Ein Anti-Heimat-Roman

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"Ja und?“ frage ich. „War das mit der Kuh nicht in der Ordnung? Dann hätten sich die Bauern eine doppelte Buchführung anschaffen müssen.“ Gerade bin ich dabei, in mein Zimmer zu schlendern. Da wartet ein neuer SPIEGEL auf mich. Zuvor kommt mir eine Idee. „Sag mal“, frage ich, „warst du ein Nazi?“ „Ich war nur ein Kandidat“, sagt mein Vater. „Sie haben mich nicht genommen.“ Das stand bislang nicht im SPIEGEL, dass es in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei einen ähnlichen Kandidatenstatus wie in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gegeben hat. Sollte es weitere strukturelle Gemeinschaften zwischen diesen Gemeinschaften geben, die man besser verschweigt, es sei denn, man gehörte zum anderen Lager?

Vielleicht, überlege ich, wollten die Nazis meinen Vater nicht haben, weil er meine Mutter nicht richtig behandelt hat. Als germanischer Schlagetot hätte er die Affäre souveräner handhaben sollen. Diese Möglichkeit nimmt mich mehr mit als alle Gräuel des Krieges zusammen, soweit der SPIEGEL sie aufgedeckt hat.

*

Hat meine Familie weitere Leichen im Keller? Mit dieser Frage wende ich mich besser an meine Schwester. Diese war wie alle Mädchen Mitglied im Bund deutscher Mädel. Aber als sie mit mir in eine Gemeinde am Großen Moor gezogen ist, geht die Arbeit auf Höfen für alle vor. Viel Zeit bleibt nicht, die Fahne hochzuziehen, im Gleichschritt zu marschieren und Wanderlieder zu singen.

Das sind sowieso Aktivitäten, über die ein anständiger Bauer den Kopf schütteln muss. Die Liebe zur Natur ist was für die Städter, während die Natur für die Landbevölkerung ein sperriger Wirtschaftsfaktor bleibt. Verweigert die Natur ihre Dienstleistungen, ist man am Ende.

Mein Cousin mütterlicherseits ist acht, als er den anderen Jungen in der Reichskristallnacht voran läuft. Er ist der erste, der die Schaufenster jüdischer Geschäfte mit Steinen einwirft. Die dabeistehenden Uniformierten haben sich meinen Cousin gemerkt. Einer von ihnen nimmt ihn an die Seite. Er möchte ihn nach Grotebühl schicken. „Schaffst du das?“ fragt er ihn. „Wenn du eine Führerpersönlichkeit bist, musst du das können.“ „Ich schaffe das“, sagt mein Cousin. Also fährt mein Cousin nach Grotebühl. Er kommt auf dem Hof einer seiner Onkel unter. In Grotebühl schlägt er Kirchenbücher nach und legt umfangreiche Genealogien an. Damit weist er nach, dass wir seit 1636, als General Tilly die Kirchenbücher verbrennen ließ, keinen Juden in der Verwandtskopp hatten. Sollte in den Jahrhunderten davor ein Jude in unseren Genpool gespuckt haben, wird die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei damit leben müssen.

Ein oberer Uniformierter ist mit der Genealogie meines Cousins zufrieden. Er sorgt dafür, dass mein Cousin auf einen Vorbereitungskurs für die künftige deutsche Elite ins befreundete Ungarn geschickt wird. Als meine Mutter gestorben ist, verzichtet mein Cousin auf den Heimaturlaub. In dieser schweren Zeit geht alle Kraft in die die Erwirkung des Endsieges. Mein Cousin wird auf eine Fortbildungsstätte in den Schwarzwald geschickt. Als er an der Schule eingetroffen ist, versammeln sich die Truppen der Alliierten auf der anderen Seite des Rheins. Die unmittelbare Verteidigung des Vaterlandes ist angesagt. Sobald mein Cousin einen ersten Imbiss zu sich genommen und eine Uniform verpasst bekommen hat, übt er an der Panzerfaust. Ein Sturmbannführer der SS biegt auf einem Motorrad mit Beiwagen in die Eliteschule ein. Er herrscht das Personal der Schule an. Danach lässt er die Schüler auf dem Schulhof strammstehen. „Schmeißt die Uniform weg und besorgt euch Zivil“, sagt er. „Der Krieg ist verloren. Abtreten.“

Mein Cousin macht sich in ziviler Kleidung auf den Weg. Er versucht, einen Bogen um die Heere zu schlagen, aber sich in der Nähe von Bahngeleisen zu halten. Sollten wider Erwarten Züge fahren, schafft er es vielleicht schneller ins Ruhrgebiet. In der Nähe von Heidelberg entert mein Cousin einen Zug. Der Zug fährt hierhin und dorthin und landet in Brüssel. Auf dem Perron in Bruxelles-Midi warten große Mengen. Sie entdecken, dass die Menschen in den Waggons Deutsche sind. Die ersten Scheiben zersplittern. Junge Männer springen auf den Zug, um die sich auf einer Irrfahrt befindenden Deutschen herauszuzerren und womöglich zu erschlagen. Vielleicht im letzten Moment, da noch alles gut gehen kann, fährt der Zug wieder an.

