Die Füchsin

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Die Füchsin
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Die Füch­sin

Ur­su­la Tin­tel­not

Ro­man

Im­pres­s­um

Co­py­right: © 2021 Ur­su­la Tin­tel­not

Um­schlags­fo­to: © GSPic­tu­res

Co­ver­ge­stal­tung: © Me­du­sa Ma­bu­se

Buch­satz: © Me­du­sa Ma­bu­se

Alle Rech­te, ein­schließ­lich das des voll­stän­di­gen oder aus­zugs­wei­sen Nachrucks in jeg­li­cher Form, sind vor­be­hal­ten

Klap­pen­text:

Ihre Le­bens­wel­ten könn­ten nicht un­ter­schied­li­cher sein. Va­le­rie, eine er­folg­rei­che Au­to­rin lebt in ih­rer lu­xu­ri­ösen Ei­gen­tums­woh­nung in ei­nem an­ge­sag­ten Quar­tier in Ham­burg. Sie lebt al­lein, ohne fes­te Bin­dung, mit ih­rer Kat­ze. Ihr Le­ben zwi­schen ex­qui­si­ten Emp­fän­gen und an­stren­gen­den Le­se­rei­sen ist ver­gleichs­wei­se gla­mou­rös.

Adam ist durch einen Schick­sals­schlag al­lein­er­zie­hen­der Va­ter ei­nes Ein­ein­halb­jäh­ri­gen und Be­sit­zer ei­ner Gärt­ne­rei, vor den To­ren der Stadt, auf dem plat­ten Land ge­wor­den. Va­le­rie kennt sei­nen Vor­na­men. Für Adam bleibt sie die Na­men­lo­se, die Füch­sin, wie er sie bei sich nennt.

Nach ei­ner zu­fäl­li­gen, kur­z­en Be­geg­nung, bleibt bei­den eine un­still­ba­re Sehn­sucht nach­ein­an­der. Im­mer wie­der se­hen sie sich im Ge­wühl der Groß­stadt ohne sich nä­her zu kom­men. Kei­ner von bei­den er­greift die In­itia­ti­ve. Bei­de sind ver­letzt in ih­rer ganz ei­ge­nen Wei­se und fürch­ten, noch ein­mal ver­letzt zu wer­den.

In­halts­ver­zeich­nis

1 Le­sung

2 Juni

3 Juni

4 Juni

5 Juli

6 Juli

7 Ende Juli

8 Juli

9 Ende Juli

10 Au­gust

11 Au­gust

12 Au­gust

13 Au­gust

14 Ok­to­ber

15 Ok­to­ber

16 Ja­nu­ar

17 Mai

18 Mai

19 Juli

20 Juli

21 Som­mer

22 Som­mer

23 Som­mer

24 Au­gust

25 Ende Au­gust

26 De­zem­ber

27 Mai Juni

28 Juni

Über die Au­to­rin und wei­te­re Wer­ke

1 Le­sung

Adam sitzt mit ei­nem schla­fen­den Kind auf dem Schoß in ei­nem wei­ten Raum. Schwa­r­ze Ei­sen­stre­ben über­wöl­ben die hohe De­cke der ehe­ma­li­gen Fa­brik­hal­le. Jetzt, nach der Le­sung, ste­hen die Tore of­fen. Grup­pen von Rau­chern auf dem ge­pflas­ter­ten Vor­platz, Ge­drän­ge an der Bar. Die Ti­sche sind nicht alle be­setzt.

»Ben möch­te Sie ken­nen­ler­nen.«

Die, die er an­spricht ist … so alt wie er? Viel­leicht. At­trak­tiv? Sehr at­trak­tiv. Hat sie zu viel ge­trun­ken? Er ist stock­nüch­tern.

»Ihr Ben schläft gleich ein.« Sie lacht lei­se.

»Das ist ein Täu­schungs­ma­nö­ver. Er tut nur so.«

Er be­trach­tet sie, möch­te sie noch ein­mal zum La­chen brin­gen. Schön ge­schwun­ge­ne Lip­pen. Au­gen, grau oder grün? Das kann er nicht er­ken­nen. Un­ter ge­senk­ten Li­dern blickt sie das Kind an. Nicht ihn. Ihre Fin­ger spie­len mit ei­ner lan­gen, hauch­dün­nen Sil­ber­ket­te über ih­rem De­kol­leté. Ein halb ge­leer­tes Glas in ih­rer Hand. Si­cher nicht das ers­te, denkt er. Sie macht einen Schritt von ihm weg. Eine leich­te Un­si­cher­heit. Ihre Hand greift Halt su­chend eine Stuhl­leh­ne.

