Ein Anti-Heimat-Roman

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Arnold, die linden Lüfte sind erwacht,

sie säuseln und weben Tag und Nacht,

sie schaffen an allen Enden.

O milder Duft,

o holder Klang,

mein armes Herze wird so bang,

wie soll das alles, alles enden?“

Ich stromere während des Reiterfestes durch das Festzelt. Das berühmteste Pferd der Gemeinde ist ein Schimmel. Es hat noch einmal das Springen gewonnen, obgleich man merkt, dass es älter geworden ist. An der Theke finde ich unseren Lehrer im vertrauten Gespräch mit dem Bürgermeister. Sie lachen und scherzen. Von dem misshandelten Jungen des Bürgermeisters reden sie nicht. Weiß der Bürgermeister nicht, was seinem Jungen täglich angetan wird? Oder ist es ihm gleichgültig?

Ich bleibe in den meisten Fällen von den Prügeleien meines Lehrers verschont. Ich kann meine Gedichte vortragen und bin im Vorlesen einer der besten. Meine privilegierte Stellung dürfte damit zu tun haben, dass der Lehrer mit meinem Onkel über Bienenzucht spricht. Nicht, dass es von dieser Regel keine Ausnahme gäbe. Der Lehrer fährt mir, ich weiß nicht warum, mit seinem Lineal ins Gesicht. Ich springe hoch und zittere vor Wut. Es fehlt wenig, und ich hätte zurückgeschlagen. Der Lehrer bohrt sein Gesicht in das meine. Er schreit: „Ja, schlage mich nur. Wage es, mich zu schlagen.“

Die Schule macht an Erntetagen dicht. Das bedarf keiner Frage. Aber auch dann, wenn die Erntezeit vorüber ist, zeigt der Lehrer Verständnis. Es muss nur ein Kind aufstehen, nach vorne gehen und sagen: „Ick mott vondaage helpen.“ Schon sagt der Lehrer: „Nun geh schon, Junge.“ Ein Junge nach dem anderen geht nach vorn und sagt: „Mein Foohder hätt secht, ich schutt vondaage helpen.“ ("Mein Vater ließ verlauten, dass er am heutigen Tage meiner Arbeitskraft bedarf.") Irgendwann schließen sich die Mädchen an. Der Lehrer schickt einen Schüler nach dem anderen mit einer Handbewegung aus dem Klassenzimmer. Der Lehrer und ich sind im Klassenraum zurückgeblieben. Ich fühle mich unter Handlungsdruck gesetzt. Ich gehe nach vorn und sage: „Mien Onkel hätt secht, ich schutt vondaage helpen.“ Der Lehrer schaut mich an und gönnt sich eine Pause. Dann sagt er: „Gerd, du wutt doch bloss diene Beuker läsen.“ Mein Onkel ist neuerdings Mitglied im Gemeinderat. Er wollte nicht und ließ sich doch breitschlagen. „Aber in eine Partei gehe ich nicht“, sagte er. Darauf besteht er.

Der Gemeinderat wird von Mitgliedern der Deutschen Partei beherrscht. Wir stünden der Deutschen Partei freundlicher gegenüber, wenn sie keine Partei wäre. „Wir sind Deutsche“, sagt meine Tante dazu. „Deswegen wählen wir die Deutsche Partei.“ Die Mitglieder der Deutschen Partei sehen sich als Hannoveraner. Deswegen grämen sie sich über die militärische Niederlage des Königreiches Hannover im Jahre 1866 gegen die preußische Armee. Von diesem Merkmal abgesehen unterscheidet sich die Deutsche Partei nicht von anderen Parteien, soweit sie in Grotebühl Stimmen bekommen.

Meine Tante hat sich zu mir ans Bett gesetzt. Dem Gemeinderat sei einiges zu Ohren gekommen, sagt sie. Sie geht behutsam vor. Sie weiß, wenn sie hundertmal mit mir ein Thema durchhechelt, werde ich ungeduldig und am Ende wütend sein. Ja, bestätige ich, wir haben in der Schule über Bienenzucht geredet. Und, und, fragt mein Onkel. Er hat sich mittlerweile zu uns gesellt und hebt sich dunkel vor der Wand ab. Wir haben durchgenommen, wie sich die Bienen und Blumen vermehren, sage ich. Und, fragen meine Tante und meine Onkel. Am Ende der Stunde hat der Lehrer gesagt, bei den Menschen ginge es genauso zu, sage ich. Mein Onkel und meine Tante nicken einander zu. Sie verlassen das Schlafzimmer. Bald wird unser Lehrer zur Strafe zweihundert Kilometer weg ins Weserbergland versetzt. Unser Gemeinderat ist bei den Kultusbehörden vorstellig geworden. Wir wollen keinen Schwienkroom im Unterricht.