Das Ruhrgebiet ist in großen Teilen zu Schutt und Asche zerfallen. Als erstes beginnen wieder die Güterzüge zu fahren. Auf Anweisung der britischen Militärregierung kommt die Kohleförderung stockend in Gang. Derweil starren die Leute im Ruhrgebiet in leere Keller. Darüber kann in dieser Kälte keiner lachen, dass ausgerechnet sie keine Kohle haben. Manchmal bleiben die Waggons mit den Kohleladungen stehen, ohne dass ein Grund für die zuschauende darbende Bevölkerung ersichtlich ist. Oder sie legen sich in die Kurve und drosseln ihre Geschwindigkeit. Dann springen Halbwüchsige und Kinder auf die Waggons mit den Ladungen. Sie werfen, so schnell sie können, Briketts und Kohleeier von den Waggons. Wenn der Zug Fahrt aufnimmt, springen sie herunter. Mein Cousin springt herauf und herunter und ist wieder vorneweg. Bald darf er gemeinsam mit seinem und meinem Vater in den Pütt gehen.

Noch ein paar Jahre, und ich treffe meinen Cousin ein weiteres Mal. Nach wie vor ist alles kaputt. An der Peripherie werden so rasch und billig wie möglich und hässlich wie nötig Siedlungen hochgezogen, weil die Wohnungsnot groß ist. Aber die Züge fahren und die Kinos laufen. Mein Bruder nimmt mich zu mehreren Kinobesuchen mit.

Alle Kinos sind brechend voll. Mein erster Hollywood-Film heißt Notorious. In diesem Film werden Nazis gejagt, aber die deutsche Synchronisation macht daraus andere Schurken. Oberagent Cary Grant wirbt Ingrid Bergmann als Unteragentin an und schleust sie in die verbrecherische Organisation. Ingrid Bergmann liebt Cary Grant so sehr, dass sie seinen Anregungen folgen muss. Sie heiratet den verbrecherischen Oberboss, weil Grant ihr das zumutet. Ingrid Bergmann liefert wertvolle Informationen, bis die Organisation ihr auf die Schliche kommt. Die Schwiegermutter macht sich daran, sie zu vergiften. Das muss quälend langsam geschehen, weil Cary Grant nichts bemerken soll. Die Unteragentin röchelt, da kommt Grant und trägt sie aus dem Hause des Bösen. Ich erfahre nie, ob Ingrid Bergmann das ihr eingetrichterte Gift überleben wird.

Wenn ich ihn noch einmal treffe, wird er die Werte des Christentum entdeckt haben und mit ihm jene Partei, die die Werte des Christentums vor sich herträgt. Als ich das realisiere, beginne ich zu lachen und stupse meinen Bruder gegen die Brust. „Ich kann es kaum abwarten, dass die Russen über uns kommen“, sage ich. „Dann bin ich gespannt, was du angeblich glaubst.“

*

In der Landwirtschaft hat die Maschinisierung eingesetzt. Mähmaschine, Kartoffelroder und Traktor werden in kürzestmöglichen Abständen eingeführt. Der Bauer wandelt sich zum Maschinisten, der weiß, wie man die Ungeheuer fährt, bedient, wartet und repariert. Wohl wäre es sinnvoll, wenn sich die Bauern auf eine gemeinsame Maschine verständigten. Das funktioniert jedoch aus zwei Gründen nicht: Die Witterungsbedingungen am Großen Moor sind so, dass die Bauern die Mähmaschine am selben Tag benötigen. Sie, die jeden Tag ihre eigenen Entscheidungen treffen müssen, haben nie zu kooperieren gelernt. Die Technisierung der Landwirtschaft bereitet die Entwicklungen zu landwirtschaftlicher Monokulturen, die Zusammenlegung von Höfen und die Aufgabe von Höfen bevor. Mit Maschinen lässt sich die gleiche Menge Arbeit mit weniger Händen verrichten. So wird eine stärkere Landflucht ermöglicht. Gegebenenfalls kommen alle im Ruhrgebiet unter. Während die Männer in den Pütt gehen, sind Dienstmädchen bei Bergassessoren und Schlotbaronen weiter gefragt.

