Floria Tochter der Diva

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Floria Tochter der Diva
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Floria

Tochter der Diva

Ursula Tintelnot

Impressum

Texte: ©Ursula Tintelnot

Umschlagfoto: ©Martin Langos

Umschlaggestaltung: ©Medusa Mabuse

Satz/Layout: ©Medusa Mabuse

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Über die Autorin und weitere Werke

Kapitel 1
Ein Albtraum

Nachdem Floria über dem Leichnam ihres Geliebten, Mario Cavaradossi, zusammengesunken war, klatschten die Zuhörer frenetisch. Cavaradossi lag in seinem Bühnenblut vor einer gemauerten Brüstung, über die sich Floria als Tosca in den Tod stürzen sollte. Aber die Sopranistin wusste, dass ihr die Kraft fehlte, zu tun, was Puccinis Oper von ihr verlangte. Diesmal würde Tosca sich nicht aus Kummer über den Tod des Malers von der Mauer der Engelsburg stürzen. Diesmal musste man sie von der Bühne der Metropolitan Opera tragen. Ihre Stimme hatte sie verlassen. Noch nie hatte dieses präzise arbeitende Instrument sie im Stich gelassen.

Nur langsam begriff das Publikum, was gerade geschehen war. Gemurmel erhob sich, das sofort wieder verstummte, als der General Manager auf die Bühne trat.

»Es tut mir leid, ich muss Ihnen mitteilen, dass Floria Mura …, dass unsere Sopranistin erkrankt ist. Ein momentaner Ausfall der Stimme. Dieses lebendige Musikinstrument ist diffizil und lässt sich nicht stimmen wie die Saite einer Violine. Wir wünschen Madame Mura eine schnelle Genesung.«

Jetzt senkte sich der schwere Vorhang langsam. Die Lichter im Saal gingen an.

Floria lag auf einer abgewetzten Couch in ihrer Garderobe. Ihr dichtes blondes Haar hatte sich gelöst. Der Theaterarzt war bei ihr. Ängstlich sah sie zu ihm auf. »Werde ich wieder singen können?«

Ausgerechnet in einer ihrer Paraderollen hatte sie versagt. Der Albtraum einer jeden Sängerin war Wirklichkeit geworden. Wenigstens hatte sie bis zum Ende des letzten Aktes durchgehalten. Ein schwacher Trost.

Sie versuchte sich aufzusetzen.

»Bleiben Sie noch ein wenig liegen.« Der Arzt drückte sie sanft auf die Kissen zurück. »Sie müssen sich jetzt schonen, keine Aufregungen.«

Floria lächelte matt.

Sie sollte sich nicht aufregen? Musik war ihr Leben. Singen brauchte sie wie die Luft zum Atmen.

Die Diagnose ihres Spezialisten war niederschmetternd gewesen.

»Sagen Sie mir, was Sie bedrückt.« Ihr Arzt sah sie an. John war nicht nur ihr Arzt, sondern auch ein verschwiegener Freund.

»Sie wissen, Floria, auch Ihre seelische Verfassung kann Ihre Stimme angreifen.« Sie wusste, worauf er anspielte.

Christof Corman, ein junger Komponist, war wenige Tage zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Kurz nach der Vollendung einiger Konzertarien, die er ihr auf den Leib geschrieben hatte.

Sie hatten sich bei einer Operngala kennengelernt. Es hatte buchstäblich auf den ersten Blick zwischen ihnen gefunkt. Sie war seine Geliebte geworden. Ein dreiviertel Jahr später war er tot. Und sie bekam einen Tag nach dem Absturz ein Paket, mit den für sie komponierten Arien. Der Brief an sie begann mit den Worten: Deine Stimme in meinem Herzen …

Sie hatte sich zusammengerissen, war trotzdem auf die Bühne gegangen, mit dem Erfolg, dass sie zusammenbrach und ihre Stimme versagte. Vor drei Tagen noch hatte sie seinen lebendigen Körper an ihrem gespürt. Sie hatten kein Geheimnis aus ihrer Liebe gemacht. ‚Nie wieder’, war ein furchtbarer Gedanke.

Floria weinte nicht, als sie den Arzt anblickte. Er hatte ihr, ohne sie zu unterbrechen, zugehört.