»Wie ge­fie­len Ih­nen die Ge­dich­te?«

Sie zö­gert. »Zu viel To­des­sehn­sucht.«

Ja, die Ge­dich­te dreh­ten sich um Tod, Ein­sam­keit und Ver­las­sen­heit. Pas­send zu sei­ner ei­ge­nen See­len­la­ge.

Sie wühlt in ih­rer Um­hän­ge­ta­sche. Eine zer­knit­ter­te Zi­ga­ret­ten­pa­ckung kommt zum Vor­schein. Ihre Hand zit­tert leicht. Das Feu­er­zeug fin­det sie in der Ta­sche ih­res Ja­cketts. Sie at­met den Rauch tief ein und hält ihm nach kur­z­em Zö­gern die Pa­ckung ent­ge­gen.

»Nein, dan­ke. Ich habe auf­ge­hört.«

»Ver­nünf­tig.«

Sie zieht den Stuhl zu sich her­an und setzt sich halb ab­ge­wandt von ihm, so, dass sie in den Raum se­hen kann.

Er be­trach­tet ihre hohe Stirn, die ge­ra­de Nase, das Kinn. »Die Be­schäf­ti­gung mit dem Tod ist le­gi­tim.«

»Si­cher.« Sie dreht den Kopf in sei­ne Rich­tung.

Un­will­kür­lich fragt er sich, wie es wäre, die­se Lip­pen zu küs­sen, die sich ge­ra­de um die Zi­ga­ret­te schlie­ßen. Sie raucht gie­rig.

»Ich bin Adam«, sagt er schnell. Er will nicht, dass sie geht, kann den Blick nicht von ihr wen­den. Üp­pi­ges dun­kel­ro­tes, von ei­nem Band im Nacken zu­sam­men­ge­hal­te­nes Haar. Die Li­der schwer über schma­len Au­gen.

Die Füch­sin, die seit ei­ni­ger Zeit um sein Haus her­um­schleicht, fällt ihm ein. Eine hoch­bei­ni­ge ele­gan­te Fähe, mit un­ge­wöhn­lich dunk­lem ro­tem Fell. Eine Füch­sin, denkt er. Eine Füch­sin mit ei­ner ver­letz­ten Pfo­te. Ihm ist ihr leich­tes Hin­ken auf­ge­fal­len.

Sie ist un­ge­wöhn­lich. Si­cher die auf­fallends­te un­ter all den Frau­en. Sie hat so et­was wie einen Pan­zer um sich, un­sicht­bar, aber ein Pan­zer.

Er blickt sich um. Es gibt nur we­ni­ge Män­ner hier. Wie so oft sind die Frau­en auch bei die­ser Le­sung in der Über­zahl. Er in­ter­es­siert sich für Ge­dich­te, Li­te­ra­tur über­haupt. Und für Kräu­ter und Gift­pflan­zen. Er züch­tet sie, baut sie an und fo­to­gra­fiert sie. Sei­ne Er­kennt­nis­se schreibt er akri­bisch auf.

Als er wie­der in ihre Rich­tung schaut, ist sie nicht mehr da. Auf dem Tisch liegt ihre Zi­ga­ret­ten­pa­ckung, da­ne­ben das Feu­er­zeug. Ohne nach­zu­den­ken, steckt er bei­des ein. Im Aus­gang sieht er kurz ihr Pro­fil. Glanz auf ih­rem Haar. Dann ist sie fort. Ver­dammt! Er hät­te ger­ne mehr von ihr ge­wusst. Sie hat nicht ein­mal ih­ren Na­men ge­nannt. Er er­hebt sich, als das Kind auf sei­nem Schoß sich regt.

»Wir ge­hen heim«, flüs­tert er.

Der klei­ne Jun­ge legt die Arme um Adams Hals und schmiegt sich an ihn. »Dada«, flüs­tert er und schläft wie­der ein.

Der rote Prit­schen­wa­gen ist alt und nicht sehr sau­ber. Ein Auto, dem man den Ge­brauch an­sieht. Ein Nutz­fahr­zeug, kein Sta­tus­sym­bol. Er schnallt das Kind im Kin­der­sitz fest, schiebt die Tür so lei­se wie mög­lich zu und geht um den Wa­gen her­um, um auf der an­de­ren Sei­te ein­zu­stei­gen.

Ben­ja­min, denkt er, müss­te in sei­nem Bett lie­gen, nicht mit mir an nächt­li­chen Ver­an­stal­tun­gen teil­neh­men. Er bleibt eine Wei­le sit­zen, ohne den Wa­gen zu star­ten, und starrt auf den re­gen­feuch­ten As­phalt. Ein kur­z­er war­mer Som­mer­re­gen, der kei­ne Ab­küh­lung bringt. Adam fährt erst los, als der Re­gen nach­lässt. Er hat wie­der nicht an die de­fek­ten Schei­ben­wi­scher ge­dacht. Mor­gen, denkt er.