Mein Onkel kauft eine Mähmaschine und den Kartoffelroder. Aber der Hof meines Onkels ist zu klein, als dass wir uns einen Trecker leisten könnten. Der Sohn des Hauses ersetzt den Ochsen, der unseren Pflug bislang gezogen hat, durch ein Pferd.

*

Kaum bin ich nach Grotebühl übergesiedelt, da lerne ich meinen künftigen Lehrer kennen. Er kommt auf dem Pattweg angeradelt und redet mit meinem Onkel über Bienenzucht. Später sprechen die Beiden über aktuelle Entwicklungen an mehreren Fronten. Mein künftiger Lehrer ist von den Schlachten fasziniert, die in Russland geschlagen werden. Während er mit der einen Hand sein Fahrrad hält, beginnt er mit der anderen zu gestikulieren. Auch wenn es derzeit ein Hin und Her gäbe, bedeute das nicht, dass der Endsieg nicht unser sei.

Sobald der Krieg gewonnen ist, sind gigantische Umsiedlungsaktionen vorgesehen, behauptet der Lehrer. Er nickt uns nachdrücklich zum Zeichen seines überlegenen Informationsstandes zu. Mein Onkel werde ein riesiges Gut in Russland unter seine Knute bekommen. „Wenn man mich von meinem Hof herunterholen will, wird man mich erschießen müssen“, sagt mein Onkel. Mein künftiger Lehrer ist verdattert. Auch wenn der Nationalsozialist höheren Idealen zugeneigt ist, etwas mehr Opportunismus täte meinem Onkel gut. Wie soll man eine Beute wie die Sowjetunion verteilen, gäbe es bei uns die Beutejäger nicht?

Die britischen Panzer ziehen in einer Endlosschleife durch Grotebühl. Mein künftiger Lehrer hat den Kindern soviel nationalsozialistisches Gedankengut eingetrichtert, das er selbst zu glauben begonnen hat. Er beschließt, mit dem Großdeutschen Reich unterzugehen. Auf dem Marktplatz von Grotebühl wartet der Lehrer auf die Panzer. Als sie herankommen, stellt er sich mitten auf die Straße und entbietet der britischen Army den Führergruß. Der erste britische Panzer stoppt. Der Fahrer klettert aus seinem Gehäuse. Er nimmt den Lehrer an den Arm und führt ihn an die Straßenseite. Die britischen Panzer setzen ihre Fahrt durch das Kirchspiel fort. Unser Lehrer will nach wie vor den Heldentod sterben. Er rennt die britische Panzerkolonne entlang. Als er den ersten Panzer der Kolonne überholt hat, stellt er sich mitten auf die Straße und entbietet den britischen Soldaten den Führergruß. Die Panzerkolonne stoppt ein weiteres Mal. Der Fahrer klettert den Panzer herunter und nimmt den Lehrer in sein Gehäuse. Jenseits des Großen Moores lässt er ihn laufen. Der Lehrer braucht fast einen Tag, um zu Fuß an seine Schule zurückzukehren. Von da an enthält er sich offener Nazi-Propaganda. Meine Tante schüttelt über diesen Vorfall den Kopf und sagt: „De Keerl hätt tau vierl Beucker läsn.“

 

So zivilisiert, wie sich die Briten neuerdings in Kriegen verhalten, werden sie nicht lange Herr über Indien bleiben. An der Ostfront wäre alles ratzfatz zugegangen.

.*

In Indien haben die Briten kostengünstige Erfahrungen mit indirekter Herrschaft gemacht. Nach ihrem Aufmarsch mit Panzern im Kirchspiel verzichten die Briten auf physische Präsenzen und zeigen ihre Kompetenzen in Indirect Rule. Die Flüchtlinge sind gekommen und bleiben fürs erste. Sie schauen sich nach Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet und anderswo um. Im Kirchspiel hätten wir ihnen allenfalls in der Landwirtschaft, im Torfwerk und in der Holzschuhmacherei Arbeit zu bieten.