»Sie sollten Ihren Kummer nicht unterdrücken, nicht gegen Ihre Trauer angehen. Solange Sie das tun, Floria, werden Ihre Wunden nicht heilen.«

Jetzt sah sie New York unter einer Dunstglocke verschwinden. Ein langer Flug lag vor ihr. Sie nahm nur ungern Abschied von dieser aufregenden Stadt, aber Aufregung jeglicher Art hatte man ihr verboten.

»Wenn Sie wieder singen wollen, nehmen Sie eine Auszeit.« Johns Aussage war eindeutig gewesen. Floria hatte schweren Herzens sämtliche Termine für die nächsten Monate abgesagt. Sie drückte Christofs Partitur an sich, als handelte es sich um ihn selbst, aber weinen konnte sie nicht.

Oktober

Das Wetter passte zu ihrer Stimmung. Floria hatte, obwohl es in ihrem Jeep ausreichend warm war, einen dicken Schal mehrfach um den Hals geschlungen. Auf den stoppeligen Feldern lag Nebel, in dem Gruppen von hochbeinigen Vögeln zu schweben schienen. Die Kraniche sammelten sich um diese Zeit. Wie oft hatte sie als kleines Mädchen, mit ihrer Großmutter zusammen, diese eleganten grau-weiß gefiederten Vögel beobachtet. Die kleinste Bewegung vertrieb die scheuen Tiere. Wenn sie auf den Äckern durch die tiefen Furchen stapfte, die breite Reifen riesiger Traktoren hinterlassen hatten, hielt die fette feuchte Erde ihre Stiefel fest. Florias dünne Beinchen hatten in dicken, mindestens eine Nummer zu großen Gummistiefeln gesteckt.

»Da wächst du noch rein, Flo. Zieh zwei Socken übereinander an.«

Und mehr als einmal stand sie, ohne Stiefel auf dicken Socken, mitten im Schlamm. Ihre Großmutter hatte nur gelacht.

Du hattest Recht, ich bin hineingewachsen, Emma, dachte sie.

Floria fuhr schneller. Es gefiel ihr nicht, in der schnell einfallenden Dunkelheit Auto zu fahren. Sie war es nicht mehr gewöhnt, selbst am Steuer zu sitzen. In den Zentren dieser Welt, in denen sie sich normalerweise aufhielt, ließ sie sich chauffieren. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, in Mailand, Wien oder New York selbst zu ihren Auftritten zu fahren.

Sie sah auf die Uhr. Noch nicht mal fünf und es war stockdunkel. Die Scheiben beschlugen von innen. Ein sanfter Regen hatte eingesetzt. Sie kannte sich mit dem Auto nicht aus und tastete vergeblich nach dem Hebel für den Scheibenwischer. Floria stöhnte auf. Bitte nicht!

Sie hielt am Wegrand. Der Motor soff ab. Nur noch ein Paar Kilometer zum Haus ihrer Großmutter und sie hätte es geschafft.

Sie erschrak, als sie das Klopfen hörte.

Eine dunkle Gestalt, eingehüllt in eine schwarze Regenjacke, stand neben ihrem Wagen.

»Wenn Sie noch ein bisschen näher an den Rand gefahren wären, hätten Sie mich zerquetscht.«

Floria konnte sein Gesicht nicht erkennen. Das Licht im Wagen beleuchtete sie, nahm ihr aber die Sicht nach draußen.

Sie öffnete das Seitenfenster einen Spalt breit. »Tut mir leid«, stammelte sie, »ich kann nichts sehen.«

»Das empfiehlt sich aber beim Autofahren.«

»Ich finde den Schalter für die Wischer nicht.«

»Du meine Güte! Sie fahren blind mit einem Auto, das Sie nicht einmal kennen?« Er stand plötzlich auf der Fahrerseite neben ihr.

»Wo müssen Sie hin?«

»Zur Deichstraße, hier ganz in der Nähe.«

»Kenne ich, rücken Sie mal.«

Als er ihr Zögern wahrnahm, sagte er: »Ein Auto besitze ich selbst und an Frauen bin ich nicht interessiert.«

Floria hievte sich auf den Beifahrersitz.

Die Kapuze noch immer tief ins Gesicht gezogen, stieg er ein. Er startete und fand auf Anhieb den Hebel für den Scheibenwischer.

Wenn dieser Mann ein Straßenräuber wäre, dann wenigsten einer mit einer angenehmen Stimme.

