafür schämen sie sich. Aber näher an die alte Heimat kommen sie nicht.

Auf dem Land kommt die Propaganda des Ruhrgebiets gegen sich selbst prächtig an. In Grotebühl hat sich herumgesprochen, wie tierisch im Ruhrgebiet malocht werden muss. Das soll schlimmer sein, als im Großen Moor Torf zu stechen. Haben nicht alle gesehen, wie verdreckt wir sind, wenn wir aus der Waschkaue kommen? Wenn wir ein weißes Hemd angezogen und uns einmal umgedreht haben, ist es vom Kokereistaub grau. Wühlen im Ruhrgebiet nicht Agitatoren, die verlangen, dass man den Bauern ihre Höfe wegnimmt? Allerdings staunen die Grotebühler, wenn sie hören, was im Ruhrgebiet verdient wird. Aber sie staunen noch mehr, wenn man ihnen sagt, was das Gemüse kostet, das man sich am Großen Moor umsonst aus dem Garten holt.

Meine Schwester hat die Begeisterung meiner Eltern für das Land übernommen. Ich sage ihr, dass das Leben hüben wie drüben weitgehend Ausschuss ist. So sehr die Leute sich abmühen, es reicht nur für ein Einkommen, nicht für ein Auskommen. Da gehen sie her und sterben dahin. So etwas will meine Schwester nicht noch ein anderer hören. Die geleckten Broschüren über das Ruhrgebiet mit ihrer verschwiemelten Sprache gibt es noch nicht.

Gleichwohl sind wir, dass muss ich widerwillig zugeben, mit den Leuten in der Knüste verwandt. Die Stimme des Blutes darf es nicht geben, aber Blut mag dicker als Wasser sein. Meine Tante kann unsere verwandtschaftlichen Beziehungen auf den Dörfern bis in entlegene Verästelungen wiedergeben. Mein älterer Bruder fragt sie dennoch nicht, weil er Abschriften benötigt, die von den Behörden zu beglaubigen sind. So schlägt er stattdessen in Kirchenbüchern nach.

Diese reichen bis ins Jahr 1636 zurück, als der Feldherr Tilly sein Lager unter der großen Eiche auf dem Marktplatz von Grotebühl errichtete. Die Eiche hat bis heute den Untergang vieler Generationen und mehrere Kulturen überlebt.

Tilly gibt seinen Landsknechten freien Lauf, weil die Grotebühler seiner Forderung nach Herausgabe von ihm aufgelisteter Reparationen nicht nachkommen wollen. Selbst wenn sie wollten, sie könnten es nicht. Sie behaupten frech, sie besäßen nichts. Erst nehmen sich die Landsknechte die Dorfmitte vor. Später machen sich kleinere Trupps zu den Höfen an der Peripherie auf. Einige Bewohner von Grotebühl sind vorher ins Große Moor geflohen. Als die Flüchtlinge zurückkehren, sind die Höfe niedergebrannt und die zurückgebliebenen Bewohner gefoltert und erschlagen. In Grotebühl ging es schlimmer als im Simplicissimus zu.

Seit Tilly weiß man in den Dörfern am Großen Moor, dass die nächste Katastrophe um die Ecke lauert. Es kann nicht lange dauern, sagen sie sich, dann kommt sie über uns. Leider behalten sie in den meisten Fällen recht.

Einer meiner Cousins mütterlicherseits blättert in den Kirchenbüchern ab 1636 bis zur Gegenwart. Soweit er das nachprüfen kann, stammen meine Vorfahren alle aus Grotebühl. Oder sie kommen aus den um Grotebühl liegenden Ortschaften oder seltener aus Gemeinden, die an der anderen Seite des Großen Moores liegen. Auch für die Zeugung bleibt man geographisch zusammen, weil die Fortbewegungsmittel wenig entwickelt sind. Im besten Fall schwingt man sich aufs Pferd oder lässt sich von ihm ziehen. Das reicht, um einmal im Leben bis in die Kreisstadt zu kommen. Einige Grotebühler gehen im 19. Jahrhundert aus Verzweiflung ins Große Moor, weil seit Tilly nichts in ihren Gemeinden passiert ist. Sie ertragen nicht, Spökenkieker, die sie sind, Gespenster zu sehen und kehren nicht wieder.