Kurz nachdem die Flüchtlingsströme in den Gemeinden am Großen Moor verteilt sind, kehrt der Jude in unsere Gemeinde zurück. Meine Tante ist die liebste der Frauen. Aber jetzt trägt sie ein halb verwundertes, halb zähnebleckendes Lächeln zur Schau. Sie fragt: „Wie hat der das geschafft? Der Jude betreibt Geschäfte, die wir nicht näher verstehen. Er fährt einen uralten Opel. Das ist das einzige Auto in unserer Gemeinde. Dazu sagt meine Tante: „Muss es dem Juden gleich wieder besser als unsereins gehen?“

Allerdings geht der Jude bald seines Monopols verlustig. Einer der beiden Krämer in unserer Gemeinde fährt mit einem Kastenwagen über das Land und verkauft Gegenstände des täglichen Bedarfs auf den Höfen. Wenn er mit meiner Tante in Verkaufsgespräche eintritt, schaue ich zu. Der Krämer fährt mir mit der Hand durch das Haar und schenkt mir klebrige Bonbons. Bald spannt der Krämer das Pferdegespann aus und kauft sich ein Kastenauto für seine Fahrten zu den Höfen. Jetzt haben wir zwei Personenkraftwagen in der Gemeinde. Mein Onkel und meine Tante nehmen mich zum Feuerwehrfest mit. Als wir das Zelt betreten, begegnen wir der jüdischen Familie. Wir lächeln einander zurückhaltend an und wechseln ein paar freundliche Worte.

Der älteste Sohn des Juden heißt Willi Räke. Wir werden gemeinsam eingeschult. Ich sehe keine Probleme voraus, weil ich schon mit katholischen Kindern gut klargekommen bin. In unserer Schule wird man nach seiner Leistung gesetzt. Willi Räke nimmt üblicherweise den ersten Platz ein. Ich bin in meinen Leistungen sehr instabil. Gleichwohl sitze ich häufig neben Räke.

Ich überlege, warum dieser Junge derart gut in schulischen Leistungen ist. Ich frage ihn, wie bei ihm zu Hause die Schule gesehen wird. Willi start mich an. Er versteht mich nicht. Also feile ich an meinen Fragen: Wird bei ihm zu Hause betont, dass im Leben nur einer was wird, der in der Schule schlechte Leistungen gebracht hat? Aber nein. Schauen Vater oder Mutter seine Schularbeiten nach? Aber ja. Wird er ermuntert, gute Leistungen auf der Schule zu bringen? Selbstverständlich. Wird er belohnt, wenn er mit guten schulischen Leistungen nach Hause gekommen ist? Nun ja, hin und wieder. Diese Juden, folgere ich, müssen bildungsbesessen sein.

Zwischenzeitlich werden Willi Räke und ich für längere Zeit getrennt, weil der Lehrer ein neues Bewertungssystem für unsere Leistungen eingeführt hat: Die Jungen und Mädchen sitzen nicht mehr getrennt. Es werden nur einmal in der Woche die Plätze gewechselt. Wir schreiben selbst auf, wie viel Punkte wir bekommen. Im Unterricht stellt der Lehrer eine Frage. Ich melde mich vielleicht und gebe eine richtige Antwort. Der Lehrer sagt: „10.000 Punkte“. Oder er sagt: „3.700 Punkte“. Ich schreibe die mir zugebilligte Punktzahl auf. Das neue Bewertungssystem führt dazu, dass die Mädchen alle ganz unten sitzen. Die klügeren Jungen kommen davor. Ganz oben sitzen die dümmsten Jungen. Das kommt, weil sich bald jeder die Punkte aufschreibt, die ihm am besten gefallen. Die Jungen von den größeren Höfen trauen sich mehr als die anderen Kinder zu, weil sie von den größeren Höfen kommen. Irgendwann beginne ich, die Kinder von den größeren Höfen nachzuahmen. Ich sitze oberhalb von Willi Räke.

Von einem Tag auf das andere wird das neue Bewertungssystem aufgehoben. Der Rat der Gemeinde hat sich beim Lehrer beschwert, weil die Jungen und Mädchen durcheinander sitzen. Ich lasse mich neben Willi Räke auf den zweiten Platz nieder. „Ich fand das neue System gar nicht so schlecht“, sage ich. Willi starrt mich an. „Ich sah es als ungerecht und unsinnig an", sagt er. "Damit hast du recht", antworte ich. „Wäre es anders gewesen, hätte ich nicht darüber lachen können.“

Mit Ausnahme der jüdischen Frage ist den Einwohnern Grotebühls gleichgültig, was wir Kinder in der Schule leisten. Auf einmal entwickeln sie ein sportliches Interesse ausgerechnet an mir. Mehrere Male spricht mich ein Erwachsener an. „Ich hewwe hört, datte gaut inne Schaule biss“, sagt er. „Worümme strengsse die nich an un kumms up Platz 1?“ Zwei Tage vor den Großen Ferien findet in meiner Klasse ein Umbruch statt. Ich schlage Willi Räke. Während ich auf den ersten Platz rutsche, trägt Willi es sportlich und begnügt sich ohne zu murren mit dem zweiten Platz.

