Floria Tochter der Diva

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Herbst

Floria ließ sich neben Emma nieder. Vor ihr lag der herbstliche Garten ihrer Großmutter, in dem sie praktisch aufgewachsen war. Nie waren sie im Haus gewesen, wenn das Wetter es zuließ. Jede Minute nutzte Emma aus, um in ihrem geliebten Garten zu arbeiten. Und Floria folgte ihr. Auch sie hielt sich lieber im Freien auf. Wenn gar nichts mehr ging, die Erde gefroren war, gab es andere Arbeiten. Es musste Holz gehackt, Schnee geschippt werden …, im Winter damals, dachte Floria, gab es viel Schnee.

»Gab es im Winter früher mehr Schnee als jetzt, Emma?«

»Das, Flo, frage ich mich auch immer. Ich habe nie herausgefunden, ob es stimmt. Fast jeder Mensch, den ich kenne, hat eine Kindheit mit Schneewintern in Erinnerung.«

»Aber wir haben Schneemänner gebaut.«

»Ja, erinnerst du dich an die erste Schneefrau, die du gebaut hast?«

Floria lachte. »Ich wollte bei Eiseskälte eine Hochzeit mit ihr und dem Schneemann feiern und hab ihr dein bestes Tischtuch als Schleier übergehängt.«

»In der Nacht hat der Sturm es weggerissen. Wir fanden es völlig verdreckt am nächsten Morgen in meinem Kräutergarten.«

»Du hast mir selten etwas verboten, Emma.«

»Das war einfacher, weil ich dann nicht darauf achten musste, ob die Verbote auch eingehalten wurden. Ein Tischtuch zu waschen ist leicht.«

»Ach, Emma, du bist die beste Mutter, die ich mir vorstellen kann.« Floria nahm die Hand ihrer Großmutter und küsste sie.

»Geht es dir gut, Emma?«

»Ja, Kind, mir geht es gut. Ich habe das Glück, noch sehr gesund zu sein. Aber vieles geht mir nicht mehr so von der Hand wie früher.«

»Wenn es etwas gibt, das ich für dich tun kann …«

»Dann sag ich es dir. Tim kommt jetzt öfter, um mir im Garten zu helfen, und Erna hilft mir wie immer im Haus. Zum Putzen hatte ich noch nie Lust.«

»Ich weiß. Spinnen in den Ecken, Staubflocken auf dem Fußboden und Fenster, die man öffnen musste, um nach draußen zu sehen, das alles hat dich nie gestört. Vermutlich bin ich deswegen eine so schlechte Hausfrau geworden.«

Floria drückte Emmas Hand.

»Du kannst mehr, als du glaubst. Ich habe dich beobachtet, als ich meine Hand in der Schlinge tragen musste. Sogar die Gans zu Weihnachten ist dir gelungen!«

Floria ließ ihren Blick über die farbige Vielfalt der Pflanzen gleiten. In Emmas Garten blühte es fast immer.

Zarte Anemonen, Dahlien in allen Farben und Herbstzeitlose bedeckten den Boden. Weiße Astern und solche in kräftigen violetten Tönen wucherten zwischen noch unermüdlich blühenden Rosen. Von französischer Gartenordnung war dieser Garten weit entfernt, aber er war bezaubernd und mehr Ordnung hätte seine Anmut zerstört.

»Was ist mit Katja? Die Kleine hat sich verändert.«

»Eine Phase, sie wird sich beruhigen.« Emma erhob sich. »Vielleicht solltest du dich nicht …«

»Meinst du, ich soll mich nicht einmischen? Aber ich liebe sie.«

»Ich weiß, aber sie ist nicht deine Tochter.«

»Emma, sag schon, was ist los?« Floria blieb stehen. »Emma! Ich werde keinen Schritt weitergehen, bis du mir geantwortet hast.«

»Fehlt nur noch, dass du mit dem Fuß aufstampfst wie früher.« Emma verzog die Lippen. »Komm, lass uns noch ein paar Zweige Rosmarin schneiden. Ich will den Kalbsbraten für morgen einlegen.« Emma zog ihre Gartenschere aus der Tasche. »Kannst du mir helfen?«

»Nein, erst wenn du …«

»Du kannst deine Sachen auspacken und erst mal ankommen.«

Was verschweigt Emma? Warum redet sie nicht über Katja. Für ihr Verhalten muss es doch einen Grund geben?

