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Ulrike Jonack

Wöltu

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Inhaltsverzeichnis

Titel

WÖLTU

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Epilog

NACHWORT

Impressum neobooks

WÖLTU

Nach den Berichten der Raumfahrtbehörde

über die Entdeckung der ersten außerirdischen Zivilisation.

Nacherzählt von Ines Braun

Prolog

Eine Frau eilt durch die Gänge des Raumschiffes. Sie könnte – jetzt befragt – selbst nicht sagen, was sie treibt. Die Weckphase verlief, wie sie es schon viele Male erlebt hat. Wie ein Einsammeln der Wirklichkeit. Die wenigen Kontrolllampen in der Anabiosekammer des Kommandanten hatten nichts Beunruhigendes gemeldet. Und auch der Raumsprung ist nichts Neues für sie.

Und trotzdem stockt ihr Schritt, als sie vor der Tür zur Steuerzentrale steht. Vielleicht ist es Angst. Möglicherweise hatten sie das Zielgebiet nicht erreicht, oder der Energieverbrauch war viel zu hoch gewesen, oder sie waren steuerunfähig geworden, oder …

Die Frau holt tief Luft und tritt energisch über die flache Schwelle. Ihr erster Blick gilt dem Raumprojektor. Das Pünktchen, das die Position des Out-of-Orbit-Ships 16-19 Emanuel anzeigt, hängt, wo es hingehört: in der Nähe von Simon, einem gelben Stern der Sol-Klasse.

Der zweite Blick zu den Anzeigen der Anabiosekammern: neunzehn Bildschirme mit dem ,normal‘ im linken unteren Eck. Nur ihr Schirm ist dunkel.

Der Energievorrat entspricht dem berechneten Wert.

Der Autopilot hat den Bremsvorgang eingeleitet.

Erst jetzt ordnet Katharina Brauer den Beginn der Weckphase für die anderen an. Sie wartet das Aufleuchten der Kontrolllampen ab, die die Ausführung des Befehls anzeigen, und setzt sich in den Sessel vor den großen Bildschirm.

Es bietet sich ihr ein vertrauter Anblick. Zu oft hatten sich die Crewmitglieder während der Vorbereitungen die Aufnahmen der Kundschaftersonde gesehen, als dass jetzt Fremdheit von diesem Bild ausgehen könnte. Und irgendwie ist die Frau darüber enttäuscht. Sie hatte sich von dem Augenblick Größeres versprochen. Immerhin ist sie die Erste, die diesen Sektor mit dem markanten Sternenband sozusagen hautnah erleben kann. Diese Einmaligkeit muss doch irgendwie zu spüren sein! Stattdessen kommen der Frau Simons Bahnparameter, Oberflächentemperaturen, Radien in den Sinn.

Sie wendet sich vom Bildschirm ab. Der Computer gibt auf ihre Anfrage Positions- und Kursdaten an. Seine weiche Tenorstimme verkündet, dass alles planmäßig verläuft und das Raumschiff in vierundzwanzig Stunden und achtunddreißig Minuten auf die äußere Annäherungsbahn einschwenken kann. Unwillkürlich nickt die Frau. Sie kennt die Zahlen.

„Hallo!“

Die Kommandantin blickt auf. William Base, ihr Erster Offizier, hat die Zentrale betreten. Sie nickt ihm zu.

„Gut aufgewacht?“, fragt der Mann.

„Wie immer.“

William Base baut sich vor dem Hauptbildschirm auf und lässt seine Augen über das Panorama gleiten. „Fantastisch!“

Da die Frau nichts erwidert, dreht er sich zu ihr um. „Ist was passiert?“

Sie lächelt müde. „Nein. Warum?“

„Warum? Du müsstest dich mal sehen! Also: Was ist los?“

„Es ist wirklich nichts. Ich bin nur ein bisschen enttäuscht. Ich hab mir die Ankunft irgendwie … großartiger vorgestellt.“ Sie reagiert auf sein Aufatmen mit einem Lächeln.

