Floria Tochter der Diva

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Klavierunterricht

Dieses gesunde kräftige Kind ließ sich gerade von Floria hoch in den Himmel schaukeln.

Emma schmunzelte. Sie sah den beiden zu.

»Floria, darf ich jetzt Klavierspielen?«

»Wenn du möchtest.«

»Weißt du, im Kindergarten darf ich manchmal auch spielen.«

»Ach ja? Dann weißt du schon, wie es geht?«

»Aber nur ein bisschen.« Katja hopste von der Schaukel. »Emma, kommst du mit?«

»Nein Katja, ich will im Garten bleiben. Mach die Fenster auf, damit ich dich hören kann.«

Gleich darauf flogen die ersten Töne zu ihr hinaus. Hänschen klein. Im ersten Moment glaubte sie, Floria spielen zu hören.

»Das kannst du aber schon sehr gut.« Florias Stimme.

Wo hatte das Kind das gelernt? Emma schüttelte verwundert den Kopf. Sie wusste von der Abneigung Julians, Klaviermusik zu hören. Sie erinnerte ihn zu sehr an Ines.

Floria dachte, wenn dies das Ergebnis weniger Stunden im Kindergarten war, würde Julian es nicht schaffen, Katja vom Klavier fernzuhalten. Das Mädchen glühte vor Begeisterung. Sie spielte das einfache Kinderlied nicht nur herunter, sie begann zu interpretieren, spielte mal langsamer, mal schneller.

Ich muss dich davon überzeugen, dass du solch ein Talent nicht einfach brachliegen lassen darfst, mein Lieber. Sie beschloss mit Julian zu sprechen.

»Zeigst du mir noch mehr?«

»Ganz bestimmt, Katja. Aber erst will ich mit deinem Papa sprechen.«

»Er wird es nicht erlauben.«

Oh, doch meine Kleine. Glaub mir, er wird, wenn ich mit ihm fertig bin!

» Komm jetzt, Katie. Es ist Zeit, das Abendessen zu machen.« Vor der Zimmertür saß Ramses. »Was tust du hier? Du musst draußen bleiben.« Normalerweise gehorchte der Hund. Er durfte selten mit ins Haus.

»Er wollte die Musik hören. Er hat Mamá immer zugehört.«

»Deine Mamá hat Klavier gespielt?«

Katja nickte und schob die Küchentür auf.

»Emma, soll ich den Tisch decken?«

»Wenn du magst, kannst du mir dabei helfen.«

»Hast du die Musik gehört?«

»Ja, es war wunderhübsch.«

»Darf ich bei dir essen? Bei Dad gibt’s immer nur Nudeln.«

»Aha, du magst also meine Nudeln nicht?« Julian stand mit Florias Kleidertüte in der Tür.

»Oh, doch, aber nicht jeden Tag. Schau, Emma hat wieder Kartoffelsuppe gekocht.« Katja deutete auf ein Schneidebrett. »Und da liegen Würstchen. Die reichen für uns alle.«

»Hast du Emma gefragt?«

Dem Blick, mit dem Katja zu Emma aufschaute, hätte niemand widerstanden.

»Julian, es reicht für uns alle, wenn nicht, halte ich den Topf unter den Wasserhahn.« Emma zog ein Messer aus dem Block. »Eigentlich wollten auch Alex und Thomas noch kommen.«

Wie aufs Stichwort hörte man ein Auto vorm Haus halten und gleich darauf Türen schlagen.

Katja rannte los, um die Besucher zu begrüßen.

»Du verwöhnst sie«, sagte Julian.

»Ja«, meinte Emma, »dafür sind Großmütter da.«

Floria stand am Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie dachte an das, was Katja ihr gesagt hatte. Ramses musste demnach mindestens fünf Jahre alt sein. Sie würde Emma fragen. Vielleicht wusste sie, warum Julian so ablehnend auf den Wunsch seiner Tochter reagierte.

Ihr Handy vibrierte. »Ich bin gleich da, wartet nicht mit dem Essen auf mich.«

Floria lachte. »Längst erledigt. Bis gleich, Susan.«

»Wann kommt Susan zurück?« Emma saß mit Julian am Küchentisch. Zwischen ihnen standen einige halbvolle Gläser und eine Flasche Rotwein. Daneben lag verwaist das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, das sie mit Katja gespielt hatten.