Floria ging nachdenklich ins Haus und widmete sich ihrem Gepäck. Jetzt, gegen Abend, war es kühler und die Dämmerung brach herein.

Florias Handy vibrierte. Kurt!

»Hallo, Floria. Ich habe eine gute und eine schlechte …«

»Ja, ok, ich will die gute Nachricht zuerst.«

»Wir bekommen die Location, mit allem, was wir brauchen, ich hab das Orchester. Die Musiker sind begeistert.«

»Sehr gut, und die schlechte Nachricht?«

»Wir würden gerne so schnell wie möglich mit den Proben beginnen.«

»Das heißt?«

»In drei Tagen.«

Floria klappte den Kofferdeckel hoch. Sie packte ein Nachthemd aus und die Sachen, die sie im Badezimmer brauchen würde. Alles andere konnte sie im Koffer lassen. Wie sollte sie das Emma und vor allem Katja beibringen? Ganze zwei Tage hatte sie hier.

Und was ist mit deinem Kind?

Am liebsten hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen und die Entscheidung anderen überlassen. Floria saß auf dem Bettrand. Sie ließ den Kopf hängen und kämpfte mit den Tränen.

Kurt und sein wunderbares Orchester! Sie sollte dankbar sein. Sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen. Sie war keine Buchhalterin mit festen Arbeitszeiten, auch wenn sie sich das manchmal wünschte.

Die ersten Tränen tropften auf ihre Hände, als es leise klopfte.

Emma stand in der Tür. »Darf ich?«

Floria nickte stumm. Emma setzte sich neben ihre Enkelin.

Sie reichte Floria ein Taschentuch.

»Wirst du es behalten?«

»Was …? Woher …? Floria gab auf. Ihre Großmutter hatte einen siebten Sinn, was sie anging.

»Ich weiß es nicht.« Sie seufzte. »Sag du es mir.«

»Das kann ich nicht, mein Liebling. Du musst diese Entscheidung selbst treffen, aber ich kann dir helfen, wenn du weißt, was du willst.«

Emma stand auf und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um.

»In welchem Monat bist du denn?« Floria sagte es ihr. »Dann ist es schon ein bisschen spät.«

»Emma?«

»Ja?«

»Ich muss nach England, schon in drei Tagen.«

»Ich dachte es mir, du hast deinen Koffer nicht ausgepackt.«

Die Tür schloss sich hinter der alten Frau. Floria warf sich auf ihr Bett und schluchzte. Emma wusste immer, was zu tun war. Sie hatte sie niemals zögern sehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Emma jemals so unsicher gewesen war wie sie jetzt.

Emma ging hinunter in die Küche.

Ich war einmal in einer ähnlichen Situation, dachte sie.

Alex saß auf dem Sofa und las. Als sie eintrat, faltete er die Zeitung zusammen und legte sie zur Seite.

»Was ist mit unserem Kind los?«

»Das Kind, mein Lieber, muss eine schwere Entscheidung treffen. Sie weiß nicht, ob sie Mutter werden will oder nicht.«

»Oh je.«

»Ich habe ihr meine Hilfe angeboten.«

»Emma!«

»Ich habe vielen Frauen geholfen, das weißt du. Warum sollte ich Flo meine Hilfe verweigern?«

»Wie, glaubst du, wird sie sich entscheiden?«

»Warten wir es ab. Aber ich glaube, wir werden bald ein Baby im Haus haben.«

Alex schmunzelte.

Du hast immer noch das gleiche Lächeln wie die junge Frau, in die mich verliebt habe, dachte er.