Unser Genpool verbessert sich, als Handel und Wandel über unsere Dörfer kommen, so erzählt meine Tante. Mein Urgroßvater väterlicherseits soll einer der Paten im Tabakschmuggel zwischen den Königreichen Hannover und Preußen gewesen sein. Während die junge Generation Grotebühls dem Schmuggel nachgeht, wirft sie verstohlene Blicke auf die fremdländisch blickenden exotisch blühenden Mädchen aus dem Westfälischen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommen die Jungen aus dem westfälischen Stapelloh, um mit den Grotebühler Mädchen zu tanzen. Das schaffen sie, weil das Fahrrad mittlerweile erfunden ist und die junge Generation die Verbreitung des Drahtesels in beide Hände genommen hat. Jahr für Jahr holen sich die Stapelloher bei uns blutige Nasen.

Damit habe ich das meiste zur Verwandtschaft meines Vaters gesagt. Von meinen Verwandten mütterlicherseits weiß ich nichts, außer das sie in denselben Dörfern gehaust haben.

*

Meine Eltern ziehen häufig im Ruhrgebiet um. Sie scheinen hierhin und dorthin geworfen. Das wundert uns Nachgeborene nicht. Die Kumpels hauen in den Sack, sobald sie eine Möglichkeit sehen, dem Pütt zu entkommen. Oder sie werden in den Sack gehauen, weil die Nachfrage nach Kohle zurückgegangen ist. So kommt es, dass meine Schwester in einer anderen Stadt als die kommenden Kinder geboren wird.

1936 oder 1937 könnte meine Familie in das Gasthaus mit Dortmunder Kronen Bier gezogen sein. Das ist erneut in einer anderen Stadt. 1937 wird meine Mutter abermals schwanger. Die Hausgeburt klappt diesmal nicht. Die Hebamme taucht ihre Hände in Blut. Das Mädchen schreit einmal, als es geboren ist, und dann niemals wieder. Meine Mutter erholt sich nicht von dieser Geburt. Sie nimmt merkwürdige Züge an, meinen einige Leute.

1939 wird meine Mutter abermals schwanger. Meine Eltern suchen den Knappschaftsarzt auf. Sie tragen ihre Bedenken vor. Sie verweisen auf die fehlgeschlagene Geburt drei Jahre zuvor. Müsste meine Mutter nicht, wenn es soweit ist, ins Krankenhaus kommen? Der Knappschaftsarzt hört nur mit halbem Ohr zu. Was reden ihm die Patienten die Hucke voll, solange ihm die Knappschaftsversicherung ein Gebietsmonopol schenkt? "Haben wir nicht eine tüchtige Hebamme in der Kolonie?" fragt er, als meine baldigen Eltern immer noch drucksen.

Als ich 1940 geboren bin, scheint alles reibungslos vonstatten gegangen. In meinem Fall hat der Knappschaftsarzt recht behalten. Die paternalistische Gesundheitsversorgung, in der nur Befehle befolgt und keine Fragen gestellt werden, hat, wie auch die steigenden Geburtenrate zeigt, funktioniert.

Von 1941 und 1942 ist mir nichts haften geblieben. Es dürfte mir wie den Kurzgeratenen in anderen Familien ergangen sein. Wir schwingen die Rassel. Wir machen ein Bäuerchen. Wir gestatten uns einen Pup.

Meine Schwester sieht das später ganz anders. Ihre Geschichten über mich haben drei Merkmale: Ich komme gut weg. Mein Vater tut immer das richtige. Meine Mutter dräunt als gefürchteter Schatten.