»Sie sitzt im Taxi auf dem Weg hierher.«

Alex und Thomas hatten sich für ihre Schachpartie an den Tisch vor dem Sofa zurückgezogen, auf dem Katja inzwischen eingeschlafen war.

Thomas fragte: »Wer ist Susan?«

»Florias Freundin«, grummelte Alex. »Und nun konzentriere dich bitte auf deinen Zug. Du wirst mal wieder verlieren.«

Ramses schlug kurz an.

»Meine Güte, was für ein Monster. Haben Sie keine Angst, Julian, dass er Ihre Tochter eines Tages frisst?«

Susan stand in der Küchentür, erhitzt und strahlend. Sie entledigte sich ihrer hochhackigen Schuhe, indem sie einen nach dem anderen von den Füßen schüttelte, und warf den Mantel über den nächsten Küchenstuhl. Die Einkaufstüten ließ sie neben der Tür fallen.

Floria dachte, was für ein Auftritt. Du hast es wirklich drauf. Und du siehst aus wie eine Frau, die befriedigenden Sex oder einen ebenso befriedigenden Einkaufsbummel hinter sich hat. Ihr fiel der Tenor ein, mit dem sich ihre Freundin hatte treffen wollen. Vermutlich hattest du beides. Sie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

»Guten Abend, Emma.«

»Guten Abend, Liebes, wir haben eine Garderobe.«

Emma betrachtete die Unordnung, die Susan innerhalb von Sekunden um sich herum verbreitet hatte.

Susan lachte. »Entschuldige, Emma.«

Sie sammelte ihre Sachen zusammen und verschwand. Als sie wieder erschien, saß Thomas immer noch mit halb geöffnetem Mund auf seinem Stuhl. Das Schachspiel mit Alex hatte er vollkommen vergessen.

»Susan, das ist Doktor Müller, Emmas Hausarzt.«

»Thomas«, sagte er, als Susan ihm die Hand reichte.

»Susan.«

Julian schnappte sich seine verschlafene Tochter. »Nach Hause mit dir, mein Liebling.« Sie schlang ihre Arme um Julians Hals. Über seine Schulter hinweg sah sie zu Emma. »Darf ich morgen wieder kommen?«

»Ja, Katja, das darfst du.«

Floria begleitete die beiden bis zur Haustür. Ramses erhob sich und folgte Julian und Katja. Hatte er seine kleine Herrin adoptiert, nachdem ihre Mutter gestorben war? Rührend, dachte sie. Dieses graue Monster, wie Susan Ramses nannte, ließ Katja niemals aus den Augen, so, als argwöhnte er, er könne auch sie verlieren.

Floria schaute ihnen lange hinterher.

Mit Laura Sontheims Hilfe, der Unterstützung eines Stimmtrainers und eines Pianisten hatte Floria vor einigen Wochen begonnen, sich die Arien, die Christof ihr geschickt hatte, zu erarbeiten.

Zweimal in der Woche fuhr sie in die Stadt.

Wenn Laura nicht gewesen wäre, hätte sie aufgegeben. Die Lieder und Arien waren anspruchsvoll. Sie musste die Musik auswendig lernen, das dauerte lange und sie war nie mit sich zufrieden. Noch hatte sie mit Susan nicht darüber gesprochen. Sie wollte sicher sein, dass sie es schaffte, nicht aufzugeben, bevor sie es ihr sagte.

So als ob Christof sein Schicksal vorausgeahnt hätte, ging es, wie in den großen Konzertarien von Haydn, Beethoven, Mozart und Mendelsohn, um Sehnsucht und Liebe, Abschied und Tod. Komm zurück, mein Liebster.

Oft genug brach sie in Tränen aus, wenn sie die Texte las. Aber langsam brach ihr innerer Widerstand, sich der Realität seines Todes zu stellen.

Je mehr sie sich darauf einließ, desto besser ging es ihrer Stimme.

Dennoch, sie fiel immer wieder in tiefste Verzweiflung, was den Umgang mit ihr, weder für sie selbst, noch für ihre Umgebung, einfach machte.

Christof hätte sich gewünscht, dass sie sang. Und nun rang sie darum, seinen letzten Wunsch zu erfüllen.