Die­se Frau geht ihm nicht aus dem Kopf. Er är­gert sich, dass er sie hat ge­hen las­sen. Eine Frau ohne Na­men, ei­gen­tüm­lich ver­traut.

Ben schna­rcht lei­se, sein Köpf­chen ist zur Sei­te ge­fal­len. Mit bei­den Hän­den hält er einen klei­nen Stoff­hund an die Brust ge­drückt. Adam fragt sich nicht zum ers­ten Mal, wie er mit ei­nem knapp Zwei­jäh­ri­gen zu­recht­kom­men soll. Sei­ne Ge­dan­ken wan­dern zum dun­kels­ten Tag sei­nes Le­bens. Dem Tag, an dem sei­ne Schwes­ter sta­rb und ihm ihr Le­ben hin­ter­ließ. Er hat es an­ge­nom­men.

Jetzt star­tet er sei­nen Wa­gen. Fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten spä­ter sieht er die Dä­cher der Ge­wächs­häu­ser, glän­zend nass vom Re­gen. Da­ne­ben die Scheu­ne und das gro­ße alte Stein­haus. Vor­sich­tig biegt er in den Hof ein und parkt di­rekt vor der Haus­tür. Die Füch­sin sitzt reg­los zwi­schen den Ge­wächs­häu­sern. Er hebt Ben aus sei­nem Sitz und bringt ihn, ohne ihn zu we­cken, ins Bett.

2 Juni

Va­le­rie hat es nicht ei­lig. Sie lebt al­lein mit ih­rer Kat­ze. Ab­ge­se­hen von ih­ren Be­su­chen im Ver­lag hat sie einen ein­sa­men Job.

 

Sie schreibt Lie­bes­ro­ma­ne, ob­wohl sie an die Lie­be nicht mehr glaubt, seit sie ein Tee­n­a­ger war, und die Ko­lum­nen, die sie in ver­schie­de­nen Zeit­schrif­ten un­ter­bringt, han­deln nicht von Lie­be, son­dern von de­ren Nicht­vor­han­den­sein. An Aben­den wie die­sem gönnt sie sich Aus­gang. Sie zieht um die Häu­ser, geht in ihre Stamm­knei­pe, ins The­a­ter und ge­le­gent­lich in die Oper oder be­sucht eine Le­sung. Al­lein oder in Ge­sell­schaft.

Wie hieß noch der klei­ne ver­schla­fe­ne Kerl? Ben? Auf die Idee, ein Klein­kind in die Nacht mit­zu­neh­men, konn­te nur ein Mann kom­men. Sein Sohn? Viel­leicht. Hat das Kind denn kei­ne Mut­ter? War­um geht mir die­ser Mann nicht aus dem Kopf?

Ihr Taxi hält vor ei­nem ho­hen Stadt­haus. Ein Alt­bau, vor Jah­ren re­no­viert, wie vie­le der Häu­ser hier. Oft mit Hinter­hö­fen, man­che be­pflanzt und zu idyl­li­schen Gär­ten oder Spiel­plät­zen um­funk­tio­niert.

Wo ist der ver­flix­te Haus­sch­lüs­sel? Sie wühlt blind in ih­rer Ta­sche, bis sie das küh­le Me­tall spürt. Hin­ter sich hört sie ge­dämpft den Ver­kehr. Ge­läch­ter aus of­fe­nen Fahr­zeu­gen, von den Bal­ko­nen der um­lie­gen­den Häu­ser. Die Nacht ist noch nicht zu Ende. Mu­sik und der süße Duft von Phlox er­fül­len die Luft.

Be­vor sie auf­schlie­ßen kann, öff­net sich die Haus­tür. Ein jun­ger Mann hält ihr die Tür auf und ver­schwin­det gruß­los in der Dun­kel­heit. Im ers­ten Stock kracht eine Tür mit lau­tem Knall zu. Sie fragt sich, war­um das Paar noch zu­sam­men­lebt. Kein Tag ver­geht ohne laut­star­ke Aus­ein­an­der­set­zun­gen.

Sie steigt in den zwei­ten Stock, öff­net ihre Tür und hängt den Schlüs­sel­bund an den da­für vor­ge­se­he­nen Ha­ken da­ne­ben. Ein lei­ser Plumps. Gleich dar­auf streicht die Kat­ze um ihre Bei­ne. Nach­dem sie die San­da­len von den Fü­ßen ge­schüt­telt hat, nimmt sie die Kat­ze auf den Arm und geht mit ihr in die Kü­che. Sie steckt die Nase in ihr Fell. Lie­ber die Kat­ze als Ma­gnus. Er hat das Tier bei ihr ge­las­sen, er selbst hat den Auf­wand nicht ge­lohnt. Sie drückt die Kat­ze an sich.