„Katja, du bist hoffnungslos romantisch.“

„Wahrscheinlich.“

Katharina Brauer blickt zur Tür und dann zu den Bildschirmen der Anabiosekammern. Gerade erlischt der fünfte Schirm. Er gehört zur Kammer der Ärztin, fällt ihr ein. Sie atmet hörbar ein und aus. „Sie müssten längst hier sein.“

William Base sieht auf die Uhr seines Armbandes. „Sie können die Kammern gerade erst verlassen haben.“ Er schaut die Frau an. „Warum bist du so nervös?“

„Ich weiß auch nicht. Aber ehe nicht alle gesund und munter in der Zentrale stehen, habe ich keine Ruhe.“

Erster Teil

Katharina Brauer saß auf dem Platz des Kommandanten und schaute auf den Hauptmonitor. Simon, der gelbe Stern der Sol-Klasse, dessen System sie vor knapp einer Woche erreicht hatten, funkelte als heller Stern im linken unteren Eck. Im Zentrum des Bildschirms prangte Simon drei.

„Die Sonde ist raus“, meldete William Base vom Pilotenpult, das sich links neben Brauers Platz befand.

„Wann kommen die ersten Bilder?“

Von links antwortete Tomasz McMay: „Ab sofort, wenn du willst. Die Messungen laufen.“

„Nicht unbedingt. Die Standard-Prozedur reicht mir.“

McMay nickte und tippte etwas in das Copilotenpult. Brauer sah ihm dabei zu. Wenn Tomasz so konzentriert arbeitete, wurden seine Augen ein wenig schmaler und der harte Zug um seine Lippen vertiefte sich. Katja mochte diesen Ausdruck, für sie sah es nach Kraft aus. Andere fanden Tom in solchen Momenten noch unzugänglicher, als er ohnehin wirkte. Er bemerkte Katharinas Blick, wandte sich um und lächelte ihr kaum sichtbar zu.

Als wäre das ein Signal, drehte sie sich zum Sensorterminal zu Frank Brown um. „Kommt alles?“

Er nickte.

„Gut.“ Brauer lehnte sich zurück. Alles lief nach Plan, so, wie sie es liebte.

Hinter ihr kam Bewegung in die bisher stille Zentrale. Chris Yali war die Erste, die sich einfand. Das war eher ungewöhnlich, denn normalerweise war die Schwester der Kommandantin dafür bekannt, immer erst im letzten Moment aufzutauchen. Außer Brauer regte sich niemand darüber auf. Jetzt sah sie ihre Schwester fragend an.

Die schaute nicht weniger fragend zurück. „Ich dachte, es geht jetzt los.“

„Ja. Die Sonde ist grad raus, wenn du das meinst.“

„Eigentlich nicht. Ich dachte, die Bilder kommen jetzt an.“

„In zehn Minuten“, antwortete McMay an Brauers Stelle.

„Kann ich warten?“, fragte Yali.

„Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Die Bilder kommen nicht eher“, antwortete Brauer und grinste breit.

Das Auftauchen von Jon Donald und Ricardo Thomas unterbrach die Antwort, zu der Yali angesetzt hatte.

Nach und nach traf die gesamte Besatzung ein. Brauer lächelte. Niemand wollte die ersten Bilder verpassen, falls sich der Planet als Leben tragend erweisen sollte. Obwohl es nicht der erste belebte Planet wäre, den die Menschen fanden, ging von der Aussicht, außerirdisches Leben zu finden, noch immer eine offenbar unwiderstehliche Faszination aus.

„Wir haben jetzt das Bild“, sagte Base. „Ich leg es auf den Hauptschirm.“

„Tu das!“

Ein Schalter klickte und auf dem Bildschirm wechselte die Außenaufnahme der Emanuel mit der der Sonde. Eine gelbliche Kugel schob sich langsam ins Bild. Simon drei. Die Sonde ging schnell näher, so dass der ein wenig dunstig wirkende, lehmgelbe Farbton des Planeten schon bald nahezu den gesamten Schirm ausfüllte.

„Sonde im Orbit“, meldete Base.

Der Horizont von Simon drei verschwand am oberen Bildrand. Trübe Wolkenfetzen hingen über dem goldockerfarbenen Grund. Die Planetenoberfläche schien, von hier aus betrachtet, ohne ausgeprägtes Profil, ohne Gliederung zu sein. Selbst an der Tag-Nacht-Grenze, die die Sonde eben passierte, waren kaum Schatten von Erhebungen zu sehen.