Deine Stimme in meinem Herzen.

Die Straße vor ihr war leer. Sie stand noch vor der Tür und blickte in die Dunkelheit, in der Julian mit Katja und Ramses längst nicht mehr zu erkennen waren. Sie würde Katja vermissen. Die Klavierstunden mit ihr. Die Begeisterung dieses kleinen Mädchens hatte sie angesteckt. Sie erinnerte sie an die Leidenschaft, mit der sie selbst sich der Musik hingegeben hatte.

Alex und Thomas drängelten an ihr vorbei. »Gute Nacht, Floria.«

Floria verschloss die Haustür. Sie würde alle hier vermissen, wenn sie wieder anfinge zu arbeiten.

In der Küche hörte sie Emmas Gelächter.

»Ja, Susan, das solltest du tun. Ich habe auch den Eindruck, dass du ein ganz klein wenig heiser klingst. Thomas ist aber kein Hals-Nasen-Ohrenarzt.«

»Macht nichts. Ich werde mich morgen mal bei ihm anmelden.« »Brich ihm nicht das Herz.«

»Ich werde sehr vorsichtig sein, Emma. Versprochen.«

Ach Susan, dachte Floria. Du verliebst dich jeden Tag neu.

Susan und Thomas

Gegen Abend hatte Susan ihren Termin in Thomas’ Praxis.

Floria saß mit Emma allein in der Küche. Sie hatten die Fenster weit geöffnet. Eine Amsel sang auf dem höchsten Ast des Apfelbaumes ihr Abendlied. Die Töne schraubten sich immer höher in den Himmel.

»Wie schön.« Emma hob den Kopf und schlug ihr Buch zu. »Komm, Kind!« Sie verstanden sich ohne Worte. Arm in Arm schritten sie durch den Garten. Im hinteren Teil stand versteckt eine Gartenbank.

»Ach, Emma, wie oft haben wir hier gesessen und der Amsel zugehört. Ob es immer noch dieselbe ist?« Sie seufzte. »Ich war in den letzten Jahren viel zu selten hier.«

Emma drückte Florias Arm. »Du warst immer bei Alex und mir. Wir haben die Musik, die du uns geschickt hast, gehört und viel von dir gesprochen.«

»Emma …«

»Ich weiß, Kind, du musst wieder gehen, es ist dein Leben. Deine Karriere.«

Floria berichtete Emma von ihren Fortschritten bei Laura und dass sie endlich Erfolg bei ihrem Stimmtrainer hatte.

»Ich habe vor Wochen die Kopie von Christofs Liedern an einen befreundeten Dirigenten geschickt und ihn gebeten mir mitzuteilen, was er davon hält.«

 

Kurt war nicht irgendein Dirigent. Mit ihm arbeiten zu dürfen, war Privileg und Herausforderung zugleich. Er hatte ihr einmal gesagt: »Du weißt, dass ich deine Stimme liebe.« Ein ungeheures Kompliment.

Sie sprach von ihrer Hoffnung, dass Kurt die Einspielung der Lieder und Arien, die Christof Corman für sie komponiert hatte, übernehmen würde.

»Wenn er das tut, muss ich gehen.«

»Emma?« Alex marschierte auf sie zu. »Hier seid ihr also. Hab ich es mir doch gedacht.«

Er ließ sich neben Emma auf die Bank fallen und seufzte.

»Diese jungen Leute. Kein Verlass mehr. Sagt mir doch dieser junge Dachs in letzter Sekunde ab.«

»Von wem sprichst du mein Lieber?«

Emma legte ihre Hand auf Alex’ Arm.

»Na, von Thomas natürlich. Wir wollten Schach spielen.«

»Hat er dich etwa sitzen lassen, mit welcher Begründung?«

»Er will essen gehen, mit deiner Freundin!« Alex beugte sich nach vorn und sah anklagend an Emma vorbei Floria an.

»Weiber«, quengelte er.

Floria und Emma prusteten gleichzeitig los. Alex schüttelte fassungslos den Kopf. »Was?«

»Du Armer«, Emma streichelte seine Hand. »Unfassbar, dass ein gesunder junger Mann lieber mit einer schönen Frau ausgeht, als mit einem alten Kerl wie dir Schach zu spielen.«

Floria wischte sich die Lachtränen aus den Augen und stand auf.