Va­le­rie liebt ihre Woh­nung, ihr Al­lein­sein. Sie ist nicht da­für ge­macht, mit je­man­dem zu­sam­men­zu­le­ben. Die Woh­nung ist groß­zü­gig ge­schnit­ten und mehr als spar­sam mö­bliert. Ein be­que­mer Ses­sel. Ein paar Sitz­mö­bel von an­ge­sag­ten De­si­g­nern. Kü­che und ein gro­ßes Wohn­zim­mer ge­hen in­ein­an­der über, ein se­pa­ra­tes Schlaf­zim­mer, ein klei­nes Gäs­te­zim­mer. In al­len Räu­men brennt Licht. Sie lässt es an, wenn sie die Woh­nung ver­lässt.

Jetzt öff­net sie eine Dose für die Kat­ze und sieht ihr, ge­gen den Kü­chen­tre­sen ge­lehnt, eine Wei­le beim Fres­sen zu.

Auf der Ar­beits­plat­te liegt das fer­ti­ge Ma­nu­skript ne­ben dem Dru­cker. Mor­gen wird sie es in den Ver­lag brin­gen. Ge­ra­de noch ge­schafft. Die Ab­ga­be­ter­mi­ne sind streng ge­tak­tet. Das neue Buch soll zur Buch­mes­se im Ok­to­ber her­aus­kom­men. Sie streicht über den Ti­tel und sieht, dass der An­ruf­be­ant­wor­ter blinkt. Sie lässt ihn blin­ken, dann drückt sie ent­schlos­sen auf eine Tas­te. Lö­schen. Ihr Ver­lag, ihre Mut­ter oder Ma­gnus. Auf kei­nen von ih­nen ist sie scha­rf.

Sie holt den Weiß­wein aus dem Kühl­schrank, schenkt sich ein Glas ein und ver­lässt die Kü­che. Die Fla­sche nimmt sie mit. Va­le­rie öff­net die Bal­kon­tür. Sie ist kei­ne Blu­men­lieb­ha­be­rin, aber sie liebt den Duft von Kräu­tern. Wei­ßer Thy­mi­an, Ma­jo­ran, Zi­tro­nen­me­lis­se, Ba­si­li­kum und Ros­ma­rin wach­sen üp­pig in gro­ßen grau­en Kü­beln. Be­que­me Stüh­le, ein Tisch und eine brei­te Lie­ge. Sie lehnt am Ge­län­der und trinkt einen Schluck. Im Glas er­kennt sie ihr Spie­gel­bild. Sie weiß nicht, wie lan­ge sie hier steht. Um sie her­um ist es still.

»Wir ge­hen schla­fen«, ver­kün­det sie der Kat­ze.

Die Kat­ze sitzt be­we­gungs­los auf dem Tisch und fi­xiert sie. Nur die Schwanz­spit­ze zuckt. Als Va­le­rie im Bett liegt, starrt sie die De­cke an und denkt an Ma­gnus. Sie war­tet auf den Schmerz, aber da ist nichts, sie ver­misst ihn nicht, kei­ne Trau­er, kein Ge­fühl. In ihr bleibt es still.

Über das Bild von Ma­gnus schiebt sich ein an­de­res. Adam. Ver­flucht, war­um ist sie nicht ein­fach weg­ge­lau­fen, als sie ihn im Foy­er der Fa­brik­hal­le ent­deckt hat?

Du weißt, war­um.

Die Ähn­lich­keit die­ses Man­nes mit Sa­mu­el, ih­rer ers­ten und ein­zi­gen Lie­be, war frap­pie­rend, hat­te ihre Knie weich wer­den las­sen. Auch wenn sich beim Nä­her­kom­men die Ähn­lich­keit ver­lo­ren hat­te. Die An­zie­hungs­kraft war ge­blie­ben. Das Ge­fühl, die­sen Mann zu ken­nen. An die Stuhl­leh­ne ge­klam­mert, hat­te sie sich set­zen müs­sen. Nie mehr hat­te sie ge­fühlt wie da­mals, bis heu­te.

Du bist ge­flo­hen, wie du im­mer fliehst, wenn es um Ge­füh­le geht, denkt sie.

Va­le­rie wird vom Te­le­fon ge­weckt. Stöh­nend zieht sie sich ihr Kis­sen über den Kopf. Um die­se Uhr­zeit kann nur es eine sein. Ihre Mut­ter.

»Va­le­rie, ich weiß, dass du da bist.«

War­um ruft die­se Frau im­mer so früh an? Für sie be­steht doch kei­ne Ver­an­las­sung, zu nacht­schla­fen­der Zeit aus dem Bett zu sprin­gen. Ihre Mut­ter hat kei­nen Be­ruf, sie muss das Haus nicht ver­las­sen wie die Mehr­zahl ih­rer Ge­schlechts­ge­nos­sin­nen. Sie be­rich­tigt sich, war­um rufst du über­haupt an, Mut­ter?