Er küsste sie auf die Wange. »Das würde dir gefallen?«

»Ja, mein Lieber, das würde mich glücklich machen.«

Emma sah sich selbst als Achtzehnjährige. Kurz vor Kriegsende. Schwanger und ohne Hoffnung. Mit einem Mann verheiratet, der sie zur Ehe gezwungen hatte, mit dem Versprechen, ihren Bruder und ihren Geliebten nicht an die Gestapo zu verraten, wenn sie seinem Drängen nachgäbe.

Sie war völlig zusammengebrochen, als sie erfuhr, dass beide verraten und kurz nach ihrer Eheschließung mit dem Bürgermeister auf der Flucht erschossen worden waren. Dass ihr Mann es war, der trotz seines Versprechens zum Verräter geworden war, konnte sie bis heute nicht wirklich fassen.

Ihre Ehe war die Hölle gewesen. Dass ihr Mann sie betrog, konnte ihr nur recht sein, dass er trank und betrunken gewalttätig wurde, war zu viel.

Emma nahm sich vor, ihr Tagebuch, das sie damals mit langen Unterbrechungen geführt hatte, herauszusuchen. Sie wollte nachlesen, wie das Mädchen, das sie damals war, sich gefühlt hatte. Dieses Tagebuch wollte sie eines Tages Floria geben. Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt? Jetzt, da Floria darüber nachdachte, ob sie ihr Baby behalten sollte.

Ein gewagter Schritt, das wusste Emma. Aber wenn jemand außer ihrem geliebten Alex sie verstehen würde, dann war es Floria.

Florias Paraderolle, dachte Emma, Puccinis Tosca, glich ihrer eigenen Geschichte. Liebe, Verrat und Tod. Würde Flo das erkennen? Ganz bestimmt, Emma war sich vollkommen sicher.

Die Oper Tosca hatte Emma gesehen. Damals war sie mit Alex nach Verona geflogen. Floria hatte ihnen den Flug und die Karten für die Aufführung in der Arena geschickt. Und ein bezauberndes kleines Hotel in der Innenstadt hatte auf sie gewartet.

Auch in dieser Oper, die um neunzehnhundert uraufgeführt wurde, stehen Verrat und Begehren im Mittelpunkt der Handlung. Der Verrat des Polizeichefs, Baron Scarpia, an Floria Tosca, einer schönen Sängerin. Er lässt Cavaradossi, einen Maler, den Geliebten der Tosca erschießen, weil er dem politischen Gefangen Angelotti Hilfe gewährte. Mit dem Versprechen Cavaradossi nur zum Schein erschießen zu lassen, will er ihre Liebe erringen. Sie verspricht ihm, sich ihm hinzugeben, kann aber ihr Versprechen nicht halten. Angewidert ersticht sie Scarpia.

Emma hatte ihr Versprechen gehalten und den Bürgermeister nicht erstochen. Sie hatte sich einem Mann hingegeben, der sie hintergangen und ihren Bruder und ihren Geliebten hatte erschießen lassen.

Emma schüttelte sich. Sie spürte beinahe körperlich den Ekel und das Entsetzen, das sie damals, vor über sechzig Jahren empfunden hatte.

 

Die Entscheidung

Der Hunger trieb Floria in die Küche.

»Alex ist schon gegangen?«

»Ja, Kind. Er will mit Thomas eine Runde Schach spielen. Hier.« Sie stellte ein Holzbrett mit zwei großzügig mit Schinken belegten Brotscheiben vor Floria auf den Tisch. Daneben ein Glas mit eingelegten Gurken. »Du hast sicher Hunger.«

»Danke, Emma.«

»Möchtest du ein Bier?«

»Hast du ein alkoholfreies da?«

»Sicher.«

Emma setzte sich zu Floria und sah ihr schweigend beim Essen zu. Floria hatte geweint. Wenn ihre Enkelin keinen Alkohol mehr trank, hatte sie sich unbewusst bereits für ihr Kind entschieden?

»Was hast du Alex erzählt?« Floria sah endlich auf.