Mein Cousin mütterlicherseits versteht nichts von kleineren Kindern. Das zeigt sich, wenn er zu uns in die Wohnung kommt. In seiner Jugendorganisation wird er gedrillt, sich gegen schwächere Kinder durchzusetzen. Dafür wird er von seinen Oberen gefördert. Abermals hat mich mein Cousin geärgert. Ich klettere von meinem Stuhl herunter. Als ich auf dem Boden stehe, halte ich mich am Stuhl fest, weil ich nicht von selber umfallen will. Derweil bin ich weiter empört. Mein Cousin begibt sich nur scheinbar auf die Flucht, während er mich gleichzeitig auslacht. Als ich ihn nicht einhole, verhöhnt er mich: „Bist du zu dumm oder zu klein, dass du nie was verstehst?“ Ich verstehe dennoch. Er hat die langen Beine, ich die ganz kurzen. Also breite ich die Arme aus und rufe: „Wer kommt in meine Arme?“ Mein Cousin kehrt in meine Arme ein. Ich verhaue ihn kraftlos. Sogar mein Onkel, der meinen Cousin ins Haus gebracht hat, ringt sich ein müdes Lächeln ab. Ich war Odysseus, denke ich einige Jahre später, der, knapp dem Kinderwagen entronnen, ein erstes Mal seinen Verstand bewegt hat..

*

Mein Großvater väterlicherseits hat den größten Hof in Grotebühl vertrunken. Alle seine Vorfahren und Nachgeborenen waren anständige Menschen. Aber wir erinnern uns ausschließlich an ihn.

Mein Großvater setzt sich in einem benachbarten Dorf kleiner. Sollte ihm der bescheidenere Hof eine Strafe sein, lässt er sich nichts anmerken. Vielmehr ist er unternehmungslustig geblieben. Zu den drei Kindern, die ihm seine erste Frau geschenkt hat – die wollte aus Scham über den Verlust eines Hofes nicht mehr leben und hustete sich darüber die Schwindsucht an –, gesellen sich fünf von der zweiten. Jetzt hat er fünf Jungen und drei Mädchen.

 

Der älteste Sohn, der folglich der Hoferbe ist, würde sich sorgen, selbst wenn er keinen Grund dafür hätte. Er nimmt sich eine Frau, die ausschließlich in künftigen Kalamitäten denkt. Andererseits müssen sie sich Sorgen machen. Hat der Großvater nicht gerade den kleineren Hof mit einer größeren Hypothek belegt? Noch ein solcher Schritt, und er hätte Wucherzinsen an den Juden zu zahlen. Immerhin braucht sich der Sohn keine Sorgen um den heraufziehenden Krieg zu machen. Er ist zu alt, um eingezogen zu werden.

Die Mädchen müssen zusehen, wo sie einen Hoferben abbekommen. Wenn ihnen das nicht gelingt, geistern sie als Magd auf dem Hof ihres ältesten Bruders und werden für den Rest ihres Lebens nicht wahrgenommen, insbesondere von der angeheirateten Frau des Hoferben nicht. Die drei anderen Söhne wandern nach Hamburg, ins Ruhrgebiet und nach Sachsen aus. Dem Ältesten ergeht es in Hamburg besser als meinem Vater im Ruhrgebiet, aber schlechter als seinem Bruder in Sachsen.

Zwar bleibt es eine Plackerei, die Schiffe im Hamburger Hafen zu entladen und zu beschicken. Aber der ältere Bruder hat das Glück, eine Frau aus dem Bürgertum kennenzulernen. Die Familie der Frau ist nicht begeistert, bis der Familienvorstand seine Leute daran erinnert, dass er sich vom Schauermann aufwärts hochgedient hat. Der Frau des Hamburger Bruders wird in Grotebühl und der weiteren Verwandtschaft übel genommen, dass sie glaubt, etwas Besseres zu sein. Vielleicht ist es nur ihr Hamburger Dialekt. Wenn sie durch ihre Nase spitzer als der spitzeste Stein spricht, weiß keiner in Grotebühl, was er antworten soll. Allenfalls lässt sich etwas sagen, wenn man hinter ihrem Rücken spricht.