Floria lehnte sich nach vorne. Aber außer einem Kinn mit Dreitagebart konnte sie von ihrem Chauffeur nichts erkennen.

»Wo genau?«

Sehr gesprächig war er nicht.

»Deichstraße 17.« Sie passte sich seiner kargen Sprache an.

»Zu Emma?«

»Kennen Sie Emma?«

»Ja.«

Konnte er nicht einmal mit einem ganzen Satz antworten?

»Wir sind Nachbarn.«

Floria gab auf.

Er fuhr den Jeep in einer eleganten Kurve in den Hof ihrer Großmutter hinein, sprang aus dem Auto und verschwand in der Dunkelheit, ohne sich zu verabschieden. Floria hörte noch ein »Gruß an Emma«.

Was für ein Rüpel, aber dieser Rüpel hatte ihr geholfen. »Danke«, rief sie hinter ihm her und kam sich ziemlich lächerlich vor, als er nichts erwiderte.

Emma

Emmas Haus, ein zweistöckiges Gebäude, lag direkt am Kanal. Nur die weißgestrichenen Balken der Front schimmerten, die dunkelroten Ziegelsteine versanken in der Nacht. Charmant und ein bisschen heruntergekommen lag das Haus, in dem sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte, vor ihr. Die Tür öffnete sich. Im Schein der Außenbeleuchtung stand ihre Großmutter.

Sie war kleiner, als sie die alte Dame in Erinnerung hatte.

 

»Emma!« Floria stürzte auf sie zu.

»Vorsicht, Kind, du wirfst mich ja um.«

Sie hielt ihre Großmutter im Arm. Wie alt sie geworden ist, dachte sie mit Schrecken.

Im Haus roch es nach Lavendel. Sein Duft hatte ihre Kindheit begleitet. Die Schränke, Schubladen, das ganze Haus war erfüllt von

seinem überwältigenden Wohlgeruch. Getrocknet hing er an den Deckenbalken der Zimmer, lag, eingenäht in kleine Säckchen, zwischen Stapeln von Tisch und Bettwäsche.

Gegen Ungeziefer, hatte Emma ihr erklärt. Aber Emma hatte ihres Wissens noch nie etwas gegen Ungeziefer unternommen. Sorgsam pflückte sie Spinnen aus den Ecken, wenn sie überhand nahmen. Meist allerdings ließ sie Netze und Spinnen hängen, gegen Mücken, wie sie sagte. Kakerlaken im Keller überließ sie den Mäusen. Nur mit den Nacktschnecken kannte sie kein Erbarmen. Sie ertränkte sie in Dosen voller Bier oder zerschnitt sie schonungslos, wenn sie eine Gartenschere zur Hand hatte. Und ohne Gartenschere war Emma eigentlich nur im Bett anzutreffen.

»Ach, Emma …« Jetzt begann Floria doch zu weinen.

Sie hatte nicht geweint in Rom, wohin sie sich nach der niederschmetternden Diagnose geflüchtet hatte. Von ihrer Mutter, Diane, bekam sie keinen Trost.

»Damit muss man rechnen, wenn man sich übernimmt. Ich sage meinen Schülern immer …« Diane war eine berühmte Sängerin gewesen. Eine Diva. Schon bevor sie für die Sopranrollen der Oper zu alt geworden war, hatte sie begonnen junge Sängerinnen und Sänger auszubilden.

Floria kannte auswendig, was ihre Mutter predigte: »Achte auf deine Stimme, übernimm nicht zu früh Rollen, die dich überfordern.«

Ja, sie hatte recht, aber trösten konnte Diane sie nicht. Das hatte sie nie gekonnt. Ihre Mutter hatte sie in die Welt gesetzt und nichts mit einer Tochter anfangen können, die ihr zu ähnlich war.

Liebevoll nahm Emma ihre Enkeltochter am Arm. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihr den Schal abzunehmen. Floria zog ihre Jacke aus und betrat die Küche. Erleichtert ließ sie sich auf das Sofa fallen. Es war Floria nie merkwürdig vorgekommen, dass in Emmas Küche ein Sofa stand. Hier hatte sie ihrer Großmutter von ihren Kümmernissen erzählt, sich verarzten lassen, wenn sie sich verletzt hatte. Hier hatte sie mit Emma gespielt und gemalt. Und gesungen! Sie musste lachen, als sie an Emmas Bemühungen dachte, ihr Kinderlieder beizubringen.