»Dass du dich schwer tust bei der Entscheidung für dein Baby.«

»Warum habe ich das Gefühl, dass du glaubst, ich habe mich entschlossen, es zu behalten?«

»Vielleicht liegt es an meiner Formulierung?«

»Ja, vielleicht. Emma, hast du dich jemals so etwas fragen müssen?«

»Ja, Flo, das habe ich. Auch ich stand einmal vor dieser Frage. Ich habe nie bereut, ein Kind zu haben. Auch wenn ich nicht die ideale Mutter für Diane sein konnte. Ich habe sie immer geliebt und sie hat mir dich geschenkt.«

»Du warst sehr jung, als Diane geboren wurde.«

Wahrscheinlich zu jung, dachte Emma.

»Ihr habt mir nie etwas über meinen Großvater erzählt, Emma.«

»Möchtest du noch ein Bier, Flo?«

Floria dachte, ich werde wieder keine Antwort bekommen.

»Gerne, aber ich hole es mir selbst.« Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging zum Kühlschrank.

»Weißt du, Emma, ich habe mich mein Leben lang gefragt, warum ich weder bei dir noch bei Diane ein Bild meines Großvaters gefunden habe. Ich habe mich gefragt, warum ihr beide diesen Mann nie erwähnt. So, als ob es ihn nie gegeben hätte. Er war Bürgermeister hier, das ist das einzige, was ich von ihm weiß.«

»Deine Mutter hat sehr unter seinem Tod gelitten. Vielleicht will sie nicht daran erinnert werden.«

»Und du? Hast du auch zu sehr unter seinem Tod gelitten?«

Der leicht sarkastische Ton in Florias Stimme entging Emma nicht.

Floria kannte ihre Großmutter nur als Alex’ Gefährtin. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie nicht von ihm sprechen würde, wenn er nicht mehr da wäre, dass sie kein einziges Bild von ihm aufstellte.

»Nein, Floria. Ich war erleichtert und fühlte mich befreit von einem unvorstellbaren Druck.«

Floria setzte sich wieder. »Erzähl mir davon.«

»Das werde ich, wenn du aus London zurück bist.«

»Emma, warum nicht jetzt?«

»Weil …«

In diesem Moment schlug die Haustür auf und hörbar gegen die Wand. Emma sah auf die Küchenuhr. Dreiundzwanzig Uhr.

Floria rannte in den Flur und fing eine schluchzende Katja auf. Das Mädchen hatte nur einen Schlafanzug an und zitterte. In der Tür hinter ihr stand Ramses.

»Katie, was ist?« Sie hielt das Mädchen fest und strich ihm über die Haare.

Emma telefonierte mit Julian, als Floria mit Katja auf dem Arm die Küche betrat. »Falls du deine Tochter vermisst, sie ist hier bei uns.«

Emma legte auf. »Er kommt.«

»Was ist denn, meine Kleine? Es wird alles wieder gut.«

Ein paar Minuten später stand vor Katja ein Becher Kakao. Um ihre Schultern legte Floria eine warme Decke. Als Julian eintraf, hatte sie sich einigermaßen beruhigt.

»Katja, warum läufst du weg? Ich hatte Angst um dich.«

»Sie will mich wegschicken.«

»Ich würde das niemals erlauben. Du hast Melinda falsch verstanden, Schatz, glaub mir.«

Floria verstand kein Wort.

Wer zum Teufel war Melinda?

»Wenn du deinen Kakao ausgetrunken hast, gehen wir nach Hause.«

Katjas Augen füllten sich erneut mit Tränen. Emma hatte noch kein Wort gesagt. Jetzt sah sie Julian an.

»Ich denke, da Katja nun schon mal hier ist, könnte sie doch auch hier übernachten. Meinst du nicht?«

Sie hatte den Vorschlag wie eine Frage ausklingen lassen, aber er klang in Florias Ohren eher wie ein Befehl. Sie sah zu Julian hinüber. Wie würde er reagieren?