Der Schwiegervater ist beruflich ein Pfeffersack und in der Lage, weiter zu blicken. Deshalb weiß er nicht nur, dass der heraufziehende Krieg unvermeidlich ist. Vielmehr versteht er, wie man an ihm verdient. Wenn sein Schwiegersohn nicht an der Front erschossen werden will, sollte er sich freiwillig rechtzeitig bei der Wehrmacht melden. So würde er sich einen Druckposten sichern. Sofern er sich militärisch verpflichtet, kommt er von seiner Arbeit im Hafen weg. Die passt sowieso nicht in seine Familie. Also das Militär wäre gut für ihn, vergewissert sich der Hamburger Bruder, weil er es seinem Schwiegervater und der Familie, in der er eingeheiratet hat, recht machen will. „Wenn du in deiner Uniform an der Binnenalster marschierst und Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt singst, gefiele das meiner Tochter und sogar meiner Frau“, sagt der Schwiegervater. "Das fänden sie schick. Es muss ja nicht gleich die schwarze Uniform sein."

Als der Krieg ausbricht, hat sich der Hamburger Bruder zum Feldwebel hochgedient. Er lehrt die zwangsverpflichteten Rekruten, an immer neuen Fronten zu kämpfen. Die Soldaten, die vom Hamburger Bruder in den Krieg geschickt werden, eilen von einem Sieg zum nächsten, bis sich das Kriegsglück gewendet hat. Danach werden die Ausbildungszeiten kürzer. Der Feldwebel kann den Soldaten man eben das richtige Grüßen der Vorgesetzten beibringen, bevor der Oberbefehlshaber sie an die Front schicken muss.

Als sich der Krieg seinem Ende nähert, werden pubertierende Jugendliche ohne Ausbildung und fast ohne Bewaffnung an die Front geworfen. Sogar das Grüßen gilt fast als vernachlässigbar. „Ihr müsst sehen, wie ihr mit der Panzerfaust zurechtkommt“, sagt der Feldwebel. „Hier habt ihr ein Merkblatt. Lasst es euch gegebenenfalls von einem Spieß mit Fronterfahrung erklären, sollte genügend Zeit vor den Kampfhandlungen übrig geblieben sein.“ Am Ende ist der Feldwebel in seiner Rolle als Ausbildungsleiter überflüssig geworden. In den letzten Wochen des Krieges muss er selbst an die Front. „Untersteh dich, von unseren Feinden erschossen zu werden“, sagt der Schwiegervater. „Dafür gab ich dir nicht meine Tochter zur Frau.“

Der Bruder aus Hamburg wird von den heranrückenden britischen Truppen ins Bein geschossen. Das ist Glück im Unglück, da seine Kameraden zur Rechten und Linken tot umfallen. Nachdem sein verwundetes Bein unterhalb des Knies amputiert ist, humpelt er mit einem Holzbein einher.

Nach Kriegsende weiß die Hansestadt Hamburg die Verdienste des Bruders um unser Volk zu würdigen. Hat er nicht genügend viele junge Menschen in den Tod geschickt? Also vertraut ihm die Senatsverwaltung eine Position als Gerichtsvollzieher an. In dieser Eigenschaft entdeckt er ein Schnäppchen in Wandsbeck und ersteigert das Haus. So kann er seiner Frau ein schöneres Zuhause bieten als jemals in Grotebühl erbaut wurde. Er überlegt, ob er die buckelige Verwandtschaft einladen soll. „Bist du endlich zufrieden?“ fragt seine Frau. „Deine Familie wird mich nie akzeptieren“, antwortet der Hamburger Bruder, „und wenn ich dir ein Schloss geschenkt hätte.“ „Solches hättest du bei mir nicht nötig gehabt“, sagt die Frau. „Das hätte ich hören wollen, als ich Hafenarbeiter war“, sagt der Bruder aus Hamburg. "Damals hättest du nicht einmal Hochdeutsch verstanden", sagt seine Frau.