Emma konnte keinen Ton halten, nicht einmal Hänschen klein konnte sie singen.

»Was ist?« Emma brachte eine Kanne an den Tisch und goss Floria eine Tasse Tee ein.

Sie dachte ‚Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt’. Dieser Vers aus Goethes ‚Egmont’, passte auch auf ihre Enkeltochter. So war Flo immer gewesen.

»Ich musste daran denken, wie du mir Kinderlieder vorgesungen hast, Emma. Erinnerst du dich?«

»Natürlich. Ich erinnere mich aber vor allem daran, dass meine despektierliche Enkelin sich vor Lachen gekugelt hat, weil ich keinen Ton halten konnte.«

Sie stellte eine Schale mit Keksen neben Florias Tasse und ließ sich neben ihr nieder.

»Du hast gebacken.«

Emma backte immer um diese Zeit schon die ersten Weihnachtskekse. Es überfiel sie wie ein Rausch. Es juckte sie in den Fingern endlich wieder Tannenbäume, Monde und Sterne auszustechen. Floria hatte ihr dabei geholfen, allerdings mehr von dem köstlichen Teig genascht als verarbeitet. Zum ersten Mal seit Jahren aß sie die Kekse wieder zu Hause. Emma hatte ihr das Gebäck dorthin geschickt, wo sie an den Festtagen auftrat. Egal, wo sie sich aufhielt, Mailand, New York oder Dresden.

»Magst du reden, Flo?«

»Nein, Emma, ich habe genug mit meiner Mutter geredet. Lass mich erst mal bei dir ankommen.«

»Wie du willst, meine Kleine. Aber vielleicht erzählst du mir, wer bei dir im Auto saß?«

»Woher weißt du?«

»Mein Gehör ist noch ganz gut, ich habe zwei Türen gehört.«

»Ich hatte eine merkwürdige Begegnung.«

Floria erzählte ihrer Großmutter von dem unrasierten Unbekannten mit der schönen Stimme.

»Er kannte dich, ich soll dich grüßen. Weißt du, wer das gewesen sein könnte?«

»Hier kennt jeder jeden Flo, das weißt du doch.« Sie schenkte noch einmal Tee nach.

»Wie du ihn geschildert hast, könnte es Julian gewesen sein, wortkarg ist er manchmal. Aber hier im Norden redet niemand mehr, als er muss. Wenn einer zweimal ‘Moin’ sagt, gilt er als geschwätzig.«

Sie nahm Florias Hand. »Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Ich bin glücklich, wenn du hier bist.«

»Ich hab dich lieb, Emma.«

»Ich weiß.«

Als Floria in ihrem Bett lag, wie früher unter rotweiß karierten Bezügen, dachte sie an die elegante Kühle, mit der sich ihre Mutter umgab.

Oft hatte sie sich gefragt, wie ihre Mutter es schaffte, die Menschen zu berühren. Auf der Bühne wurde sie eine Andere. Eine Sängerin, die mit ihrer silbernen Stimme Gefühle auszudrücken und auszulösen vermochte wie niemals im wirklichen Leben. Sie wirkte kühl und diszipliniert. Dianes Distanz ihrer Tochter gegenüber kam einer Zurückweisung gleich.

Floria konnte sich nicht vorstellen, wie ihre warmherzige, liebevolle Großmutter zu solch einer Tochter kommen konnte. Was war mit diesen unterschiedlichen Frauen geschehen?

Am Morgen weckten sie vertraute Geräusche. Die Schütte im Herd, als Emma die Glut rüttelte, um das Feuer neu zu entfachen. Das Klopfen an der Haustür, als der Lehrling des Bäckers Brötchen und Zeitung brachte. Als sie das Pfeifen des Wasserkessels hörte, stand sie auf und tastete mit den Zehen nach ihren Hausschuhen.

Emma, du hast dir noch immer keinen elektrischen Wasserkocher zugelegt. Du bist eine Frau, die es nie eilig hat, dachte sie.

Emma ruhte in sich. Sie kannte keinen Stress. Beneidenswert.