»Vielleicht hast du recht, Emma.«

Er wandte sich an seine Tochter. »Möchtest du heute hier schlafen?«

Katja nickte und ein winziges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

Julian hatte seine Tochter geküsst und war gegangen. Er sah traurig aus, traurig und sehr angespannt. Zu viel Arbeit? Konnte es sein, dass die Schreiberei ihn so anstrengte? Oder diese Melinda? Wer immer das war.

Floria lag im Dunkeln. Sie konnte nicht einschlafen. In ihren Armen hielt sie Katja und nach ihren gleichmäßigen Atemzügen zu urteilen, schlief sie tief. Es war ein eigenartiges, ganz neues Gefühl, diesen zarten Körper zu spüren. Katja hatte sich an sie gedrückt und war voller Vertrauen sofort eingeschlafen. Eine Woge von Zärtlichkeit überkam sie, auch für das unbekannte kleine Wesen, das in ihr wuchs. In diesem Moment entschied Floria, dass sie ihr Baby behalten würde.

Melinda

»Guten Morgen, ihr Langschläfer.«

Emma stand am Fenster in Florias Zimmer und zog die Vorhänge auf. Es war früh und noch dunkel. Ihre Enkelin drückte den Kopf tief in ihr Kissen.

»Och ne.«

Sie klingt wie vor Jahren, als sie so alt war wie Katja jetzt, dachte Emma.

Floria war ein Morgenmuffel und nie gerne früh aufgestanden. Katja dagegen hüpfte putzmunter aus dem Bett und umarmte Emma.

»Ich muss pünktlich im Kindergarten sein, hat Dad gesagt.«

»Er ist gleich hier«, meinte Emma, »und bringt dir was zum Anziehen mit.«

Katja machte den Eindruck, als habe es den gestrigen Abend nie gegeben.

Sie und Julian gingen Hand in Hand aus dem Haus. Floria winkte, als der Wagen mit Ramses im Kofferraum den Hof verließ.

»So, Emma, jetzt will ich Antworten.« Floria ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich hatte nun wirklich genug Geduld.«

Sie nahm sich eine Tasse Kaffee, gab einen großzügigen Schuss Milch dazu und sah Emma erwartungsvoll über den Frühstückstisch an.

»Ja, ich weiß, Geduld ist nicht das, was dich auszeichnet.«

Emma hielt Floria den Korb mit den Brötchen hin und stellte ihn ab, als ihre Enkelin den Kopf schüttelte.

»Was willst du wissen?«

»Wer ist Melinda?«

Emma lachte. »Ahnte ich es doch, dass das deine erste Frage sein würde.«

»Und?« Floria ließ sich nicht ablenken.

»Eine Freundin.« Floria ignorierte den winzigen Stich.

»Emma! Eine oder seine Freundin? Ein bisschen genauer darfst du schon sein. Ich bin erwachsen.«

»Melinda ist etwa ein Jahr nach Ines Tod aufgetaucht. Soweit ich weiß, war sie eine Freundin von Katies Mutter. Reich, gebildet und attraktiv, aus gutem Hause. Genau wie Ines. Nur nicht so sanft.« Emma zögerte. »Ich will dir nicht zu viel erzählen, du wirst sie heute Abend kennenlernen.«

»Der Kalbsbraten ist für sie?«

»Er ist groß genug für uns alle.«

»Und dann?«

»Was, und dann?«

»Wo ist sie gewesen? Wie lange sind sie schon zusammen? Ich habe ihren Namen nicht ein einziges Mal gehört.«

»Ich habe ihn nicht gefragt. Jetzt ist sie wieder da und sie ist der Grund für Katjas Verhalten. Katja ist eifersüchtig, denke ich. Sie will ihren Vater für sich.«

»Das ist ja verständlich.«

»Sicher ist es das. Aber er kann nicht seiner Tochter zuliebe auf die Frau verzichten, die er liebt.«

»Liebt er sie denn?«

»Das, Flo, musst du ihn selber fragen. Sie ist sehr … Ich kann mir vorstellen, dass die Männer Schlange stehen.«

»Seit wann ist sie wieder da?«

»Sie kam vor einigen Wochen. Ich weiß es nicht genau. Und nun hör auf, mich auszufragen.« Emma stand vom Tisch auf und begann abzuräumen.