»Mir wird es zu kalt, lasst uns reingehen. Wir könnten Halma spielen, so wie früher.«

»Oder Mensch-ärgere-dich-nicht«, schlug Emma amüsiert vor.

»Ich bemerke, wenn mich jemand nicht ernst nimmt, Emma.« Alex reichte ihr liebevoll den Arm und ging mit ihr zurück zum Haus.

»Post.«

Susan warf den Stapel achtlos auf den Küchentisch. Sie gähnte ausgiebig und griff nach der Kaffeekanne.

»Spät geworden, gestern? Ich hab dich gar nicht mehr kommen hören.«

»Ja, es war spät. Ich habe mich bemüht leise zu sein.«

»Erzähl, wie war es? Alex hat sich beschwert, dass seine Schachpartie ausfallen musste.«

»Thomas ist es sichtlich schwer gefallen, ihm abzusagen.«

»Wie ich dich kenne, hast du ihm keine Wahl gelassen«, meinte Floria.

»Nein, natürlich nicht.«

»Armer Thomas, er hat keine Chance.«

»Der wird schon wissen, was er tut. Alles Werbung«, murmelte Emma, während sie durch die Kuverts blätterte.

Einen der Umschläge reichte sie Floria. »Für dich.«

Floria sah auf den Absender. Eine flüchtige Röte überzog ihr Gesicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Kurt handschriftlich antworten würde.

Hoffentlich ist das kein schlechtes Zeichen, dachte sie.

Bevor sie es verhindern konnte, hatte Susan den Umschlag an sich genommen und umgedreht.

»Seit wann korrespondierst du mit Kurt?«

»Das geht dich nichts an.« Sie riss ihrer Freundin den Brief aus der Hand. Susan war unglaublich neugierig, aber sie tratschte nicht. Was man ihr anvertraute, behielt sie für sich.

»Willst du den Brief nicht lesen?« Emma sah sie über ihre Brille hinweg an.

»Ich trau mich nicht, ihn zu öffnen.«

»Könnt ihr mich vielleicht mal an eurem Gespräch teilhaben lassen?«

Endlich weihte Floria Susan ein.

»Ich wollte dir nichts sagen, bevor ich nicht sicher war, ob ich durchhalten würde.«

»Ich sollte dir die Freundschaft kündigen. Es wäre nicht nötig gewesen, mich auszuschließen.«

»Ich weiß, Susan. Aber für mich war es richtig.« Floria reichte Susan den Brief zurück. »Öffne ihn für mich, bitte.«

Susan schlitzte das Kuvert auf, überflog kurz den Inhalt des Schreibens und gab es Floria »Alles gut, er ist begeistert!«

April

Zwei Wochen später war Susan in die USA geflogen. Floria hatte sie zum Flughafen gebracht.

»Wenn Thomas mich hinbringt, werde ich nicht einsteigen können.«

Noch nie hatte Floria ihre Freundin so aufgewühlt gesehen. Susan war emotional ein Schmetterling. Sie flatterte von Blüte zu Blüte, ohne mehr davonzutragen, als ein klein wenig goldenen Staub. Jetzt schienen ihre leichten Flügel schwer geworden zu sein. Sie hatte sich zum ersten Mal ernsthaft verliebt. Als sie sich zum Abschied umarmten, heulte sie wie ein Kleinkind.

»Susan, er läuft dir nicht weg. Ich werde auf ihn achtgeben, versprochen.«

Floria blickte ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Wann würde sie selbst sich wieder verlieben können? Sie war noch nicht bereit für eine neue Liebe, die Wunde, die Christofs Tod hinterlassen hatte, noch nicht ausgeheilt.

Aber sie würde wieder singen. Dank Laura hatte Floria ihr Selbstvertrauen und damit ihre Stimme wiedergefunden.

Kurt hatte zugesagt, Christofs Lieder mit ihr einzuspielen. Er würde leben, solange seine Musik lebte.

Sie stand inzwischen vor einer riesigen Glasscheibe, an der Millionen Regentropfen herabliefen. Undeutlich sah sie das Flugzeug in den Himmel steigen, das eine vermutlich immer noch schluchzende Susan mit sich nahm. Nicht mehr lange, dachte sie. Dann würde auch sie Emma wieder verlassen müssen. Ich werde die Wohnung in New York verkaufen.