„Erste Umrundung beendet.“

Brauer hörte jemanden enttäuscht schniefen. Sie drehte sich nicht danach um. „Bremsen und Bild vergrößern!“, befahl sie, noch bevor die Sonde wieder die Tagseite erreichte.

Dann kehrte das Ocker der Oberfläche auf den Schirm zurück. Es löste sich in verschiedene Farbtöne auf. Die Grenzen waren unscharf, oft als solche gar nicht zu erkennen. Ganz allmählich wurde die Fläche bräunlicher, grünlicher, gelber …

„Sieht aus wie ein riesiger Sandkasten“, kommentierte Jon Donald.

Brauer lächelte flüchtig. So unrecht hatte er nicht. Die Daten, die Brauer von den Anzeigen ihres Pultes ablesen konnte, charakterisierten Simon drei als einen kleinen erdähnlichen Planeten mit geringer Anziehungskraft. Außer in den wenigen Wolken schien es nirgends Wasser zu geben. Selbst während des Winters, in dem schon in den mittleren Breiten arktische Temperaturen herrschen dürften, konnte es kaum mehr als eine dünne Raureifschicht auf dem lockeren Verwitterungsmaterial geben, das die geschlossene Gesteinshülle von Simon drei bedeckte.

Brauer schaute auf die vier kleinen Bildschirme ihres Pultes, wo die Aufnahmen der Außenbordkameras der Emanuel zu sehen waren. Die Spiralbahn der Sonde war als dünne rote Linie eingezeichnet.

„Wann geht sie in den Funkschatten?“, fragte Brauer zum Piloten hin.

„In zwölf Minuten“, antwortete Base.

 

Brauer nickte sich innerlich zu: richtig geschätzt. Sie schaltete das Sondenbild auf einen ihrer Monitore. „Gib mir die Handsteuerung!“

Er betätigte ein paar Tasten. „E1 an Kommandant direkt“, meldete er.

„Übernommen.“

Brauer lenkte die Sonde tiefer in die Atmosphäre. Auf dem Bildschirm verschleierten immer häufiger dünne Wolken den Blick auf die Planetenoberfläche, die sich scheinbar zu formen begann. Allmählich wurden Höhenzüge sichtbar – Relikte ehemaliger Meteoritenkrater, vom ständig wehenden Wind zu sanften Wellen abgeschliffen.

Brauer warf einen kurzen Blick auf die Daten der Luftanalyse, die Brown ihr unaufgefordert auf einen der Pultschirme projizierte. „William! Such’ mir einen Landeplatz ohne Treibsandgefahr!“

„Sofort! Da ist eine Art Plateau. Nein“, unterbrach er sich, „das wird zu knapp.“

„Zeig mal!“

Base markierte auf Brauers Bildschirm einen Punkt der Planetenoberfläche nahe der Horizontlinie.

„Wie groß ist das Plateau?“, erkundigte sich Brauer.

„Sechzig mal achtzig Meter ungefähr.“ Base drehte sich zu ihr um. „Aber in vier Minuten verschwindet es auf der Schattenseite.“

„Kein Problem!“ Sie sah kurz zu McMay. Er erwiderte den Blick und nahm einige Schaltungen auf seinem Pult vor.

Brauer ließ die Sonde durch die Wolken tauchen und wechselte auf Gleitflug. Am Rand des Bildschirms erschien die Kante einer Tragfläche. Kurz darauf kippte das Bild ab und die Sonde raste wie im freien Fall auf die Planetenoberfläche zu.

Jemand hinter Brauer stöhnte leise auf. Sie reagierte nicht darauf.

Die Oberfläche kam beängstigend nah. Jeden Augenblick konnte die Sonde aufschlagen! Im letzten Moment bremste Brauer den Fall, ließ die E1 wenige Meter über dem Boden ausgleiten und brachte sie über dem Plateau zum Stehen. Langsam senkte sich die Sonde. Die Landestützen versanken um Zentimeter im weichen Sand, ehe sie Halt fanden. Federleicht setzte die Sonde auf. Brauer tippte noch den Befehl zur Bodenanalyse ein, dann brach der Kontakt ab. Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch.

„Dreieinhalb Minuten“, sagte Base.

Brauer sah zu ihm herüber. Sein Blick machte klar, dass er es nicht anerkennend gemeint hatte.

„Das hätte schief gehen können“, meinte auch Jon Donald.