»Nein, Emma. Geh in deinen Garten, ich mach das hier. Ich komme nach, sobald ich fertig bin.«

Floria schob ihre Großmutter sanft aus der Küche. Sie überlegte, was sie anziehen sollte, und musste über sich selbst lachen. Julian hatte sie in den unmöglichsten Klamotten gesehen, einschließlich der Ringelsocken, die Katja so gefallen hatten. Wem also wollte sie etwas vormachen? Dieser Melinda? Sie nahm sich vor, sie unvoreingenommen zu betrachten, und wusste doch, dass sie das nicht konnte.

Diese Frau hatte Katja in Angst und Schrecken versetzt. Aber das war es nicht allein. Sie wollte Katja nicht verlieren. Auch sie war eifersüchtig. Wirklich nur auf Katie?

Sie legte die Gummihandschuhe auf die Spüle und ging, um ihren Koffer zu inspizieren. »Nein!« Sie packte alles wieder ein.

Sie zog eine Jeans an, ein Top und Sportschuhe. Sie war auf dem Land und sie hatte nicht vor, sich zum Narren zu machen. In der Gartenkammer nahm sie ein altes Sweatshirt vom Haken und machte sich auf den Weg in den Garten. Noch würde die Schaukel im alten Apfelbaum hängen. Erst Ende Oktober nahm Tim sie ab. Es war ein perfekter, schon kühler Tag. Die Blätter färbten sich nur zögernd golden. Die Sonne schien von einem vollkommen gewölbten mattblauen Himmel.

Malen müsste man können, dachte Floria, als sie Emma gebeugt in ihrem Kräutergarten stehen sah.

Zwischen ihren geliebten Kräutern, von denen manche so zuverlässig töteten wie der Biss einer Giftschlange. Hatte sie jemals diese Kräuter genutzt? Sie erschrak vor ihren eigenen Gedanken, als sie den liebevollen Blick ihrer Großmutter auffing.

»Kann ich dir helfen?«

»Nein, mein Kind.«

»Emma, ich werde mein Baby behalten.«

»Ich weiß, Floria. Und es macht mich sehr glücklich.«

In der Küche roch es köstlich. Alex drehte sich um, als Floria mit einem Korb Holz die Küche betrat.

»Alex, setz dich um Himmels willen irgendwohin. Weit weg von meinem Herd.« Emma riss ihm einen Topflappen aus der Hand.

»Hallo, Alex, guckst du wieder in Emmas Töpfe? Du weißt, wie sehr sie das hasst.«

Floria stellte ihren Korb neben den Herd und küsste Alex auf die Wange.

»Komm, du setzt dich aufs Sofa, ich decke schon mal den Tisch. Hier oder im Esszimmer, Emma?«

»Hier, Flo. Im Esszimmer ist es schon zu kühl.«

»Wie viele Teller?«

»Acht. Der Pastor und Thomas kommen auch.«

»Ach je. Ist dein Braten wirklich groß genug? Du weißt, mein Schatz, Gisbert hat einen guten Magen.« Alex sah beunruhigt auf.

»Wie die Kirche selbst«, kicherte Emma und zitierte Goethe: »Die Kirche hat einen guten Magen, hat ganze Länder aufgefressen und doch noch nie sich übergessen …«

Alex lachte schallend. Er hatte in seiner Sofaecke nicht bemerkt, dass der Pastor bereits in der Küche stand. »Lass das Gisbert, den alten Pfaffen, nicht hören.«

Thomas, hinter dem Pastor, verzog die Lippen von einem Ohr zum anderen.

»Zu spät«, meinte Floria. »Er hat es gehört.«

»Über den alten Pfaffen werden wir noch reden, Doktor.« Gisbert ging auf Emma zu und verbeugte sich galant. »Ich bin entzückt. Sie kennen die Reden des Mephistopheles.«

»Gehen Sie mir aus dem Weg, Pastor. Nicht alle Frauen, die gut kochen, sind ungebildet. Sagen Sie Floria lieber, was Sie trinken möchten.«

Wenn es an den Endspurt ging, war Emma unansprechbar. Die Saucen, die sie voller Konzentration herstellte, wurden allerdings auch unaussprechlich köstlich.