Es dauert zwei Jahre, bis wir Neues von unserem früheren Lehrer erfahren. Er hat eine seiner Schülerinnen vergewaltigt. Oder er hatte ein Verhältnis mit ihr. Anschließend hat er sich aufgehängt, nicht weil er Untaten begangen hat, sondern weil sie entdeckt wurden. Die Bauern nicken einander auf dem Marktplatz von Grotebühl zu. „Über den Kerl wussten wir Bescheid, als er unseren Kindern das mit den Immen erzählte“, sagt einer zum anderen. Sie reden beinahe in hochdeutscher Sprache, weil es um Leben und Tod und sogar um Schwienkroom gegangen ist.

*

Ich laufe den Hauptpfad im Busk entlang, bis ich vor dem Hof der Brottmanns herauskomme. Die Flüchtlingsfrau, die dort seit dem Kriegsende einquartiert ist, hat sich auf einem Schaukelstuhl vor ihren Räumen gesetzt. Sie macht sich an heißeren Tagen so frei, dass wir Landpomeranzen immerzu hinschauen müssen. So macht sie sich und anderen Flüchtlingsfrauen vor, dass die norddeutsche Knüste eine Sommerfrische sei.

Während sie schaukelt und in den Wald hineinschaut, hat sie mich entdeckt. Sie winkt mir zu und strahlt mich bar jeder auf dem Lande üblichen Zurückhaltung an. Sie winkt mir, ich möge herüberkommen. Ich beäuge sie von weitem. Einmal hat sie mir ein Butterbrot aufgezwungen, das ich nach dem Motto "Watt de Buur nicht kennt, datt friätt hei nich" weder wollte noch mochte ("Was der Bauer nicht kennt, dass frisst er nicht.") In der Erinnerung daran würge ich. Andererseits ist sie die Hüterin von Schätzen.

Der Hof wird vom alten Brottmann und seinen zwei Söhnen bewirtschaftet. Seine Frau ist seit einigen Jahren tot. Die Flüchtlingsfrau kam mit einem kleinen Jungen, aber ohne Mann auf den Hof. Was immer aus ihm geworden sein mag, keiner mag es mir erzählen. Was soll das werden außer das, was es wird? Eines Abends kehrt der alte Brottmann mit einer Flasche Schnaps in die Gemächer der Flüchtlingsfrau ein. Neun Monate später entbindet die Flüchtlingsfrau einen weiteren Jungen. Ich warte darauf, dass die Kinder der Flüchtlingsfrau groß genug sind, um mit ihnen spielen zu können. Ich bin es leid, auf dem Brauk immerzu der Kleinste zu sein.

Als die Flüchtlingsmädchen heranwachsen, erweisen sie sich als nicht minder begehrenswert als die einheimischen Mädchen. Von ihnen ist Anja Rottmann die erste, die einen Hoferben abbekommt. Ihre bevorstehende Eheschließung ist für mehrere Wochen das Tagesgespräch in den Gemeinden am Großen Moor. Die Bäuerinnen gehen mit wissendem Lächeln durch das Zentrum von Grotebühl. Damit sagen sie: Gegenwärtig gehe ich nicht über Andeutungen hinaus. Aber was immer bei dieser Ehe herauskommen mag, ich werde es anschließend gewusst haben. Gerade weil Anja Rottmann die erste ist, die einen einheimischen Jungen mit vielen Feldern freit, möchte sie alles richtig machen. So arbeitet sie sich in wenigen Jahrzehnten tot. Als sie zu den anderen Angehörigen ihrer neuen Familie ins Grab gelegt wird, nicken die Bauern in den Gemeinden am Großen Moor einander zu. Sie sagen: „Arbeiten kutt se joo.“ So viel Anerkennung darf wenngleich nur im Nachhinein sein.

Ich habe mich entschlossen, der Flüchtlingsfrau auf den Brottmann´schen Hof entgegen zu gehen. „Wie geht es dir, Gerd?“ ruft sie mir zu. „Ganz gaut“, antworte ich. „Ob du mir einen Gefallen tust?“ fragt die Flüchtlingsfrau. „Dat glöwe ick doch“, sage ich.„Kannst du dieses Heft deiner Tante bringen?“ fragt sie. „Datt dau ick“, antworte ich. Ich halte einen weiteren Lore-Roman in meinen Händen. Die Flüchtlingsfrau hat seit einiger Zeit einen schwungvollen Tauschhandel mit Lore-Romanen zwischen den Höfen im Brauk in die Gänge gebracht. Bald weitet sich der Handel bis zum Dorfzentrum aus.