Sie selbst hat einen An­lass auf­zu­ste­hen, jetzt. Ein Ter­min mit ih­rer Lek­to­rin im Ver­lag. Auf ih­rem Weg ins Bad füllt sie Was­ser und Fut­ter für die Kat­ze in zwei Näp­fe und setzt Kaf­fee auf. Nach dem zwei­ten An­ruf ih­rer Mut­ter an die­sem Mor­gen nimmt sie nun doch ab.

»Grace hier. End­lich«, hört sie ihre Mut­ter, als ob sie es nicht wüss­te. Für Va­le­rie ist sie im­mer nur Grace, Mut­ter ma­che sie alt.

»Ich bin in Eile.« Sie mus­tert sich im Spie­gel.

»Das bist du im­mer.«

»Ich habe einen Be­ruf.«

»Du schreibst, das ist et­was an­de­res. Ich möch­te euch zum Abend­es­sen se­hen.«

»Wen meinst du mit euch. Soll ich die Kat­ze mit­brin­gen?«

Va­le­rie hört ihre Mut­ter ein­at­men.

»Sei nicht al­bern.«

Wenn ich in dei­ner Ge­gen­wart et­was nicht füh­le, Mut­ter, ist es der Wunsch, al­bern zu sein.

Dann Grace Stim­me: »Was ist denn mit Ma­gnus? Er ist rei­zend und so gut er­zo­gen.«

»Das ist die Kat­ze auch. Wir ha­ben uns ge­trennt. Die Kat­ze hat er da­ge­las­sen.«

»Kannst du nicht ein­mal einen Mann hal­ten?« Grace dehnt das ein­mal the­a­tra­lisch. »Ich neh­me an, dass du nicht mehr lan­ge frucht­bar bist?«

Va­le­rie holt tief Luft. »Ich bin zwei­und­drei­ßig, nicht hun­dert. Im Ver­lag er­war­tet man mich.«

»Eine Frau muss einen Mann fin­den, be­vor sie völ­lig ab­sto­ße…«

Va­le­rie knallt den Hö­rer auf die Sta­ti­on und fragt sich, war­um die Ge­sprä­che mit ih­rer Mut­ter im­mer zu ei­nem Schlag­ab­tausch ge­lin­gen. Die Kat­ze ver­schwin­det mit ein­ge­klemm­tem Schwanz un­ter ei­nem Ses­sel. War­um är­gert sie sich im­mer wie­der über ihre Mut­ter? Aber na­tür­lich weiß sie es. Sie ist über­grif­fig und so takt­los, dass sie je­des Mal zu­sam­men­zuckt.

Va­le­rie läuft die Stu­fen hin­ab, zieht die Haus­tür hin­ter sich zu und steigt in das war­ten­de Taxi. Ihr Ma­nu­skript hat sie un­ter den Arm ge­klemmt, eine Um­hän­ge­ta­sche über der Schul­ter. Da die Da­tei längst bei Ruth liegt, ist es nicht nö­tig, es mit­zu­neh­men, aber sie will noch ein paar Stel­len, die sie mar­kiert hat, mit der Lek­to­rin be­spre­chen. Sie starrt blick­los aus dem Fens­ter. Erst als das Taxi den Mit­tel­weg über­quert, um über die Als­ter­chaus­see den Ha­r­ve­ste­hu­der Weg an­zu­steu­ern, wird sie wach. Sie muss sich auf die kom­men­den Ge­sprä­che kon­zen­trie­ren.

Das recht­e­cki­ge Ge­bäu­de des Ver­la­ges Neu­mey­er & Roth liegt in ei­nem schö­nen par­k­ähn­li­chen Ge­län­de an der Au­ßen­als­ter. Ruth er­war­tet sie. Die Chef­lek­to­rin ist längst zu ei­ner Freun­din ge­wor­den. Sie hat von An­fang an ihre Ro­ma­ne be­treut.

»Wie im­mer ein paar Mi­nu­ten zu spät.« Ruth um­armt sie. »Macht nichts, der Kaf­fee kommt gleich. Der Chef will dich nach­her auch noch se­hen, aber erst­mal ma­chen wir uns an die Ar­beit.« Sie lacht und zieht sie in ihr Büro.

Va­le­rie legt ihr Ma­nu­skript auf den aus­la­den­den Schreib­tisch und lässt sich stöh­nend in einen Ses­sel fal­len. »Mei­ne Mut­ter«, klagt sie.