Ein erstes Mal spricht Grotebühl über die schulischen Leistungen der Kinder. Erwachsene schlagen mich halb im Scherz auf die Schulter und beglückwünschen mich. "Sieh zu, dass du noch einen Tag auf Platz 1 bleibst“, sagen sie. „Dann bist du gleich sechs Wochen lang oben.“

Am Nachmittag habe ich ein Gedicht auswendig zu lernen. Ich sehe es mir an und lege es weg. Was soll ich mit Reimen, die ich nicht verstehe und mir keiner erklären wird? Später vergesse ich die Schularbeiten und spiele mit meinem Hund. Wuff, sage ich zu ihm, was hältst du von Dathyrimben? Wuff, antwortet der Hund, die können nicht besser als Köcksel sein. Am nächsten Morgen haben alle Kinder das Gedicht auswendig gelernt, nur der Sohn des Bürgermeisters und ich nicht. Arnold und ich rutschen nach ganz unten. Der Lehrer schaut uns an. Ich starre wütend zurück. Der Lehrer greift nicht zum Lineal. Willi Räke nimmt den ihm gebührenden Platz an der Spitze ein.

Nach den Ferien sitzen Willi Räke und ich wieder zusammen. Er war in den Ferien in einem Summer Camp. Was ist das, frage ich. Man spielt viel und hat einigen Unterricht, antwortet er. Was habt ihr gelernt, frage ich. Willi kann mir das nicht erklären. Ich wäre bereit, mir einen Finger abzuhacken, wenn ich dafür in ein Summer Camp gehen darf.

Mein Vater kehrt auf unserem Hof ein. Diesmal ist es nicht nur ein Besuch. Er setzt sich mit meiner Tante und meinem Onkel zusammen. Obgleich es um mich geht, werde ich nicht zu den Beratungen hinzugezogen. Dennoch bekomme ich alles mit. Mein Vater zeigt Ansätze von Bildungsbewusstsein. Er ist sogar stolz, dass ich gut in der Schule bin. Andererseits sind andere Söhne richtige Jungen. Mein Vater wirft die Frage auf, ob ich eine höhere Schule besuchen soll. Mein Onkel und meine Tante haben technische und grundsätzliche Einwände. Sie konzentrieren sich zunächst auf die technischen. Im Kirchspiel Grotebühl gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, von einer selten verkehrenden Kleinbahn abgesehen. Wer die nächstgelegene Realschule in der preußischen Kleinstadt erreichen will, muss dreißig Kilometer plus ein paar Gequetschte mit dem Fahrrad fahren. Soll der arme Junge täglich mehr als sechzig Kilometer mit dem Fahrrad unterwegs sein?

"Und dann datt feerle Lee ´en", sagt meine Tante. Meine Tante fügt am Ende des Gespräches hinzu: Es sind viele im Leben was geworden, die nicht auf der höheren Schule gewesen sind. Mein Vater neigt den Kopf und sagt nichts. Ich würde mir zwei Finger abhacken, wenn ich an die Realschule dürfte. Das ist mir so wichtig, dass ich mir ein Herz fasse. Ich sage meinen Leuten, was ich mir wünsche. Sie hören nicht zu.

Willi Räke verabschiedet sich. Er kommt auf die Realschule, ist aber weniger begeistert, als er aus meiner Sicht sein sollte. Noch ein Jahr, und die jüdische Familie zieht aus dem Kirchspiel Grotebühl weg. Ich sehe sie nicht wieder. Ich nehme für einige Zeit die erste Position in meiner Klasse ein. Zwischenzeitlich habe ich meine üblichen Einbrüche. Das ist kein Wunder, denke ich, dass uns die Juden in allen Belangen überlegen bleiben, wenn sie so bildungsbesessen sind.

*

Gelegentlich verzichten die Briten auf Indirect Rule. Ein junger Offizier kommt auf einem klapprigen Fahrrad in unsere Gemeinde gefahren. Er trägt keine Waffen. Jetzt steigt er vom Fahrrad und klopft am Haus unseres Lehrers an. Als der Lehrer die Tür geöffnet hat, nimmt er unwillkürlich Haltung an. Er möchte die Schulbibliothek sehen, sagt der Brite in flüssigem Deutsch. Der Offizier sichtet die Bestände der Schulbibliothek. Das tut er, damit unsere Gehirne nicht durch nationalsozialistische Propaganda vergiftet werden. Die Bücher mit NS-Propaganda trägt er auf den Schulhof, um sie dort zu verbrennen.