Solches darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Lesen von Lore-Romanen auf den Höfen am Großen Moor mit scheelen Augen gesehen wird. Ich erwische meine Tante, als sie am Tisch in der Futterküche sitzt und eine Seite nach der anderen in einem Lore-Roman umblättert. Als sie mich entdeckt, bekommt sie einen hochroten Kopf und legt das Heft an die Seite. Sie tut das, was sie sollte, und bereitet das Futter für die Schweine vor. "Du musst dich nicht genieren", sage ich. "Es gibt etwas anderes im Leben als arbeiten." Dazu sagt sie nichts.

Der Sohn des Hauses liest nicht mehr Die Forke auf dem Donnerbalken. Er liest Lore-Romane. Wenn er mit seinen Aktivitäten auf dem Plumpsklo zu Rande gekommen ist, muss er das Heft irgendwo hinlegen. Ich trotte hinter ihm drein und achte darauf, wo es abgelegt wird. Aber kaum habe ich mich mit meiner Lektüre in der Futterküche niedergelassen, da hat mir meine Tante das Heft weggenommen. Ich erobere mir den Lore-Roman zurück und gehe mit ihm in den Garten. Gerade habe ich zwei drei Seiten über wogende Dekolletees am französischen Hof von Ludwig XV. gelesen, da kommt meine Tante und nimmt mir das Heft abermals weg. Ich nehme einen Lore-Roman mit ins Bett und lese mit angeschalteter Taschenlampe unter der Bettdecke. „Junge, Junge, bolle kannsse bloos mitte Brillen kieken“, sagt meine Tante und nimmt mir das Heft weg.

Ich sitze auf dem Heuboden und werde gerufen. Oder ich habe mich im Kornfeld versteckt. Der Sohn des Hauses schickt den Hund nach mir aus. Er will auf den Donnerbalken und den Lore-Roman lesen. Der Hund schnüffelt kurz. Dann hat er mich gefunden. Er reibt sein schwarzes Fell gegen mich. Der Sohn des Hauses pfeift seinen Hund. Mein Hund macht sich widerwillig auf den Weg zurück. „Wo iss de Geerd?“ fragt der Sohn. „Vertell mie datt.“Der Hund schaut den Sohn des Hauses verständnislos an. So ein dummer Hund. Meine Tante wird besser im Verstecken von Romanen. Dafür werde ich besser im Finden.

Soweit traut man mir, dass ich weiter Träger von Lore-Romanen zwischen unseren Leuten und der Flüchtlingsfrau auf dem Brottmann´schen Hof verwendet werde. Für mich liegt es nahe, mit einem neuen Lore-Roman in den Busk zu gehen. Dort kann mich keiner aufspüren, so dass ich in Ruhe lesen kann. Meine Tante und der Sohn des Hauses fragen mich: „Hesse kein Heft for uus?“ Die Flüchtlingsfrau fragt mich: „Hast du kein Heft für mich?“ „Ne, hewwe ick nich“, antworte ich. Ich weiß, bald werde ich erwischt und womöglich bestraft. Aber bis dahin habe ich mehrere Lore-Romane gelesen.

 

Ich erkenne drei Gründe, warum das Lesen von Lore-Romanen auf den Höfen am Großen Moor kritisch gesehen wird. In der Forke und den Illustrierten stehen Fakten über die wirkliche Welt. Romane spielen in erfundenen Welten. Das kommt den Leuten unheimlich vor. Ihnen fällt bei längerem Nachdenken kein Grund dafür ein, wozu man etwas braucht, was sich ein Spinner ausgedacht hat. Zweitens geht es in den Lore-Romanen immer um Sex. Wer heute einen Lore-Romane durchblätterte, belustigte sich über ihre Harmlosigkeit. Das ist alles kodiert und ergeht sich in Andeutungen. Aber für die Leute von Grotebühl war alles sehr explizit. Sobald es um Schwienkroom wie diesen geht, sind kleine Kinder wie ich zu beschützen. Drittens werden Lore-Romane heftig abgelehnt, weil die Bürger von Grotebühl die Versuchung spüren. Wir wollen diesen Schweinkram nicht in unserem Haus haben. Hätten wir ihn jedoch, was wäre das schön.