»Was hat sie wie­der an­ge­stellt?«

Statt ei­ner Ant­wort fragt sie: »Bin ich ei­gent­lich schon völ­lig ab­sto­ßend?«

Ruth lacht ihr Laus­bu­ben­la­chen und nickt. »Du siehst gräss­lich aus.«

Was sie sieht, ist al­les an­de­re als reiz­los. Eine at­trak­ti­ve, er­folg­rei­che Frau, die nicht ahnt, wie ver­füh­re­risch sie ist. War­um weiß Va­le­rie das nicht?

»Wie kommst du jetzt da drauf?«

Va­le­rie schil­dert den mor­gend­li­chen An­ruf.

»War­um te­le­fo­nierst du über­haupt noch mit ihr?«

Va­le­rie steht auf und tritt ans Fens­ter. Sie blickt auf die glit­zern­de Als­ter und auf die im Son­nen­licht kreu­zen­den wei­ßen Se­gel. Auf die­se Fra­ge weiß sie kei­ne Ant­wort. Sie hat sie sich selbst schon tau­send­mal ge­stellt.

3 Juni

Adam steht seit fünf Uhr im Ge­wächs­haus. Ben schläft noch. Er hört sein lei­ses At­men aus dem Ba­by­pho­ne, das er ne­ben blü­hen­dem Sal­bei de­po­niert hat. Seit er Ben­ja­min bei sich hat, steht er früh auf, um so viel Zeit wie mög­lich mit ihm zu ver­brin­gen. Nichts hat ihn auf den Tag im letz­ten No­vem­ber vor­be­rei­tet. Er greift nach ei­ner Pflanz­kis­te und zieht sie zu sich her­an. Nicht dar­an den­ken! Aber er kann es nicht ver­hin­dern. Vor sei­nem in­ne­ren Auge taucht das sanf­te schö­ne Ge­sicht sei­ner Schwes­ter auf. Ben hat viel von ih­rer Sanft­heit, denkt er. Er blickt über die gro­ßen Me­tall­ti­sche. Es war Se­me­les Gärt­ne­rei nach dem Tod des Va­ters ge­we­sen. Adam ist Bio­lo­ge.

»Es ist nicht mein Ding, mir die Hän­de schmut­zig zu ma­chen«, hat­te er la­chend er­klärt, als es um die Nach­fol­ge ging.

Sein Va­ter gab sei­ne Gärt­ne­rei ger­ne in die Hän­de sei­ner Toch­ter und ließ sei­nen Sohn stu­die­ren. Jetzt steht Adam hier und packt die Pflanz­kis­ten, die heu­te aus­ge­lie­fert wer­den sol­len, er macht ge­nau das, was er nie ma­chen woll­te, er macht sich die Hän­de dre­ckig. Er weiß, wie sehr sein Va­ter und sei­ne Schwes­ter die Gärt­ne­rei ge­liebt ha­ben. Adam kann sie nicht auf­ge­ben. Schon des­halb nicht, weil sie al­les ist, was Ben von sei­nem klei­nen Le­ben ge­blie­ben ist.

»Wuff.«

Adam läuft los. Ben kann es nicht er­tra­gen, al­lei­ne zu sein, bes­ser, ohne ihn zu sein. Die klei­ne Hün­din Bel­la flitzt vor ihm her. Auch sie ein Erbe sei­ner Schwes­ter. Adam ist eher ein Kat­zen­mensch. Mit dem Tod sei­ner Schwes­ter und sei­nes Schwa­gers ist er Mut­ter und Va­ter zu­gleich.

Sie wa­ren auf dem Rü­ck­weg von sei­ner Par­ty ums Le­ben ge­kom­men. Er fühlt sich schul­dig. Na­tür­lich ist es nicht sei­ne Schuld, aber er kann den Ge­dan­ken ein­fach nicht ab­schüt­teln. Er sieht die Po­li­zis­tin mit ei­nem wei­nen­den Klein­kind auf dem Arm noch vor sich ste­hen.

»Ich muss Ih­nen lei­der mit­tei­len … Sind Sie der ein­zi­ge le­ben­de Ver­wand­te?«

Seit die­ser Zeit hat er Ben bei sich. Wo­chen­lang trägt er ihn auf dem Arm oder auf den Schul­tern. So­bald er ihn ab­setzt, klam­mert sich der Jun­ge an ihn wie ein Äff­chen. Ein­schla­fen ohne Adam, Fehl­an­zei­ge. Du­schen al­lei­ne kommt nicht in Fra­ge. Zu An­fang war es läs­tig, jetzt, nach acht Mo­na­ten, fehlt ihm et­was, wenn der Klei­ne mal nicht auf sei­nen Schul­tern hockt. Ben sitzt im Bett, den Blick fest auf die Tür ge­rich­tet. Er weint nicht, er war­tet. Adam kämpft ge­gen die Trä­nen an. Er nimmt den Jun­gen auf den Arm und küsst ihn aufs asch­blon­de Haar. So blond und wi­der­bors­tig wie sein ei­ge­nes.