Wir Grotebühler finden das weniger gut. Hat man uns nicht gerade gesagt, dass man keine Bücher verbrennen soll?

Ich erfahre von diesem Ereignis einige Jahre später. Ich empöre mich. Warum hat mir das niemand früher erzählt? Wenn einige Bücher verbrannt worden sind, müssen andere erhalten geblieben sein. Ich schwinge mich aufs Fahrrad und klopfe an das Haus meines Lehrers, wie dies seinerzeit der britische Offizier getan hat. Mein Lehrer findet es unangemessen, wenn er von einem Schüler außerhalb des Unterrichts angesprochen wird. „Watt wutt du denn?“ fragt er und ist dabei, die Tür zuzuschlagen. „Ick will taue Schaulbibliothek“, sage ich. Der Lehrer kneift die Augen zu, um mich zu mustern. „Gerd“, sagt er, „hesse nich genauck Beucker läsen?“ „Iss de Schaulbibliothek nich for de Kinner door?“ frage ich. Ich nehme wahr, wie der Lehrer nachzudenken beginnt. Einerseits kommt er der Aufforderung eines Kindes höchst ungern nach. Ließe er mich abblitzen, wären alle auf meinem Hofe auf Seiten des Lehrers. In der Gemeinde würde man sagen: „Mürkers Gerd hett keine Beuker uute Schaulbibliothek kriergen. Dann wett hei villichte doch nich verrückt.“ „Wenn hei et man nicht schon iss“, würde ein anderer Erwachsener sagen. Andererseits wissen mein Lehrer und ich, dass ich mich formal im Recht befinde. Auch bin ich bereit, ihm jeden Ärger zu machen, zu dem ich imstande bin. Ich sehe meinen Lehrer fest entschlossen an. „Dann kummes man“, sagt mein Lehrer und schlurft zurück ins Haus. Ich folge ihm. „Ower bloß ein Bauk“, sagt der Lehrer. Am Ende sind es doch zwei Bücher geworden. „Ick kurm weier“, kündige ich an und schwinge mich mit meiner Beute aufs Rad.

Ich gebe mich einer umfangreichen Deutschen Geschichte hin. Erst wandern die Menschen durch den Dschungel und pflücken Bananen. Später wenden sie sich Ackerbau und Viehzucht zu. Erst schmelzen sie Bronze. Dann finden sie zum Eisen, um Schwerter zu schmieden. Martin Luther befreit Deutschland vom Joch der Katholischen Kirche. Er hätte ein bedeutender Führer werden können, wenn er seine Theologien vergessen und eine Uniform angezogen hätte. Andererseits sagt er sehr richtig, dass man dem Staat zu gehorchen hat. Auf Luther folgen dunkle Jahrzehnte. Die Deutschen schlagen einander die Köpfe ein. Sie sehen sich als Protestanten und Katholiken und vergessen das Wichtigste, ihre Nationalität. Allerdings besteht Hoffnung. Die Deutsche Geschichte wendet sich dem Aufstieg Preußens zu. Es wird zwischen bedeutenden Königen unterschieden, die Kriege gewinnen, und unbedeutenden, die friedlich geblieben sind. Der spätere Friedrich II. liest viele Bücher und schreibt ein eigenes Buch über Moral in der Politik. Als er den Thron besteigt, überfällt er gleich Schlesien. Darüber ist ganz Europa empört. Nicht, dass die anderen Staaten keine Kriege führten. Aber im Krieg sollten gewisse Formen gewahrt bleiben. So sollte jedem kriegerischen Einfall legitimierende Propaganda vorausgehen. Weil sich das halbbarbarische Preußen nicht an die Formen hält, muss es bald Krieg gegen den Rest von Europa führen. Mit dem Eisernen Kanzler habt eine neue hohe Zeit für Deutschland an. Dieser bricht seine Kriege gleichfalls vom Zaun, handelt aber nach Kalkülen der Spieltheorie. Da seinen Kontrahenten die Spieltheorie unbekannt ist, muss er am Ende immer gewinnen. Allerdings beachtet der Eiserne Kanzler nicht, dass das von ihm begonnene Spiel nicht zu Ende ist, sobald er als Lotse von Bord geht. Da seine Nachfolger theoretische Deppen sind, müssen sie am Ende alles verlieren.