Chefarzt Dr. Holt hat sich auf Frauenleiden spezialisiert. Er kuriert seine Patientinnen, indem er ihnen in die Augen sieht und sagt, dass alles gut wird. Maria ist Krankenschwester oder Sekretärin oder Stewardess. Sie lernt Chefarzt Dr. Holt kennen und lieben. In Stille trägt sie ihr großes Geheimnis vor sich her. Chefarzt Dr. Holt lernt Maria gleichfalls kennen und lieben. Es wäre nicht passend, hätte er sie bereits jetzt untersucht. Wir befinden uns im Lore-Roman auf Seite 17. Das ist zu früh für ein glückliches Ende. Maria muss angesichts ihres großen Herzens eine Blondine sein. Jetzt kommt eine bösartige Schwarzhaarige, nennen wir sie Franziska, ins Spiel. Diese müht sich, Chefarzt Dr. Holt zu verführen. Nach Irrungen und Wirrungen, die mich an den Verstand aller Protagonisten zweifeln lassen, segeln Chefarzt Dr. Holt und Maria in den Ehehafen.

Während die Lore-Romane die Phase der Partnerschaftsfindung bis zur Eheschließung behandeln, kümmern sich die Lesemappen um die Jahrzehnte danach. Diesen entnehme ich, dass das Hin und Her zwischen den Geschlechtern nie ein Ende findet. Warum machen die Lore-Romane einen derart künstlichen Schnitt? Denkbar wäre ein schlimmeres Verbrechen als Bücher zu lesen. Dieses bestünde darin, Bücher zu schreiben. Zum Glück kommen diese Untaten in Grotebühl und Umgebung nicht vor.

Erwachsene dürfen allenfalls Formulare ausfüllen. Das Schreiben von Briefen an entfernt lebende Verwandte ist gleichfalls erlaubt. Dieses muss in der folgenden Standardform geschehen:

Lieber Heinrich!

Wie geht es euch?

Uns geht es gut.

Herzliche Grüße

Euer Friedrich-Wilhelm.“

Von dieser Form darf in größerer Not abgewichen werden. Man darf jederzeit darauf verzichten, weitere Briefe zu schreiben. Das darf keinem Menschen übel genommen werden, wenn er sich mit unnützen Praktiken wie diesen nicht aufhalten will.

Als kleines Kind genieße ich Narrenfreiheit. Die Halbwüchsigen umringen mich und sagen: „Vertell uus eene Geschichten von´en Hexen im Busk.“ Ich weiß, sie wollen sich über mich lustig machen. Andererseits kann ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich erzähle ihnen eine Geschichte von den Hexen im Busk. „Mie hätt de Geschichte better gefoolen, wenn dien Hund de Hexen friäten hätt“, sagt Brottmanns Ältester. „Shutt mien Hund die friäten?“ frage ich. Dem sträuben sich bereits die Haare. „Bisse verrückt?“ fragt Brottmanns Ältester und macht sich vom Acker.

Ich stehe auf dem Schulhof, nachdem ich Dutzende von Gedichten auswendig gelernt habe. Dann lasse ich die Reime zu mir kommen. Ich teile sie meinen Mitschülern mit. Als die Große Pause zu Ende gegangen ist, laufen die Kinder zum Lehrer und sagen: „Der Gerd hat sich ein Gedicht ausgedacht.“ Der Lehrer sagt: „Komm nach vorn, Gerd, und sag dein Gedicht auf.“ Ich gehe nach vorn und sage: „Das Gedicht trägt den Titel "Humoristische Seenot"." Ich trage es vor. Leider ist mir nur ein Fragment aus der zweiten Strophe in Erinnerung geblieben:

Und alle denken:

Jetzt ist es gleich aus.

Da hört man plötzlich Schritte.

Es ist eine Maus.“

Der Lehrer sagt: „Setz dich hin, Gerd.“ Er biegt seinen Zeigestock und sagt: „Die linden Lüfte, Arnold.“ Wir wissen, was die Stunde für den Sohn des Bürgermeisters geschlagen hat.

Unsere Lehrerin steht vor ihrer entscheidenden Prüfung. Wir erfahren erst jetzt, dass sie einmal durchgefallen ist. Sollte ihr solches ein zweites Mal widerfahren, wird sie keine Beamtin auf Lebenszeit. Sie würde aus dem Schuldienst ausscheiden müssen.