Sie konnte ebenso gut ihren Wohnsitz in Europa haben. Warum sollte sie nicht sogar bei Emma bleiben? Zu ihren Engagements konnte sie von hier aus genauso problemlos gelangen wie aus jeder beliebigen großen Stadt. Nein, sie wollte Emma nicht mehr so lange allein lassen, wie sie das in der Vergangenheit getan hatte. Emmas Zeit wurde knapp. In Rom, bei ihrer Mutter zu leben, erwog sie nicht eine Sekunde. Nach ihrem letzten wütenden Gespräch mit Diane war ohnehin Funkstille. Wütend war die Untertreibung des Jahres. Wenn sie an das Telefonat mit ihrer Mutter zurückdachte, kochte sie noch immer.

»Ich hatte zu viel zu tun, um dir auch noch deine Briefe hinterher zu schicken«, hatte Diane ihr auf ihre Frage nach der Post, die Susan ihr geschickt hatte, erklärt. »So wichtig kann das alles ja nicht gewesen sein.«

»Aber mir wäre es wichtig gewesen, zu wissen, wann Christofs Beerdigung stattfinden würde.«

»Er war eine Affäre, weiter nichts.«

An diesem Punkt der Auseinandersetzung war Floria ausgerastet.

»Hörst du dir manchmal selber zu? Nicht nur meine Post ist dir nicht wichtig, auch ich bin es nicht. Nie gewesen.«

»Nimm dich nicht zu ernst, Floria. Sieh dich doch an. Deine Rollen sind längst anderweitig besetzt. Melden sich denn deine alten Kollegen noch? Haben sie dich nicht längst vergessen?«

Floria schnappte nach Luft. Aber es kam noch schlimmer.

»Und sieh dir deine geliebte Emma an. Mein Vater war kaum unter der Erde, als sie sich schon mit Alex einließ.«

Sie konnte nicht glauben, was sie gerade hörte. »Jeder ist ersetzbar, Floria. Jeder!«

»Ja! Und das gilt auch für dich, MUTTER«, stieß sie hervor, obwohl sie wusste, dass Diane es hasste, Mutter genannt zu werden.

Floria war immer klar gewesen, dass Diane nicht die ideale Mutter sein konnte, oder wollte. Aber sie hatte nicht geahnt, wie sehr ihre Mutter sie ablehnte. Was war nur mit ihnen geschehen?

Floria durchquerte die Flughafenhalle und rannte durch den Aprilregen hinüber zu dem schützenden Dach, unter dem sie ihr Auto geparkt hatte. Nach wenigen Sekunden war sie klitschnass.

»Mist«, sie schüttelte sich. Emma behauptete, ein nasser April würde eine reiche Ernte bringen und die Blumen im Sommer besonders schön blühen lassen. Was den Garten betraf, machte ihr so schnell keiner was vor, meistens hatte sie recht. Ihr wäre allerdings ein nicht ganz so nasser Monat lieber gewesen.

Kapitel 2
Juni in New York

New York flimmerte vor Hitze. Die Klimaanlagen liefen auf Hochtouren. Floria hielt sich seit einigen Wochen hier auf, nicht nur, um mit ihrer Agentin zu sprechen und neue Kontakte zu knüpfen. Stundenlang war sie, trotz der Hitze, durch die Straßen gewandert. Sie hatte sich von Freunden und Kollegen wie von der Stadt selbst verabschiedet. Sie würde ihren Entschluss, in Europa zu leben, wahr machen.

Jetzt saß sie zwischen Umzugskisten in ihrer kahlen Wohnung und wartete auf den Wagen, der ihre Sachen abholen sollte. Sie hatte ihr kleines Appartement möbliert verkauft. Nur ihre ganz persönlichen Dinge hatte sie eingepackt, um sie nach Europa verschiffen zu lassen. Bücher, Bilder und ihre alten Schallplatten wollte sie bei Emma lagern.

Der Abschied von ihrer zweiten Heimat fiel ihr nicht leicht. Ja, das war New York für sie geworden, eine zweite Heimat.

Obwohl die Proben begonnen hatten, nahm Susan sich die Zeit, Floria so oft wie möglich zu sehen. Susan würde an der Met die Klytämnestra singen in Richard Strauss’ Oper ‚Elektra’.