 

Diese Zeit wird nur vom nationalsozialistischen Deutschland überboten. Mit glühenden Augen schaut Adolf Hitler aus dem Fenster eines Wiener Obdachlosenasyls. Alles das, was ihm das Leben verweigert hat, will er zerstören. Das kann ich bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen. Wenn einem alles genommen wird, was einem wichtig gewesen ist, bekommt man große Lust dreinzuschlagen. Das Buch endet mit dem Untergang der sechsten Armee in Stalingrad und der Mahnung, dass wir Rückschläge verkraften müssen. Allerdings wird der Endsieg unser sein.

Die Juden treten 1789 und 1919 in der Deutschen Geschichte auf. Gemeinsam mit den Freimauern organisieren sie die Französische Revolution. Später gründen sie die Weimarer Republik. Dabei begehen sie unaussprechliche Verbrechen. Ich lese die entsprechenden Passagen mehrere Male. Aber ich komme nicht darauf, was diese Vergehen gewesen sein mögen. Ich will mehr wissen, nehme ich mir vor, besonders über die Französische Revolution.

Noch mehr als die Deutsche Geschichte zieht mich die romanhafte Wiedergabe isländischer Sagen an. Im Frühmittelalter rotten sich die Isländer mit ihren Fehden aus Gründen der Blutrache beinahe aus. Als sie es geschafft haben, den düsteren Reigen ihrer Morde zu stoppen, sublimieren sie ihre Gemetzel zu Literatur. Wallur schreitet als aufrechter Mann durch die Geysire. Wenn ein Mann ihm entgegenkommt, gibt ein Wort das andere. Schon wieder ist einer tot. Am Ende haben die Feinde das Haus von Wallur umzingelt. Sie stecken das Haus an und rufen: „Komm heraus, Wallur.“ Wallur kommt heraus. „Es sind so viele gestorben“, sagt der Anführer der Feinde. „Lass uns Frieden schließen.“ „Es gibt nur den Krieg“, sagt Wallur und geht in das brennende Haus zurück zu den Seinen.

Erst später realisiere ich, dass es sich um Nazi-Propaganda handelte, wir aber anders als Wallur nicht untergegangen sind.

*

Während ich mich durch den Unterricht träume, sieht mich mein Lehrer voller Abneigung an. Du möchtest mich mit deinem Lineal schlagen, denke ich. Wage es nicht. Der Lehrer wird es leid, mich zu den Beständen seiner Schulbibliothek zu geleiten. Deshalb hat er alle Bücher in die Kreisstadt geschickt. Er behauptet, die Schulverwaltung habe ihn aufgefordert, ihr die Bücher zu schicken. Ich kann ihm nicht nachweisen, dass er gelogen hat. So traktiere ich ihn mit wütenden Anfällen.

Auch sonst ist es um neuen Lesestoff schlecht bestellt. Unsere Abonnements für Zeitung und Lesemappe sind ausgelaufen. Die Flüchtlingsfrau bot mir Hefte, aber ich gab ihr nichts zum Tausch. Das merkte sie sich.

In meiner Verzweiflung wende ich mich einem der zwei Bücher zu, die sich von Beginn an auf unserem Hof befinden. Das ist die Heilige Schrift. Das andere Buch ist das Kochbuch. Es ist das einzige Buch, das für mich verfügbar ist und ich gleichwohl nicht lese, auch wenn ich mehrere Stichproben mit Kochrezepten zog.

Wenn ich mich an meine seinerzeitige Lektüre der Bibel erinnere, werden meine Gedanken durch einen Kommentar Jens Daniels im SPIEGEL aus den späten 50er Jahren verzerrt. Jens Daniel findet in seinem Kommentar zu Jahwe scharfsinnige und scharfzüngige Worte. Wie können die Christen und Juden einem Gott anhängen, der so willkürlich, jähzornig, rachsüchtig und maßlos ist und die Menschen ausschließlich nach ihrer Anhänglichkeit und ihrem Gehorsam belohnt und bestraft?

Unabhängig von Jens Daniel empfinde ich die ständigen Interventionen Jehovas in die Angelegenheiten der Israelis als störend. Zu einer guten Geschichte gehört, dass man nicht weiß, wie sie ausgehen wird. Hier weiß man angesichts der ständigen Einmischungen Jahwes immer, wie alles endet. Jehova hat ein bestimmtes Volk auserwählt. Das muss jedes Gefühl für Gerechtigkeit verletzen.