Zur Prüfungsstunde sind zwei Schulräte erschienen. Sie setzen sich mit ernsten Gesichtern hinter uns auf eine Bank. Unsere Lehrerin sagt ein paar Worte und gibt das Wort an mich weiter. Kaum habe ich begonnen, gerate ich in eine andere Geschichte als die, die ich mit meiner Lehrerin vorbereitet habe. Mal schauen, wie diese zu Ende geht. Immerhin lasse ich die Hexen aus dem Busk außen vor. Die sind, glaube ich, für Schulräte wenig geeignet. Sie glauben nicht an Hexerei, nur an Politik.

Wenn man sich auf unseren Pattweg jenseits des Zaunes begeht und von dort aus nach rechts wendet, kommt man an unseren Augustapfelbaum. Die Augustäpfel heißen so, weil sie spätestens im August reif werden. Manche von ihnen werden im Juli reif. Dann fallen sie vielleicht vom Baum. Ein Apfel, der vom Baum gefallen ist, den darf ich essen. Jeden Nachmittag gehe ich zum Augustapfelbaum und schaue nach, ob ein Augustapfel heruntergefallen ist. Ich nehme den Apfel und setze mich mit ihm vor den Zaun. Aus der Futterküche habe ich ein Messer mitgebracht. Damit schneide ich möglichst dünne Scheiben, damit das Essen des Apfels länger währt. Bevor ich eine Apfelscheibe esse, schnitze ich mit dem Messer ein Bild in den Apfel, beispielsweise eine Rekonstruktion des Chinesischen Reiches oder Mond und Sterne stehen über dem Kirchspiel Grotebühl. Wenn ich mit dem Bild fertig bin, esse ich eine weitere Scheibe und gehe zum nächsten Bild über. Meine Leute arbeiten entfernt auf den Feldern. Ich mache meinen Spaziergang zum Augustapfelbaum. Diesmal ist kein Apfel vom Baum gefallen. Ich gehe noch einmal am Baum vorbei und rempele ihn versehentlich an. Nichts tut sich. Zuletzt verliere ich die Geduld und renne frontal gegen den Baum an. Zwei Äpfel lösen sich von den Zweigen und fallen auf die Erde. Ich nehme sie und setze mich vor den Zaun. Als ich beim zweiten Augustapfel angekommen bin, kehren meine Leute von den Feldern zurück. Als ich sie von weitem kommen sehe, schneide ich dickere Scheiben von meinem Apfel. Mein Onkel ruft mich. Das hätte ich mir denken können. Er hat die schärfsten Augen der Welt. Er stellt mich zur Rede, indem er mich fragt: „Watt hesse mit´n Appels doon?“ „De Hund hätt se friäten“, antworte ich.

Mein Onkel möchte mich fragen, ob ich eine noch dümmere Ausrede parat halte. Da schiebt sich mein Hund neben mich. Er räuspert sich. Dann sagt er aus tiefer Kehle: „Ick häwe die Appels friäten.“ Meine Leute beginnen zu lachen. Wenn sie gut gelaunt sind, verstehen sogar sie, was der Hund ihnen sagt. Wir sind eine große Familie.

Die beiden Schulräte hinter der Bank lachen auch. Ich habe sie gut unterhalten. Das ist mehr als die halbe Miete. Die Schulräte schicken die Kinder zum Spielen hinaus. „Sie müssen gleichfalls draußen warten, Fräulein Berenbrock“, sagt einer von ihnen. Allerdings soll ich im Klassenraum bleiben. Der eine Schulrat fragt mich, ob ich meine Geschichte von Fräulein Berenbrock habe. Nein, antworte ich, das sei meine Geschichte. „Und“, fragt der andere Schulrat, „hat sich alles so abgespielt, wie du uns erzählt hast?“ „So etwas dürfen Sie einen Autoren nicht fragen“, antworte ich. Ich darf nach draußen und spielen. Unsere Lehrerin wird Beamtin auf Lebenszeit. Das ist gut für sie und schlecht für uns Kinder.

4. Kapitel
1957 und vorher
Nazis und Juden (1)

 In den 70er und 80er Jahren wird die Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ungemein wichtig. Zuvor hatten wir alles totgeschwiegen. Jetzt sind wir wie besessen, sobald es um unsere Schande geht.

Warum widerfährt uns dieses? Die vormalige Opposition hat das Gedenken an den Holocaust zur schärfsten Waffe im innenpolitischen Streit geschmiedet. Die Leute, die sich mit den Nazis eingelassen haben, sind im Aussterben begriffen. So wird die Front jener, denen an einer informellen Verschwörung des Schweigens gelegen sein muss, schwächer. Menschen, die in diesen Jahrzehnten heranwachsen, können sich nicht vorstellen, dass die Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik Deutschland keine Rolle gespielt hat. Ich bin im Zweiten Weltkrieg geboren. Demnach müsste ich Bescheid wissen. Aber während ich älter werde, höre ich, von Ausnahmen abgesehen, nichts über die Nazis und schon gar nichts über Juden. Kaum weiß ich, dass es beide Gruppen gegeben hat.