»Gu­ten Mor­gen, mein Klei­ner. Auf geht’s. Jetzt gibt’s Früh­stück.«

Ben schlingt sei­ne Ärm­chen um Adams Hals. »Dada.«

»Ich bin da. Und schau, da ist auch Bel­la.«

»Bel­la«, wie­der­holt Ben.

Die Hün­din sieht ihn aus hell­blau­en Au­gen an. Ein Ohr hängt be­küm­mert nach un­ten, das an­de­re steht fra­gend in die Höhe. Sie zeigt ein schie­fes Lä­cheln, wenn sie eine Lef­ze hoch­zieht.

 

Eine Schön­heit ist sie nicht, denkt Adam. Aber sei­ne Schwes­ter moch­te sie. Und auch Ben liebt sie. Er lässt ihn nur los, um hin­ter Bel­la her­zu­lau­fen. Das gibt ihm die Zeit, sein Müs­li vor­zu­be­rei­ten. Wi­ckeln, wa­schen, füt­tern, al­les ist zur Rou­ti­ne ge­wor­den.

Vor der Tür wird es laut. Ein Mo­ped rat­tert über den Hof.

»Hin­nerk«, sagt Adam.

Ben nickt und schiebt sich einen Löf­fel Müs­li in den Mund. Er spricht nicht viel.

»Moin, bin da.« Hin­nerk steckt den Kopf durch die Tür, winkt kurz und geht in Rich­tung der Ge­wächs­häu­ser. Auch Hin­nerk spricht nicht viel.

Der Mor­gen ist noch frisch, aber die Luft er­wärmt sich fühl­bar. Es wird wie­der ein war­mer Tag wer­den. Ben kratzt sorg­fäl­tig sei­ne Schüs­sel sau­ber.

Mehr­mals hat eine Dame vom So­zi­al­amt Adam be­sucht:

»Ben ge­hört in einen Kin­der­gar­ten. Er ist in sei­ner Ent­wick­lung zu­rück.«

»Was mei­nen Sie da­mit?«

»Er spricht nicht, geht nicht auf mich zu, wie … norm… an­de­re Kin­der es tun wür­den.«

Er ver­kniff sich eine scha­r­fe Ant­wort. Ich wür­de auch nicht auf dich zu­ge­hen, Zi­cke. Er ver­kniff sich auch den Hin­weis, dass Ben den Un­ter­schied zwi­schen Sal­bei, Thy­mi­an, Ros­ma­rin und noch so ei­ni­gen an­de­ren Kräu­tern kennt.

»Und, so­weit ich se­hen kann, ist er auch noch nicht tro­cken.«

»Das war ich in sei­nem Al­ter auch noch nicht«, sag­te er. »Ich habe noch mit fünf in die Hose ge­pisst, und wenn mein Nef­fe das möch­te, darf er das auch.«

Er grinst, als ihm die­se Sze­ne ein­fällt, und stellt Bens in­zwi­schen säu­ber­lich leer ge­kratz­te Schüs­sel in die Spü­le.

»Wir ge­hen jetzt ar­bei­ten«, sagt er und hebt Ben vom Kin­der­stuhl.

Hin­nerk ist da­bei, die ge­pack­ten Kis­ten auf dem Prit­schen­wa­gen zu sta­peln. Das Auto mit der Auf­schrift: S. Frank Gar­ten­bau steht jetzt vor den Glas­häu­sern.

S. Frank steht für: Si­mon, sei­nen Va­ter, und Se­me­le, sei­ne Schwes­ter. Er hat es nicht über sich ge­bracht, sei­nen ei­ge­nen Buch­sta­ben da­vor­zu­set­zen. Nicht ein­mal die Web­si­te hat er ak­tu­a­li­siert. Er ver­misst sie bei­de noch zu sehr. Viel­leicht wür­de ei­nes Ta­ges ein B für Ben dazu kom­men.

»Ist das al­les?« Hin­nerk steht vor ihm und deu­tet auf die Kis­ten.

»Nein, eine fehlt.« Adam kon­sul­tiert ein klei­nes Heft, das er aus der Ta­sche sei­ner Jeans zupft. »Hier. Thy­mus prae­cox, wei­ßer Thy­mi­an.«

Ben zieht ihn ziel­si­cher in die rich­ti­ge Rich­tung, dort­hin, wo die vor­ge­zo­ge­nen Thy­mi­an­pflan­zen ste­hen.