Brauer tat, als ob sie es nicht gehörte hätte. Sie drehte sich zur Besatzung um und sagte: „Das war’s, Leute. Vorerst zumindest. Tut mir leid.“

„Naja“, sagte Donald in das enttäuschte Schweigen hinein und erhob sich. „Dann kann ich ja in Ruhe mittagessen und muss nicht befürchten, dass ich was verpasse, wenn die Sonde sich während meiner wohlverdienten Pause wieder meldet.“ Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und schlenderte aus der Zentrale.

Brauer stand auf und trat zu Brown. Sie spürte, wie sich der Raum hinter ihr allmählich leerte. Sie versuchte, das Gefühl zu ignorieren, und studierte die Anzeigen des Sensorpultes. Sie hätte sich die Daten auch auf ihr Pult holen können, aber das schien ihr auf einmal nicht dasselbe zu sein.

Frank Brown tippte einen Befehl in das Terminal und deutete mit einer winzigen Kopfbewegung auf die erscheinenden Daten.

Brauer hob überrascht die Brauen. „Wieso hat Tang das nicht bemerkt?“

„Es ist seine Rechnung“, korrigierte Brown. „Er bat mich nur, sie zu überprüfen.“

„Trotzdem. Er hätte es eher sehen müssen. Das ist sein Job.“

„Die Konstellation ist sehr ungünstig. Wir haben erst jetzt die Daten exakt genug.“

„Ach so. Na gut.“ Brauer sah den Piloten an. Der nickte andeutungsweise.

Brauer drehte sich um. Sie sah Lothar Wiesner im Hintergrund der Zentrale sitzen und sie beobachten. Er tat das auf diese für ihn so eigene Weise, die sie immer daran erinnerte, dass er mal ihr Lehrer gewesen war. Sie ging zu ihm, setzte sich in den Sessel neben ihm und sah ihn fragend an. „Hab ich was übersehen?“

„Du hättest die Sonde beinahe verloren.“

Brauer runzelte die Stirn. „Die …? Ich dachte, du meinst, ich hätte Lebenszeichen oder so übersehen.“

„Du? Meine beste Schülerin? Nein.“

„Und was ist mit der Sonde?“

„Wem wolltest du was beweisen?“

„Be…? Ich verstehe nicht.“

„War das nötig? Dieser knappe Flug?“

„Nötig nicht, aber … Frank hätte das Notfallprogramm parat gehabt, es konnte nichts passieren.“

Wiesner antwortete nicht. Er stand auf und ging.

Brauer sah ihm nach. Sie hatte eine vage Ahnung, was ihn störte. Sicher, Risikobereitschaft war früher nie ihre Stärke gewesen, aber seit Schule und Studium war einiges passiert. Und: So hoch war das Risiko doch gar nicht gewesen. Oder doch? Nein, sagte sie sich, nicht mit Frank und Tom an ihrer Seite.

Brown holte Brauer in die Realität der Zentrale zurück. „Gehst du jetzt in die Messe?“

Sie sah auf. „Was? Nein. Nein, ich habe vorhin schon etwas gegessen. Wie sieht’s bei dir aus?“

„Die Checkliste ist noch abzuschließen und der neue Kurs muss programmiert werden.“

Base drehte sich um. Brauer ignorierte es. Sie legte ihre Hand auf Browns Arm und sagte: „Ich mach’ das schon. Du bist schon in der zweiten Schicht hier! Ich brauche nachher eine einsatzfähige Crew.“

Brown nickte knapp.

Die Kommandantin ging nach vorn und tippte McMay an. „Tom? Das gilt auch für dich.“

„In Ordnung!“ Er schloss alle Kanäle auf seinem Pult und folgte Brown.

Katja sah ihnen einen Moment lang nach. Das war schon ein ungleiches Paar: Tomasz groß, kräftig gebaut, eher kühl und kraftvoll wirkend, und Frank, kleiner und wendiger, romantisch, vielleicht glutvoll … Und sie, Katja, mittendrin.