Das ändert sich, als ich merke, dass eine öffentliche Debatte um Nazis und Juden getrieben von einem Medium allmählich heranreift. Das wird mir mit der Ausgabe 31 des Jahrgangs 1957 des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL ein erstes Mal klar. Auf dem Titel befindet sich der französische Ministerpräsident Felix Houphouet-Boigny. Sie müssen sich diesen Namen nicht merken. In der vierten französischen Republik wurden die Ministerpräsidenten alle drei Stunden abgelöst.

In Grotebühl wissen wir wenig davon, dass das britische Militär unsere Regierung stellt. Folglich meinen wir, wir könnten wie bisher weitermachen. Tatsächlich übt die Militärregierung einen nachhaltigen Einfluss auf die Geschichte der späteren Bundesrepublik Deutschland aus, unter anderem bei den Medien. Das werden wir, die wir auf den Dörfern wohnen, erst in den kommenden Jahren gewahr.

Auf den Straßen des Königreiches Hannover wandert ein Landser. Jens Daniel sucht einen britischen Besatzungsoffizier auf. Er hat sich das amerikanische Nachrichtenmagazin TIME angesehen und will es kopieren. Der britische Militäroffizier lässt sich überzeugen und sagt: „Dann machen Sie mal.“ Der Gründer des SPIEGELs hat das Nachrichtenmagazin TIME missverstanden. In den Vereinigten Staaten liest kaum jemand eine Zeitung. TIME liefert den Amerikanern einen Readers-Digest-Überblick über die aktuellen Entwicklungen zu Hause und in der Welt. Letzteres ist nötig geworden, weil die Amerikaner den Kalten Krieg gewinnen wollen und sich fast überall eine neue Front aufgetan hat. Jede Story ist superkurz und mit einer Prise Patriotismus gewürzt. Mittlerweile sind wir alle Anhänger des Amerikanischen Traums. Jahrzehnte später frage ich mich, ob ich Amerikaner geworden oder Deutscher geblieben bin. Zur Jahrtausendwende bin ich ein Pidgin-Amerikaner mit einem 50-jährigen Abonnement von TIME.

Wenn Jens Daniel einen Kommentar für den SPIEGEL zu schreiben beginnt, hört er nie auf. Kommt er dennoch ans Ende, ist er sein einziger Leser geblieben. Nein, ich bin sein zweiter. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ein dritter seine Serien liest. Ich schaue mir ein Bild von Jens Daniel an. Er ist ein schmächtiges Kerlchen. Wenn sein schriftliches Wort wie Donner hernieder fährt, meint man, dass er den Krach, den er schlägt, nötig hat, weil er als Individuum Kompensationen benötigt. Jens Daniel weist nach, dass eine unabhängige, faktengesättigte und oppositionelle Berichterstattung in der jungen Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist, indem er sie macht. An der mangelnden Faktenorientierung und dem fehlenden argumentativen Niveau aller Parteien mag die Weimarer Republik zugrunde gegangen sein.

Mein Vater sieht einen in der ersten Nachkriegszeit führenden Gewerkschaftssekretär auf seiner Zeche sehr kritisch. Angeblich zog dieser in den 20er Jahren an jedem Freitag die SA-Uniform an. Am Samstag trug er die Uniform der Kommunistischen Partei Deutschlands. Einmal prügelte er sich mit der einen Seite, dann mit der anderen. Eine Wirklichkeit wie diese konnte in der Presselandschaft der Weimarer Republik nicht dargestellt werden. Noch wäre möglich gewesen, dass eine sozialdemokratische Zeitung einen Funktionär der Kommunistischen Partei Deutschlands interviewte. Stattdessen schlugen sich die bei den Parteien angestellten Schreiberlinge nur für Insider verständliche Leitartikel um die Ohren.

 

In den 50er Jahren bin ich begeisterter Zeitungsleser geblieben. Im Vergleich zur Forke haben die Zeitungen im Ruhrgebiet das bessere Layout. Nach wie vor befinden wir uns im Zeitalter der Weltanschauungszeitungen, so dass keine politische Seite mit der anderen spricht. Schreiber und Leser hausen in voneinander abgeschotteten Lagern. Sie mögen auf der siebenten Sohle zusammenarbeiten, aber in politischen Gesprächen ziehen sie nur übereinander her.