Ich habe die Bibel schon einmal von vorne bis hinten gelesen. Beim zweiten Mal lese ich abermals Zeile für Zeile. Gerate ich an langweilige Stellen, sage ich mir: Da musst du durch. Irgendwann kommen, das weiß ich aus meinem ersten Durchgang, die guten Geschichten.

Der Lehrer beurteilt biblische Geschichten anders als ich. Er blickt uns bedeutungsvoll an. „Andere schreiben Geschichten“, sagt er, „aber nur Jesus konnte Gleichnisse verfassen.“ Damit meint er, dass die Gleichnisse Jesu unvergleichlich sind. Ich sehe mir die Gleichnisse Jesu an. Die Geschichten sind ganz in Ordnung, besonders die vom verlorenen Sohn. Allerdings übt der Vater eine ähnliche Willkürherrschaft wie Jahwe aus. Ich misstraue Jesus, weil er ein Erwachsener ist. Jesus hat dieses und jenes befohlen. Wie wäre es, wenn wir nicht täten, weil es Jesus gesagt hat, sondern weil es das Richtige ist?

Das Beste am Neuen Testament ist die Apostelgeschichte. Ich male Landkarten und zeichne die Strecken, die die Apostel gewandert sind. Haben sie irgendwo eine neue Gemeinde gegründet, erhält die Stadt von mir ein doppeltes Kreuz. Leider hat der Apostel Paulus zu viele Briefe geschrieben. Während ich mich durch diese quäle, wünsche ich ihm fast den Märtyrertod.

Im ersten Buch Mose gibt es viele gute Geschichten. Auch im Religionsunterricht werden Abraham, Isaak und Jakob wiedergekäut. Andererseits werfen die Schöpfungsgeschichte und die Fahrt der Arche Noah während der Sintflut chronologische, kapazitative, technische und intellektuelle Fragen auf. Ab dem zweiten Buch Mose herrscht eine fast größere Langeweile als in unserem Kochbuch. Man könnte auch sagen, dass das zweite bis fünfte Buch Mose in weiten Teilen ein Kochbuch sei. Allerdings hat Gott der Herr seine Rezepte für das Volk Israel verbindlich gemacht. Sie dürfen nicht anders kochen, als ihnen kraft göttlichem Ratschluss gesagt wurde. Hier setzen meine Zweifel an Jahwe unabhängig von Jens Daniel ein. Wie kann einem, der Gott ist, so etwas eingefallen sein? Hat er nicht zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden gewusst?

Meine Lieblingsgeschichten im Alten Testament finden sich in den Büchern der Könige und Chroniken. Die Könige des Volkes Israel steigen und fallen. Sobald die Großmächte in der Nachbarschaft auf das kleine Land aufmerksam werden, hat Israel sowieso keine Chance. Die bösen und semi-bösen Könige sind die interessanteren Charaktere. Die Königin Jezebel ist ein knackiges Weib. Sie alle verlieren den Krieg und ihr Leben, nur weil sie Gott einen Gefallen verweigert haben. Könnte Gott, wenn er allmächtig und allwissend sein sollte, nicht großmütiger sein und sich über die eigenen Empfindsamkeiten hinwegsetzen?

Meine Lieblingsgeschichten finde ich in Büchern, die es nur mit Not in die Bibel und das nur in einigen Exemplaren geschafft haben. Es handelt sich um die Apokryphen. Die Freiheitskämpferin Judith ersticht den gegnerischen Feldherrn in dessen Zelt, nachdem sie Dinge mit ihm getrieben hat, über die man im Grotebühl ungern offen spricht.

Die Makkabäer-Brüder sind die ersten Guerilleros der Weltgeschichte. Gegen eine übermächtige Militärmacht der griechischen Besatzer greifen sie an, wo der Feind sie am wenigsten erwartet. In den Herzen ihrer Mitbürger entzünden sie die Sehnsucht nach Freiheit. Nach vielen Heldentaten ziehen sie in Jerusalem ein. Ich laufe dreimal um den Misthaufen auf unserem Hof und schreie: „Hurra!“ Die im Aufstieg begriffene römische Weltmacht ist dabei, die hellenistischen Königreiche zu verschlingen. Sie gewährt dem Volk Israels ihren Schutz und beschränkt sich auf eine Indirect Rule. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, während ich Chaim Potok lese, nehme ich eine Neubewertung dieser Geschichten vor. Anders als Potok stelle ich mich gegen die Makkabäer auf die Seite der Griechen.

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