Brauer lächelte und setzte sich. Sie aktivierte das Kommandopult. „William?“

Base sah herüber. „Ja?“

„Würdest du bitte die große Checkliste durchgehen, wenn die Sonde sich wieder meldet?“

„Ja, sicher. Aber denkst du nicht, dass der Planet zu trocken ist? Wenn dort eine Basis errichtet wird, muss man praktisch das gesamte benötigte Wasser extra dorthin schaffen.“

„Stimmt schon, aber vielleicht finden wir auf den inneren Planeten Wasser, so dass der Weg nicht so weit wird. Der Hauptvorteil von Simon vier ist seine geringe Anziehungskraft und dass er seismisch inaktiv ist.“

„Du meinst Simon drei.“

„Nein. Ich meine den gelben Planeten, Simon vier.“

„Aber …“, setzte Base an.

Brauer unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Sie drückte die Inter-Komm-Taste ihres Pultes. „Eine Mitteilung an alle“, sagte sie. „Wir haben einen neuen Planeten entdeckt. Er bewegt sich noch im Sensorschatten hinter Simon, so dass Tang ihn erst bei der Korrelation der aktuellen Bahndaten der anderen Planeten feststellen konnte. Der systematische Name dieses Planeten ist Simon drei, das heißt, die Nummerierung der schon untersuchten Planeten verändert sich um eine Zahl nach oben. Korrigiert das gegebenenfalls in euren Unterlagen! Im Übrigen fliegen wir genau auf Simon drei zu, er ist unser nächstes Untersuchungsobjekt. Die genauen Zeiten gebe ich euch durch, sobald der neue Sondenkurs berechnet ist. Ende der Mitteilung.“

Sie sah zu Base. „Genügt das als Erklärung?“, fragte sie lächelnd.

Base zögerte.

„Was?“

„Nichts. – Simon drei also.“

„Ja.“

„Lebenssphäre?“

Brauer nickte.

„Na dann …“

„… auf ein Neues!“, vollendete Brauer. Sie kontrollierte kurz die programmierten Kursdaten und korrigiert sie um wenige Grad, so dass das Schiff näher an den neu entdeckten Planeten herankommen würde. Nahe genug, damit die Schwerkraft von Simon drei die Emanuel in eine Umlaufbahn im hohen Orbit zwang.

„Du kannst jetzt den Autopiloten einschalten, Willy“, informierte sie den Ersten Offizier.

„Okay! – Ich habe jetzt die Sonde wieder.“

„Gut. Kommst du mit ’ner halben Stunde für den Check hin?“

„Sicher. In dieser Zeit kann ich sogar noch ’n Nickerchen machen.“

„Ich gebe dir gleich die neuen Kursdaten …“

Im Hintergrund schmatzte leise die Tür. Brauer warf einen Blick auf Stanislav Tich. Sie stellte fest, dass sie den Planetologen schon erwartet hatte.

Tich kam nach vorn und schaute ihr über die Schulter. „Wann meldet sich die Sonde wieder?“, fragte er.

„Schon da“, antwortete Base und schaltete das Sondenbild auf den Hauptschirm.

Brauer sah auf. Die Außenkameras der Sonde schwenkten herum, sie präsentierten das Panorama einer Wüstenlandschaft. Brauer unterdrückte ein Gähnen und konzentrierte sich auf die Kursberechnung.

Wenige Minuten später projizierte sie das Ergebnis auf Base’ Pult und streckte sich. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, registrierte, dass Tich im Copilotensessel Platz genommen hatte und offenbar Daten auf dem Pult verfolgte. Eigentlich war das nicht regelgerecht, der Planetologe hätte an das Sensorpult gehen müssen, aber Brauer beließ es dabei. Sie betrachtete den großen Bildschirm an der Stirnseite der Zentrale. Base war offensichtlich gerade dabei, die Sonde umzusetzen: Sie glitt in geringer Höhe über den sandigen Untergrund hinweg.

„Irgendwas Interessantes gefunden?“, erkundigte sich Brauer.

Base schüttelte den Kopf. „Überhaupt nichts. Der Planet ist so aufregend wie ein Glas Wasser bei Regen.“

Brauer lächelte matt. Sie sah zu Tich hinüber. „Bei dir?“

„Auch wenn der Vergleich bei Jon geklaut ist: Er ist zutreffend.“

Base verzog das Gesicht. „Geklaut – was für ein hartes Wort! Sagen wir lieber, ich habe mir den Vergleich geliehen.“

„Wie auch immer“, seufzte Tich. „Simon dr… vier ist absolut langweilig. Also der beste Platz für eine Basis.“

Brauer drehte sich zum Schmatzen der Tür um. ,Ich muss Joseph unbedingt wegen der Dichtung ansprechen‘, dachte sie. ,Das klingt ja richtig …‘ Ihr fiel kein treffendes Wort ein.