Florias Blick fiel auf das Abendkleid, das auf ihrem Bett ausgebreitet lag. Heute abend sollte die Premiere stattfinden.

Sie hatte lange überlegt, ob sie schon so weit war, sich den Blicken der Öffentlichkeit auszusetzen.

Floria konnte überall hingehen, ohne erkannt zu werden. Ungeschminkt und in ihren Alltagsklamotten blieb sie so gut wie immer unerkannt. Im Foyer der Oper würde das nicht so sein. Hier war das Publikum, das sie sicher viele Male auf der Bühne gesehen hatte. Einige der Opernbesucher würden sich noch an die Aufführung der Tosca erinnern, in der ihre Stimme versagt hatte.

Sie dachte an die Presse, Journalisten, die sie zweifellos entdecken und ansprechen würden. Aber auch der Gedanke an die Kollegen, die sich von ihr zurückgezogen hatten, machte ihr Sorgen. Wie sollte sie ihnen begegnen?

Floria sah sich noch einmal um. Sie hatte ihre kleine Wohnung geliebt. Hierher hatte sie sich mit Christof zurückgezogen, wenn er sich in New York aufhielt. Mit der Wohnung gab sie die Erinnerungen an ihre Liebe nicht auf, aber sie konnte endlich loslassen. Sie fühlte sich der Welt wiedergegeben. Entschlossen zog sie die Eingangstür hinter sich zu und folgte den Männern, die ihre Kisten im Aufzug verstauten. Unten in der Halle hinterließ sie ihren Schlüssel und verabschiedete sich von Bill. Sie war versucht, ihn zum Abschied zu umarmen.

Der Doorman war ihr unentbehrlich gewesen. Er stand in seiner eleganten Livree entweder vor der Glastür des Apartmenthauses oder saß hinter einem ausladenden Tisch in der Eingangshalle. Bill wimmelte unwillkommene Besucher ab, nahm Päckchen in ihrer Abwesenheit entgegen und gab ihre Wünsche an den Hauswart weiter, wenn zum Beispiel der Wasserhahn tropfte.

Der Doorman war eine Mischung aus Sicherheitsbeamtem und Empfangschef, aus Telefonvermittler und Botenjungen. Ein zuvorkommender freundlicher Ansprechpartner für die Bewohner des Hauses.

Jetzt trat er an den Rand der Straße und ließ einen durchdringenden Pfiff hören. Nachdem er ihr Gepäck sorgfältig im Taxi verstaut hatte, trat er einen Schritt zurück.

»Danke, Bill. Für alles.« Sie reichte ihm die Hand.

»Wir werden Sie vermissen, Floria.«

»Ich werde bald wieder hier sein, Bill. Für meine erste Vorstellung an der Met schicke ich Ihnen Karten.«

Floria blickte nicht mehr zurück, sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie sah nicht, dass auch Bill sich diskret eine Träne aus dem Auge wischte.

Er dachte an die kleinen Besorgungen, die er für sie hatte machen dürfen. Natürlich hatte auch er vom Verlust ihrer Stimme gelesen. Jetzt zu hören, dass sie wieder auftreten würde, freute ihn. Und er wusste, dass sie an ihn dächte, wenn sie wieder auf der Bühne stand. Er bedauerte zutiefst, dass sie New York verließ. Nicht viele seiner Schützlinge waren so reizend wie sie. Sie war eine wahre Diva, andere benahmen sich nur so.

Floria ließ sich zu einem Hotel in der Nähe der Metropolitan Opera chauffieren. Hier wollte sie die letzte Nacht verbringen.

Morgen … Sie dachte an Katja, während sie die Hotelhalle durchquerte, sah noch ihr vor Kummer verzogenes kleines Gesicht.

Julian hatte angeboten, sie zum Flughafen zu fahren. Natürlich mit Katja. Als sie zurückblickte, um noch einmal zu winken, stand Katja an Julians Hosenbeine gepresst. Sie weinte bitterlich. Floria sah, wie er seine Tochter auf den Arm nahm, sich umdrehte und Richtung Ausgang verschwand. In diesem Augenblick hatte sie geglaubt, etwas Kostbares zu verlieren, und sich entsetzlich einsam gefühlt. Ich sehe dich bald wieder, meine Kleine.