Die Briten würden meinen Vater einen Conservative Worker nennen. Er kann nicht anders, weil er seine Kindheit in Grotebühl verbracht hat. Nach wie vor erfüllt ihn das Geschrei der Betriebsräte mit Unbehagen. Warum arbeiten diese Leute nicht statt zu agitieren? „Sie wollen immer nur mehr“, sagt mein Vater. „Sie wissen nicht, dass erst erarbeitet werden muss, was später verteilt wird.“ Habe ich mir diese Sentenz nicht vor wenigen Tagen aus den Revier Berichten gemerkt?

Glücklicherweise stellt sich die Frage in unserem Haushalt nicht, ob wir eine Zeitung abonnieren wollen. Mein Vater hat sich für die Revier Berichte entschieden. Das ist das Verlautbarungsorgan der Katholischen Arbeiterbewegung. Diese bejubelt die Bundesregierung täglich, weil die Katholische Arbeiterbewegung den Bundeskanzler stellt. Die Revier Berichte haben die Kunstform der Karikatur aus der Welt der angelsächsischen Zeitungen übernommen und auf die deutschen Verhältnisse angepasst. In fast jeder Karikatur tritt Bundeskanzler Konrad Adenauer auf. Er ist hochgewachsen, agiert souverän und zeigt ein spitzbübisches Lächeln. Mit Adenauer kommt Oppositionsführer Erich Ollenhauer ins Bild. Er ist klein, rund, trägt Locken sowie eine krumme Nase. Viel später stellt sich mir die Frage, ob Ollenhauer ein Jude gewesen und als solcher dargestellt worden ist. Je nach Anlass tritt Adenauer Ollenhauer in den Hintern. Oder er nimmt ihn in den Schwitzkasten. Oder er sperrt ihn in eine Kiste. Das finden wir Leser der Revier Berichte lustig.

Der Ückendorfer Anzeiger ist leider nicht besser. Hier werden die Verlautbarungen der Oppositionspartei abgedruckt, wie sie die Baracke des Parteivorstandes in Bonn herausgibt. Keiner der Geisterschreiber in der Baracke war jemals im Ruhrgebiet. Da kann es nicht ausbleiben, dass sich kein Kommentar mit den besonderen Verhältnissen im Ruhrgebiet befasst. Das ist auch nicht nötig, solange wichtigere Aufgaben wie die Erhaltung des Weltfriedens und der Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik zu bewältigen sind.

1955 lernen die Bilder das Laufen, auch wenn sich keiner ein Fernsehgerät leisten kann. Meine Stiefmutter bedrängt meinen Vater, einen Fernsehapparat zu kaufen. Sie verzichtet dafür auf die Hälfte ihres Haushaltsgeldes. Als der Fernseher gekauft ist, wird das Haushaltsgeld auf ihr Betreiben auf den Stand von früher gesetzt. Das Fernsehen schwankt zwischen der Hofberichterstattung der Tagesschau und dem Geschwätz des Internationalen Frühschoppens mit fünf Journalisten aus sechs Ländern. Wenn seine Gäste drohen, substanziell zu werden, fährt Werner Höfer mit den Worten dazwischen: "Glauben Sie auch, dass die Deutschen geliebt werden wollen?"

Im Gegensatz dazu bereiten sich die Redakteure des SPIEGELs auf ihre Gespräche mit Interviewpartnern intellektuell vor. Sie zerzausen die Argumente ihres Gesprächspartners, bis nichts von ihnen übrig geblieben ist. Sie finden sogar eigene Argumentationsmöglichkeiten. Am Ende bittet der Gesprächspartner die Redakteure, von ihnen erschossen zu werden. Die SPIEGEL-Redakteure sagen stattdessen: „Herr Freiherr von Gummersbach, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.“

Im September 1957 steht die dritte Bundestagswahl an. Eine Woche zuvor kommt der SPIEGEL mit einer Titelgeschichte über Bundeskanzler Adenauer heraus. Sein Gesicht ähnelt einer Totenmaske. Das signalisiert, dass der Bundeskanzler in den Stand der Demenz eingetreten ist. In der Geschichte dazu wird die Politik der Bundesregierung zu medizinischen Gutachten über die geistige Gesundheit des Kanzlers in Beziehung gesetzt. Offensichtlich ist ein Ausverkauf der Interessen Deutschlands an den Westen und die Verhinderung der Wiedervereinigung möglich geworden, weil der Kanzler geistig abgebaut hat. So frech müsste man sein dürfen, denke ich, während man sich im eigenen Leben durchzuschlagen hat, und damit durchkommen. 1957 gewinnen Konrad Adenauer und seine Partei die absolute Mehrheit im Bundestag. Das wird vor ihm und nach ihm kein Kanzlerkandidat schaffen. .