Yali, die die Zentrale betreten hat, empfand offenbar ähnlich, denn sie warf der Tür einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann ging sie in aller Seelenruhe zu Brauer und fragt: „Was is’n das für ein neuer Planet?“

„Interessieren dich die Bahnparameter oder die mutmaßliche Masse und Größe?“

„Weder noch, um ehrlich zu sein. Ich bin Chemiker, kein Planetologe.“

„Dann wirst du wohl oder übel noch ein Weilchen in deiner Neugier schmoren müssen, Schwesterlein.“

„Was heißt ein Weilchen?“

Brauer schaute fragend zu Base.

„Ich bin in zehn Minuten hier fertig“, antwortete er.

„Zehn Minuten nur?“ Brauer hob die Augenbrauen. „Was ist mit den Tiefenanalysen?“

„Die vorletzte habe ich gerade fertig.“

„Mhm. Na gut. Also!“ Sie blickte auf ihr Steuerpult. „Wenn William die Sonde in zehn Minuten von Simon vier hochholt, kann sie in einer reichlichen halben Stunde die ersten Bilder von Simon drei liefern und, wenn nichts dazwischen kommt, in anderthalb Stunden in eine Orbitbahn einschwenken.“ Sie schaute zu Yali auf. „Genügt die Auskunft?“

Sie nickte großzügig.

„Na da bin ich ja beruhigt! Nichts ist so schlimm wie eine unzufriedene Besatzung.“

„Dann lass von den Technikern mal die Türdichtungen reparieren“, entgegnete Yali. „Neuerdings gibt sogar die Tür in der Messe so obszöne Geräusche von sich. Ich meine, wenn dich das bei der Arbeit nicht stört … Beim Essen stört es mich ganz erheblich.“

Brauer sah Base verstohlen in sich hinein schmunzeln. Tich gab vor, stark mit den Sondendaten beschäftigt zu sein. Noch ehe Brauer etwas erwidern konnte, ging die Tür erneut, und die beiden Ärzte betraten die Steuerzentrale. Frantisek Skoda drehte sich missbilligend nach dem Schmatzen um. „Das wird ja immer schlimmer“, brummte er.

Inéz Cartena sah ihn verwirrt an.

„Ich meine dieses Geräusch“, erklärte Skoda. „Die Tür zur Krankenstation klingt auch schon so. So …“ Er suchte nach einem passenden Begriff.

„So obszön?“, bot Brauer an. Sie versuchte, dabei möglichst ernst zu bleiben.

„Obszön. Das ist genau das richtige Wort!“

„Ich werde mit Joseph reden“, versprach Brauer lächelnd.

„Mr. Romp hat momentan keine Zeit für derartige Banalitäten“, entgegnete Yali ein wenig spitz. „Als ich ihn heute früh deswegen fragte, hat er gesagt, dass er jede Minute braucht, um die E2 zu reparieren.“

Brauer runzelte die Stirn. Sie hatte nicht gewusst, dass der Schaden an der Sonde so groß war. Als die E2 von Simon sechs zurückkehrte, schienen nur ihre Hitzeschilde etwas überstrapaziert zu sein. Brauer nahm sich vor, so bald wie möglich mit dem Chefingenieur über die zweite Sonde zu sprechen.

 

„Er braucht doch sicher nicht das ganze Technikerteam dazu“, sagte Tich. „Was ist mit Jan zum Beispiel?“

„Jan Meister? Ich kann ihn ja mal fragen“, schlug Yali vor.

„Ja, tu das!“, bat Brauer. Sie warf einen Blick auf den Bildschirm, nahm ein paar Schaltungen auf ihrem Pult vor und gähnte verstohlen angesichts der Angaben, die die E1 von der inneren Struktur des gelben Planeten lieferte.

„Ich komme aber nicht wegen der Türen“, hörte sie Skoda sagen und schaut zu ihm.

„Sondern?“, fragte sie.