»Sehr gut, mein Klei­ner.«

Hin­nerk lacht. »Du musst ihm bald Ge­halt zah­len. Auf mich kannst du dann ver­zich­ten.«

Adam nickt. »Nur das mit dem Füh­rer­schein muss noch war­ten.«

Er packt noch eine wei­te­re Kis­te mit den win­ter­har­ten Pflan­zen und klebt einen Zet­tel mit der Adres­se an die Sei­te. Hin­nerk ist schon im­mer hier ge­we­sen. Er ist mit Leib und See­le Gärt­ner. Er wüss­te nicht, was er ohne ihn tun soll­te. Adam spürt ein Zie­hen. Er wäre ger­ne selbst ge­fah­ren, aber das macht er nicht. Die Be­stel­lun­gen aus­zu­fah­ren und die Be­pflan­zung der Stadt­bal­ko­ne und Gär­ten über­lässt er Hin­nerk. Er fühlt Bens Hand in sei­ner. Es ist rich­tig, was er tut. Ben setzt sich nicht ger­ne in ein Auto.

Adam nimmt sich den Ord­ner mit den Bil­dern. Von je­dem der Bal­ko­ne macht Hin­nerk ein paar Auf­nah­men, na­tür­lich mit der Er­laub­nis der Be­sit­ze­rin­nen, manch­mal so­gar mit ei­nem Sel­fie sei­ner Kun­din­nen. Fast im­mer sind es Frau­en, die sich an sei­ne Fir­ma wen­den. In Ge­dan­ken fährt er mit Hin­nerk durch Ham­burg, lie­fert die be­stell­ten Pflan­zen aus und pflanzt sie auf Wunsch gleich in Kü­bel und Käs­ten ein. So­weit er se­hen kann, hat er seit dem Tod sei­ner Schwes­ter kei­ne Kun­den ver­lo­ren. Hin­nerk hat of­fen­sicht­lich sehr gute Ar­beit ge­leis­tet. Die Frau­en mö­gen Hin­nerk. Aber Adam hü­tet sich, das aus­zu­spre­chen. Mit sei­ner tie­fen Stim­me und der ru­hi­gen Art wirkt Hin­nerk ver­trau­ens­wür­dig. Er klappt den Ord­ner zu. Es gibt viel zu tun.

Er geht mit Ben zu dem klei­nen, mit ro­ten Zie­geln um­mau­er­ten Gar­ten hin­ter den Glas­häu­sern. Dort pflanzt er Heil­kräu­ter an. Heil­kräu­ter, die im­mer auch Gift­kräu­ter sind. Des­halb schärft er Ben ein­dring­lich ein, dass er nie, nie­mals ohne ihn, die­sen Teil des Gar­tens be­tre­ten darf. Aber Ben geht ohne ihn nir­gend­wo hin. Dar­über muss er sich noch kei­ne Sor­gen ma­chen. Vor der ro­ten Zie­gel­mau­er blüht die schöns­te und höchs­te sei­ner Pflan­zen, der tief­blaue Ei­sen­hut, gif­tig bis in jede sei­ner Fa­sern.

Eine Gift­pflan­ze mit kri­mi­nel­ler Ver­gan­gen­heit. Sie muss­te über Jahr­hun­der­te als Mord­in­stru­ment her­hal­ten. In all ih­ren Pflan­zen­t­ei­len steckt Al­ka­lo­id Aco­ni­tin, das be­reits in ge­rin­gen Men­gen töd­lich wirkt. Die töd­li­che Do­sis bei Er­wach­se­nen liegt bei zwei bis vier Gramm der Wur­zel. Das ent­spricht ein bis zehn Mil­li­gramm Aco­ni­tin pro Ki­lo­gramm Kör­per­ge­wicht. Der Tod tritt meist in­ner­halb we­ni­ger Stun­den ein, durch Herz­ver­sa­gen und Atem­läh­mung.

Der be­rühm­tes­te Mord mit Ei­sen­hut hat­te sich wohl an Kai­ser Clau­di­us im al­ten Rom zu­ge­tra­gen. Sei­ne Gat­tin und ihr Leib­a­rzt sol­len ihm gif­ti­ge Pil­ze un­ter das Es­sen ge­mischt ha­ben. Er konn­te sich da­nach noch in sei­ne Ge­mä­cher schlep­pen, in der Ab­sicht, mit ei­ner Vo­gel­fe­der einen Wür­ge­reiz her­vor­zu­ru­fen. Die­se Vo­gel­fe­der al­ler­dings war ge­tränkt mit ei­nem Ex­trakt aus Ei­sen­hut, was letzt­end­lich zu sei­nem Tod ge­führt ha­ben soll.

Ben bleibt ein Stück weit da­von ent­fernt ste­hen, wie Adam es ihm bei­ge­bracht hat. Selbst die Be­rüh­rung ist ge­fähr­lich.