Mit Sahne, Wein und Butter wurden die Röststoffe des Bratens abgelöscht. Langsam und geduldig ließ Emma alles so weit einkochen, bis eine nougatfarbene sämige Sauce entstanden war. Danach wurde sie durch ein Sieb gestrichen. Floria lief das Wasser im Munde zusammen, wenn sie an die samtige Konsistenz dieser Delikatesse dachte.

»Wein, Pastor?«

»Sehr gerne, wie schade, dass wir nicht auch Wasser zu Wein werden lassen können, wie …«

»Gisbert, ich hoffe, Sie reden nicht den ganzen Abend über solch abenteuerlichen Unsinn.« Emma stand empört mit erhobenem Kochlöffel und geröteten Wangen am Herd.

Floria, Alex und Thomas prusteten gleichzeitig los. Auch Emma musste lachen. Der Pastor lächelte milde.

 

»Welch ein Empfang, dürfen wir mitlachen?« Melinda!

Emma hat recht, dachte Floria. Melinda ist eine sehr gutaussehende Frau.

Das fast schwarze kurze Haar, streng nach hinten gegelt, betonte ihre hohen Wangenknochen, die glatte Stirn und eine perfekte Nase. Sie war elegant, aber nicht übertrieben gekleidet. Nachdem sie Emma begrüßt hatte, wandte sie sich an Floria.

»Ich bewundere Sie, Frau Mura. Sie haben eine so schöne Stimme. Als Rosina haben Sie mich zu Tränen gerührt.«

Floria war etwas überrumpelt. »Das freut mich …«

»Und wie entsetzlich unangenehm muss es sein, wenn die Stimme so plötzlich versagt. Nicht wahr, Darling?« Sie sah Julian an.

Es wurde ganz still in der Küche. Melinda schüttelte bedauernd den Kopf.

Floria ging in die Hocke, um Katja zu umarmen.

»Aber du singst doch wieder, Floria?«

» Ja, mein Schatz, ich singe wieder.«

Emma machte den Versuch, der Situation die Peinlichkeit zu nehmen.

»Floria, hilf mir doch bitte mal, die Kartoffeln abzugießen.«

Sie fragte sich, ob Melinda sich absichtlich so taktlos verhielt. Sie war schließlich nicht dumm. Was steckte hinter ihrem Verhalten?

Floria drückte Julian die Weinflasche in die Hand und bat ihn, die Gläser zu füllen.

Er stellte Melinda den Pastor vor.

Thomas und Alex hatten sich erhoben, um sie zu begrüßen.

Während Floria den Braten aus dem Ofen holte, plauderte Melinda angeregt mit den Männern. Es schien, als ob ihr überhaupt nicht bewusst wäre, wie taktlos sie sich benommen hatte.

Floria ritt der Teufel, als sie sich an Thomas wandte.

»Thomas, bitte schneide den Braten in Scheiben. Schön dünn«, fügte Floria hinzu. »Wie in der Anatomie, wo du gelernt hast, Leichen zu sezieren.«

Alex grinste diabolisch, als er das hörte. »Mein Appetit wächst bei dieser Ansage.«

Melinda biss die Zähne zusammen. »Man merkt doch sofort, dass Sie in einem Arzthaushalt aufgewachsen sind, Floria. Ich darf Sie doch Floria nennen?«

»Aber gerne, Melinda«, Floria betete innerlich um Geduld.

Aus den Augenwinkeln sah sie Emmas Bemühen um Contenance.

Wenn man das von einer alten Dame sagen durfte, Emma grinst, dachte sie.

Aus dem Nebenzimmer hörte sie Klaviertöne, eine schnelle Tonfolge, die sie Katja vor Monaten beigebracht hatte.