 

Am Abend trat sie aus ihrem Hotel auf die Straße. Noch immer glühte die Stadt. Ihre Absicht, zu Fuß zur Met zu gehen, verwarf sie. Sie ließ sich vom Portier ein Taxi rufen.

Ihr erster Auftritt in der Öffentlichkeit, nach beinahe einem Jahr.

Sie trug ein schwarzes langes Kleid mit auf dem Rücken gekreuzten Spaghettiträgern. Die blonden Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten geschlungen. Floria trug keinen Schmuck. Die Blicke, die ihr folgten, nahm sie nicht wahr.

Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie das Foyer betrat. Am liebsten wäre sie geflüchtet.

Wenn du je wieder hier auf der Bühne stehen willst, musst du durchhalten, Floria Mura. Heute sollst du nur durch diese Halle gehen.

Verhaltenes Klatschen hier und da ließ sie aufblicken.

»Frau Mura. Schön, Sie zu sehen.«

Ja, das galt offensichtlich ihr. Sie sah ein paar Kollegen und in die erwartungsvollen, freundlichen Gesichter einiger Besucher, die sie erkannten. Ein Reporter hielt ihr ein Mikrofon vors Gesicht.

»Frau Mura, werden Sie wieder auftreten?«

Floria lächelte. »Heute Abend nicht.«

Sie wandte sich an die Zuschauer.

»Ich danke Ihnen.«

»Komm!« Erleichtert hörte sie eine vertraute Stimme. Susan hatte ihr Gretchen geschickt.

»Die Vorstellung beginnt in einer halben Stunde. Wir haben keine Zeit.«

Gretchen war immer für ihre Kostüme zuständig gewesen. Und wenn sie jetzt hier war, um sie zu Susan hinter die Bühne zu bringen, bedeutete das, dass ihre Freundin fertig angekleidet war.

Gretchen zog sie energisch aus dem Kreis der Zuschauer, der sich inzwischen um sie gebildet hatte. Den Reporter, der immer noch sein Mikro in Florias Richtung hielt, wischte sie wie eine lästige Fliege mit einer Handbewegung aus dem Weg.

»Wie geht es ihr?«

»Susan geht’s gut, ein bisschen Aufregung vorher. Du kennst das ja.«

Oh, und ob sie das kannte. Floria war jedesmal vor ihren Auftritten halb tot vor Lampenfieber. Dass sie nicht wirklich gestorben war, war oft Gretchen zu verdanken gewesen.

Jetzt eilten sie durch ein Labyrinth von zementgrauen, schlecht beleuchteten Fluren. Es roch nach feuchtem Staub und Puder. Sie hatte den Eindruck, sich im Bauch eines atmenden Tieres zu befinden. Der Boden unter ihren Füßen schien zu vibrieren. Kulissengeschiebe. Premierenangst. Wie gut sie das alles kannte. In Susans Garderobe herrschte die übliche erregte Atmosphäre, wie vor jeder Premiere. Ihr blieb gerade noch Zeit, Susan ›Toi, Toi, Toi‹ zu sagen, als sie den Aufruf hörten. Die Vorstellung begann. Floria beeilte sich, um rechtzeitig ihre Loge zu erreichen. Erleichtert ließ sie sich auf ihren Platz fallen. Beifall brandete auf, als der Dirigent erschien.

Keine Oper empfand Floria derart aufrüttelnd wie Elektra. Dieses Familiendrama um Schuld und Sühne, Vergebung und Rache ließ sie in der nächsten Stunde nicht mehr los.

Elektra, die dem Wahnsinn entgegendriftende Tochter, mit ihrem hochdramatischen Sopran. Susan, als schuldgeplagte Mutter, Klytämnestra, genial besetzt. Und Orest, der nach dem Willen seiner Schwester Elektra zum Mörder an der Mutter werden soll, die den Vater zusammen mit dem Verräter Aegisth erdolcht hatte.

Nach der Aufführung Champagner hinter der Bühne. Eine Premiere ohne Zwischenfälle. Die Begegnung mit den Kollegen war weniger kompliziert gewesen als befürchtet. Der Abschied von Susan war ihr wirklich schwer gefallen. Sie würden sich monatelang nicht sehen.