In einem Punkt trifft mein Vater es besser als seine Brüder in Hamburg und Sachsen. Als Bergmann muss er nur auf die siebente Sohle und nicht an die Front. Ohne den laufenden Abbau der Kohle ließe sich die Kriegsmaschine nicht in Gang halten.

Der jüngste Bruder ist der Liebling seiner Schwestern. Haben sie ihn nicht vom Tage seiner Geburt an hochgepäppelt? Zusätzlich ist er der Liebling seines Vaters. Das kommt, weil er von allen der Jüngste ist. Den jüngsten Sohn trifft es in Sachsen am besten. Er heiratet nicht in die bürgerliche Gesellschaft ein. Er bedient sie. Als Kellner hat sich der jüngste Bruder schick anzuziehen. Er stolziert mit Schwalbenschößen über die Weiden des Kirchspiels. Er zeigt den Bewohnern von Grotebühl soviel Geld, wie sie noch niemals gesehen haben. „Das ist alles Trinkgeld, das mir die Großen der Gesellschaft übereignet haben“, erklärt er.

Die Mädchen des Dorfes himmeln ihn an. So hätte er jede von ihnen bekommen können. Aber er zieht ein sächsisches Mädel vor. Als dieses zu Besuch nach Grotebühl kommen und ein kleines Mädchen vorzeigen will, sind alle gespannt. Kaum trifft sie ein, fällt die Verwandtschaft des Kirchspiels vor ihr auf die Knie. So was von Arbeitsamkeit und Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit und Herzenswärme, sagen sie, und grenzen sich so von ihrer Hamburger Schwägerin ab. Die könnte beinahe eine von uns sein. Sogar der sächsische Zungenschlag ist weniger schlimm als er sich anhört. Kaum bricht der Krieg aus, wird der Bruder in Sachsen für die kommenden Kriegshandlungen in der Wehrmacht geschliffen. Bald marschiert er mehrere tausend Kilometer gen Osten. Dort und in Grotebühl und dazu in Sachsen wird er bis zum heutigen Tage vermisst.

Der Besuch meiner Schwester hat sich länger hingezogen als ich vorhatte. „Was sind das für Geschichten, die keinen was angehen?“ frage ich. "Das sind alles deine Verwandte", sagt meine Schwester, die mir wieder zu viel von Menschen erzählt hat, die mich nicht interessieren.

*

Mein Großvater genießt seine Tage, was auf dem Lande im Grunde verboten ist. Seine Kinder haben ihn zum vielfachen Großvater gemacht. Mittlerweile hat er derart viele Enkel, dass er sich nicht ihre Namen merken kann. Überall, wo er hinkommt, wird er von Enkelkindern erwartet. Die mittlere Generation spielt auch eine Rolle, aber die besuchte er ohne seine Enkel nicht.

Was das alles kostet, sagt der älteste Sohn verbittert zu seiner Frau. Es sind nicht nur die Reisekosten, die dermaßen ins Geld gehen. Der Großvater muss seinen Enkeln was mitbringen. Für die Enkelkinder stimmt nicht, dass der Großvater zu Weihnachten kommt. Vielmehr ist Weihnachten dann, wenn der Großvater kommt. So findet das große Fest für die Familie mehrere Male im Jahr statt. Mein Großvater fährt zu seinen Enkeln, wann er dazu Lust hat. Die Arbeiten auf dem Hof überlässt er seinen Erben. „Ne, ne, dat schöne Geld“,, sagt die Schwiegertochter.

Das wichtigste Ritual großväterlicher Besuche findet unmittelbar nach der Ankunft des Großvaters statt. Kurz zuvor ist mein Cousin mütterlicherseits mit seiner Familie eingetroffen. Mein Großvater hat an die Tür geklopft. Ihm wird aufgemacht. Der Großvater stellt sich in die Tür und lacht, weil er in Wahrheit der Weihnachtsmann ist. Wir Kinder stoßen uns mit den Ellenbogen an. Das ist eine Überraschung, dass der Großvater zu uns gekommen ist. Das mimen wir, wie unsere Eltern von uns erwarten.