Es ist erstaunlich, was die Kleine daraus macht, dachte Floria.

Julian hob lauschend den Kopf. Sie hatte plötzlich den Wunsch, ihn zu trösten. Er fing ihren Blick auf und hielt ihn einen Moment lang fest.

»Fertig«, sagte Thomas und stellte eine Platte auf den Tisch. »Wir können essen.«

Der Pastor stand, wie nicht anders zu erwarten, als erster hinter seinem Stuhl. Er wartete artig darauf, dass die Hausfrau sich setzte. Emma legte ihre Schürze ab, bevor sie sich niederließ. Julian rief nach seiner Tochter.

»Dad, hast du mich gehört?«

»Ja, Katie, das habe ich und es hat mir gefallen.«

Katja strahlte. »Das hat mir Floria beigebracht.« Sie lief um den Tisch herum. »Darf ich neben dir sitzen?«

»Nein, Katja, du kannst bei mir sitzen, dieser Stuhl ist noch frei.« Melinda klopfte auf den Stuhl neben sich.

»Ich will aber bei Floria sitzen.«

Thomas stand auf und hob das kleine Mädchen auf seinen Stuhl.

»Ich hätte auch gerne neben Floria gesessen. Aber einer so bezaubernden jungen Dame kann ich keinen Wunsch abschlagen.« Melinda presste die Lippen zusammen, richtete sich auf und schien Einspruch erheben zu wollen.

So, dachte Floria, ist sie nicht mehr ganz so attraktiv.

Thomas setzte sich neben Melinda und entwickelte seinen ganzen, nicht unerheblichen Charme, um Melindas Aufmerksamkeit von Katja abzulenken.

Emma stritt wie gewöhnlich mit Gisbert, während Alex sich ausschließlich dem Essen widmete. Thomas beobachte Floria und Katja. Sie kicherten und Katja flüsterte Floria etwas ins Ohr. Sie könnten Mutter und Tochter sein, dachte er. Beide mit diesem auffälligen wilden blonden Haar, ein Lachen im Gesicht und einander so vertraut. Floria griff nach ihrem Wasserglas. Ihm fiel auf, dass sie den Wein abgelehnt hatte, als er ihr einschenken wollte. Er schrak aus seiner Beobachtung auf, als er Melinda hörte.

»Katja, man flüstert nicht.« Melindas Stimme klang sachlich, nicht unfreundlich. Katja sah sie an und schwieg. Sagen musste sie auch nichts, der trotzige, ablehnende Blick, mit dem sie die Freundin ihres Vaters bedachte, sprach Bände.

»Melinda hat recht, Katie. Wir beide haben uns schlecht benommen. Man darf nicht flüstern, wenn andere dabei sind.«

Julian und Melinda werden es nicht leicht haben, wenn sie beieinander bleiben wollen, dachte Thomas. Melinda ist so vollständig anders als Ines.

Ines war eine seiner Patientinnen gewesen. Es hatte ihn sehr getroffen, als er von ihrem Tod erfuhr. Sein Handy vibrierte. Er stand auf und entschuldigte sich. Seinem Gesichtsausdruck nach war das kein Notfall.

»Grüß sie von mir«, flüsterte Floria, als er an ihr vorbeiging.

»Mach ich.« Thomas zog die Küchentür hinter sich zu.

»Susan, ich liebe dich. Komm her und bleib bei mir.«

»Ich liebe dich auch und ich vermisse dich, Thomas. Aber ich kann mich nicht aus meinen Verpflichtungen lösen.«

Thomas wusste, dass die meisten der Verträge für Engagements viele Jahre zuvor geschlossen wurden. Susan hatte jetzt schon Termine, die sie in drei oder vier Jahren erst erfüllen musste.

»Willst du wirklich so lange warten?«

»Wenn du nicht erwartest, dass ich aufhöre zu arbeiten, werden wir eine Lösung finden.«

»Wann?«

»Dräng mich nicht, Thomas. In ein paar Wochen bin ich bei dir, dann können wir reden.«

Susan kappte die Verbindung.

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