Seit sie auf der Bühne der Met zusammengebrochen war, hatte Floria nicht mehr so gut geschlafen wie in dieser ersten Nacht in Emmas Haus. Aber mit dem Erwachen kam auch die Erinnerung wieder. Sie sah hinaus in den grauen Himmel. Nebel hüllte die Landschaft ein. Sie konnte durch den Torbogen kaum bis zu der Schotterstraße sehen, die den Hof vom Kanal trennte. Ein zartes Spinnennetz zog sich fast über die ganze Fensterscheibe.

Floria stieg die hölzernen Stufen der Treppe hinab. Sie registrierte das Knarren der drittletzten Stufe, die sie meiden musste, wenn sie sich nachts in die Küche schlich, um einen plötzlichen Heißhunger zu stillen.

Jetzt lockte der Duft von starkem Kaffee.

Emma sah hoch, als Floria eintrat. »Hast du gut geschlafen?«

»So gut wie lange nicht mehr.«

Sie küsste Emma, setzte sich ihr gegenüber und griff nach der Kaffeekanne.

»Immer noch zuerst einen Kaffee?«

Emma faltete die Zeitung zusammen und legte sie zur Seite. Sie schob den Korb mit den Brötchen näher zu ihrer Enkelin.

Floria nickte. »Ja, zuerst Kaffee, daran hat sich nichts geändert.«

Meine Enkelin, dachte Emma, ist dünn geworden. Seit sie nach dem Abitur ihre Gesangsausbildung begonnen hatte, hatten sie sich selten gesehen. Gegen Dianes Willen und mit Emmas Geld hatte Floria einen schwierigen Weg eingeschlagen. Sie war Sängerin geworden.

Diane hatte mit allen Mitteln versucht, Floria diesen Berufswunsch auszureden. Sie hatte mit ihrer Tochter nie darüber gesprochen, aber Emma war sicher, dass Diane eifersüchtig auf ihre schöne Tochter war.

Ihre Enkelin war bei ihr aufgewachsen, nicht bei ihrer Mutter, die mit ihrer Karriere beschäftigt war. Dieses späte Kind, mit Sicherheit kein Wunschkind, machte sie älter. Als Diane feststellte, dass Floria sich zu einer sehr aparten jungen Frau entwickelte, verbot sie Flo, Mamá zu ihr zu sagen. Die wenigen Begegnungen zwischen Mutter und Tochter verliefen, je älter Floria wurde, zunehmend unerfreulich. Am Ende hatte ihre Enkelin sich geweigert, Diane in Rom zu besuchen, was ihre Mutter eher erleichtert zur Kenntnis nahm.

»Woran denkst du, Emma?«

Die Eingangstür quietschte. Eilige Schritte enthoben Emma einer Antwort.

»Emma, bist du da?«

Die Tür zur Küche öffnete sich einen Spalt breit. Ein kleines Gesichtchen erschien.

»Wo sollte ich sonst sein, Katja?«

Floria wandte den Kopf zur Tür. Ein Kobold. Staunende dunkle Augen, helle dichte Locken und ein breiter, halb geöffneter Mund.

»Komm rein, Kind, und mach die Tür zu. Es wird kalt.«

»Du hast Besuch, Emma.«

»Das ist Floria, meine Enkelin.«

»Papa sagt, ich darf dich nicht stören. Störe ich dich?«

»Nein. Komm her und sag Floria guten Tag. Ich mach dir deinen Kakao.«

Die Hand, die Katja Floria hinhielt, war ziemlich schmutzig und lag feucht in ihrer.

»Wohnst du jetzt hier?«

»Für eine Weile.«

»Eigentlich passe ich auf Emma auf. Du kannst ruhig wieder abfahren.«

Emmas Hüsteln klang eher wie unterdrücktes Kichern.

»Ah.« Floria bemühte sich ernst zu bleiben.

»Katja hilft mir bei der Hausarbeit und holt das Holz aus dem Schuppen.«

Floria amüsierte sich. Die Kleine war bezaubernd und hatte nicht die geringste Scheu auszusprechen, was ihr in den Sinn kam.

»Wenn du erlaubst, werde ich noch ein bisschen bleiben.«

»Trink deinen Kakao Katja und dann holst du mir Holz.« Emma stellte einen Becher auf den blanken Holztisch. »Das Holz, das du mir gestern gebracht hast, ist schon wieder verbrannt.« Sie deutete auf ein Körbchen, das neben dem Herd stand. Es war so klein, dass ein Kind es tragen konnte. Mein Holzkörbchen, dachte Floria. Vor knapp dreißig Jahren, erinnerte sie sich, hatte sie selbst damit den Holzvorrat geholt.