Mein Vater kommentiert alle aktuellen Entwicklungen mit einer Mantra, die er gleichfalls aus den Revier Berichten übernommen hat. Er sagt: „Uns ist es niemals so gut gegangen.“ Ich gebe zu, dass diese Behauptung nicht ohne einen Realitätsgehalt ist. So hat mein Vater einen Kühlschrank im Schaufenster gesehen und sich gefragt, ob er ihn nicht anschaffen soll.

Ich lese über mehrere Jahrzehnte jede Zeile des SPIEGELs. Es sind letztlich nicht die Frechheit noch die Arroganz noch das Besserwissertum des SPIEGEL, die mich süchtig machen. Es ist die Unterstellung des SPIEGELs, dass Politik auf den Austausch von Argumenten beruhen möge und wir an dem Austausch dieser Argumente zu beteiligen sind. Ich beginne die Aufklärung zu lieben, bevor ich gehört habe, dass es sie gegeben hat. 1957ff. lerne ich lediglich einen ungebärdigen die eigenen Argumente zu sehr liebenden Sohn der Aufklärung kennen. Weitere Jahrzehnte später beginne ich, die Löcher in SPIEGEL-Geschichten zu sehen. Mittlerweile hat der SPIEGEL viele Kinder gezeugt. Keine Publikation hat auf die deutsche Medienlandschaft stärker Einfluss genommen, die Bild-Zeitung ausgenommen. Viele Journalisten schlugen früher die Hacken zusammen, sobald ein Würdenträger Weihrauch zum Aftershave nahm. Jetzt sind sie so frech wie der SPIEGEL, auch wenn ihnen die Kompetenz zum Stellen intelligenter Fragen fehlt.

Über Jahrzehnte fährt das Sturmgeschütz der Demokratie von Ausgabe zu Ausgabe die eine Kampagne. Die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg werden aufgerollt. Man kann diese Gräueltaten nicht ungeschehen machen. Aber man will den Tätern und jenen, die geschwiegen haben, sagen, was sie getan oder nicht verhindert haben. Ich wundere mich, wie so viele Monstrositäten in so wenigen Jahren vollbracht worden sind. Andererseits scheint alles mit Fakten und Bildern belegt.

Nach mehreren SPIEGEL-Jahrgängen komme ich auf die Idee, dass diese Geschichten mich persönlich angehen könnten. Ich gehe zu meinem Vater und frage: „Hey, alter Herr, wie war das mit den Juden?“

*

Ich habe mit meinem Vater nie über Themen wie dieses gesprochen. Jetzt habe ich ihn auf den falschen Fuß erwischt. Er überlegt. Dann sagt er: „Das ist nicht richtig, was sie mit den Juden gemacht haben. Aber die Juden haben selbst viel Schuld.“ Nachdem sich mein Vater auf einen Standpunkt festgelegt hat, kommt er davon nicht herunter. Allenfalls mag er sich zusätzliche Begründungen ausdenken, die seine Position zu stützen in der Lage sind.

Ich halte meinem Vater zugute, dass er kein SPIEGEL-Leser ist. Auch bin ich an Argumenten jedweder Art interessiert, selbst wenn sie nazivergiftet sein sollten. Eine der Darlegungen meines Vaters ist mir in Erinnerung geblieben. In den Gemeinden am Großen Moor gab es nie eine Goldene Zeit für die Landwirtschaft. Wenn es bestmöglich lief, wurde das Leben zu Arbeit und Mühe. Spätestens mit 70 war man kaputt.

Wenn es weniger gut läuft, sind die Höfe beim Juden verschuldet. Während die Sonne auf die Stoppeln brennt, arbeiten die Menschen auf Höfen und Feldern. Sie verstehen die finanziellen Zusammenhänge nicht und fürchten, ihren Hof bald verlassen zu müssen. Von weitem schiebt sich der Jude im Kaftan an die Höfe. Während er an die Menschen auf den Höfen und Feldern vorbeigeht, grüßt keiner den anderen. Der Jude geht in den Stall und bindet die beste Kuh los. Er zieht mit ihr von dannen. Das ist für die Zinsen. Während sich der Jude auf den Rückmarsch macht, kommt er an den Menschen auf den Feldern und Höfen vorbei. Sie schauen sich an und hassen einander.