Dass Emma später den großen Korb gefüllt und in die Küche getragen hatte, war ihr damals nicht aufgefallen.

»Schau mal, das wird ein wunderschöner Tag, Flo.«

Die Sonne hatte sich gegen den Nebel durchgesetzt. Helle Flecken tanzten auf dem Dielenboden der Küche. Katja schwatzte mit Emma. Als sie begann, die Namen ihrer Freunde in der Kindergartengruppe aufzuzählen, erhob Floria sich.

»Ich glaube, ich werde heute einen langen Spaziergang machen.«

Floria sehnte sich nach frischer Luft und Alleinsein. Beides hatte ihr gefehlt in Rom.

Es war noch warm gewesen in den engen, stickigen Straßen voller Menschen. Ihre Mutter führte ein unruhiges gesellschaftliches Leben, was Floria nicht abgelenkt, sondern eher tiefer in ihren Kummer hineingetrieben hatte. Bei Emma hoffte sie Ruhe zu finden.

»Mach das. Stiefel sind in der Kammer.«

Nach einer ausgiebigen Dusche fand sie in ihrer Kommode einen dicken Wollpullover. Auch hier der Duft von Lavendel. Emma hatte nichts in ihrem Zimmer verändert, sondern alles liebevoll gepflegt. Floria bekam ein schlechtes Gewissen.

Du hast Emma in den letzten Jahren vernachlässigt, dachte sie.

Genau wie ihre Mutter war sie nur mit ihrer Karriere beschäftigt gewesen. Sie stand nun seit fünf Jahren auf den bekanntesten Opernbühnen der Welt. Wollte sie, dass es so bliebe für die nächsten Jahre? Sie würde auf vieles verzichten müssen. Die Geborgenheit, die sie hier fand, gab es nirgendwo sonst. Christof gab es nicht mehr und Emma war nicht unsterblich. Sie erschrak. Ohne Emma konnte sie sich ihr Leben nicht vorstellen. Bitte nicht, dachte sie … Emma war fast neunzig Jahre alt.

Floria ging in die Kammer, in der Gartengeräte, Gießkannen und Eimer für die Gartenarbeit aufbewahrt wurden. An einfachen Eisenhaken hingen Arbeitshosen und Gummijacken, darunter standen in einer akkuraten Reihe schwarze Stiefel in unterschiedlichen Größen. Auf einem langen Arbeitstisch warteten die Vasen, die Emma für ihre Blumensträuße brauchte. Der Wasserhahn tropfte. Floria registrierte Zeichen leichter Vernachlässigung. Emmas Leidenschaft war der Garten. Sie war keine Hausfrau.

Während sie in die Stiefel stieg, erinnerte sie sich an die Bemühungen ihrer Großmutter, diese Leidenschaft mit ihr zu teilen. Aber Floria hatte nie wirklich zugehört, wenn Emma über Jahreszeiten, Pflanzennamen oder die richtige Art zu düngen sprach. Sie hatte sich rote Stachelbeeren vom Strauch direkt in den Mund gestopft. Mit der Zunge hatte sie die haarigen Häutchen zerdrückt, sie ausgespuckt und das überraschend süße Innere geschluckt.

In Emmas Garten wuchsen Blumen und Gemüse in scheinbar wildem Durcheinander. Ein Beet stand ganz für sich und es war ihr verboten die Kräuter, die dort wuchsen, auch nur zu berühren. Ein kleiner Holzzaun grenzte es zum restlichen Garten hin ab.

 

»Sie sind giftig, Flo, und allein eine Berührung kann gefährlich sein.«

Sie hatte Emmas Worte genau im Ohr.

Floria nahm eine der Jacken vom Haken und öffnete die Tür der Kammer zum Hof.

Ein leises Wuff ließ sie zur Haustür sehen. Dort saß, hoch aufgerichtet, ein riesiger grauer Hund. Floria hatte keine Angst vor Hunden, dieser flößte ihr Respekt ein.

»Das ist Ramses.« Katja war mit dem kleinen Korb voller Holz neben dem Hund erschienen. Das Tier war sitzend größer als das Kind.

»Hallo, Ramses«, sagte Floria.