„Seit die E1 zum ersten Mal gestartet ist, hast du kaum noch geschlafen.“

„Es ist nett, dass du dir Sorgen machst, aber ich fühle mich topfit.“

„Das heißt nicht, dass du auch topfit bist. Und außerdem ist es nicht nett von mir, auf deine Gesundheit zu achten, sondern meine Aufgabe.“

„Franta! Ich kann jetzt hier nicht weg. In einer halben Stunde kriegen wir die ersten Bilder von Simon drei.“

„Dann hast du ja eine halbe Stunde Zeit, dich hinzulegen.“

„Das lohnt sich doch gar nicht“, entgegnete Brauer mürrisch. Sie sah zu Cartena. Die Ärztin hatte mitbekommen, dass Brauer heute Morgen in der Krankenstation gewesen war, um sich einen Tranquillizer zu holen. Und tatsächlich: In Inéz’ großen samtgrauen Augen stand Sorge. Brauer wich ihr aus. Sie wusste ja, dass sie mit derartigen Medikamenten sehr vorsichtig sein musste. „Okay!“, lenkte sie also ein und drückt die Inter-Komm-Taste. „Ricardo?“

„Ich bin im Hangar“, tönte die Stimme des Piloten aus dem Lautsprecher. „Was gibt’s?“

Brauer schaltete alle Kanäle bis auf die Verbindung in den Hangar aus. „Kannst du für die nächste Stunde den Copilotenplatz übernehmen?“

„Na klar doch! Ich wollte sowieso gerade hochkommen. Ist die E1 schon mit dem Gelben fertig?“

„Fast“, antwortete Base. „Ich beende eben die letzte Tiefenanalyse.“

„Fein. Also ich bin sofort da. Ende!“

Brauer schloss die Verbindung und stand auf. Kurz vor der Tür drehte sie sich noch einmal zu den Ärzten um und hob den Zeigefinger. „Aber wirklich nur eine halbe Stunde! Wehe ihr weckt mich dann nicht! Und wenn es irgendwas besonderes gibt …“

„Ja!“, unterbrach sie Cartena. „Dann rufen wir dich.“

Es war gar nicht so einfach, wach zu werden. Katjas Gedanken trudelten noch durch wirre Träume. Eine große gelbe Fliege summte nervtötend und grinste mit grellrotem Mund von einer kalkigen Clownsmaske. Dabei wusste Katharina ganz genau, dass sie die Fliege eben mit dem Wecker erschlagen hatte. Oder umgekehrt?

Katja tastete nach dem Wecker. Polternd fiel etwas zu Boden. Katharina blinzelte träge aus den Kissen, über die Bettkante, hinunter auf den Fußboden. Das Saftglas. Wenn’s weiter nichts war!

Aber es summte.

Warum summte das Saftglas?

Der Wecker summte!

Schlaftrunken fingerte Katja weiter nach der Uhr und drückte schließlich auf den Abstellknopf.

Er rührte sich nicht.

Katja runzelte verwirrt die Stirn. Dann war sie mit einem Schlag hellwach: Wenn es nicht der Wecker war, blieb nur der Summer der Bordkommunikation.

Brauer sprang aus dem Bett und war mit zwei Sätzen am Kom-Pult. „Ja?“

„Kommandant?“, hörte sie die Stimme von Ricardo Thomas. „In fünfzehn Minuten geht die Sonde in den Orbit von Simon drei.“

„In fünfzehn Minuten?“, schnaubte Brauer fassungslos. „Danke, dass ich schon geweckt werde!“

Thomas ignorierte den vorwurfsvollen Ton. „Gern geschehen!“

Brauer stieg brubbelnd in ihre Sachen. „Wo sind Tom und Frank?“

„Werden gerade geweckt.“

,Wieso geweckt?‘, wollte Brauer fragen, als ihr einfiel, dass die Männer ja noch länger im Dienst gewesen waren als sie. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, die Piloten wieder ins Bett schicken zu lassen. Als sie sich jedoch Franks Reaktion vorstellte, die zweifellos in einem leicht amüsierten Lächeln bestehen würde, ließ Brauer die Idee fallen.

Fünf Minuten später betrat sie die Zentrale. Wie immer galt ihr erster Blick dem Hauptbildschirm. Sie blieb verblüfft stehen. Simon drei war blau!

„Wie die Erde, was?“, hörte sie Eik Meister sagen. Sie blickte die Chemikerin an. Ihr fiel erst jetzt auf, dass nahezu alle Besatzungsmitglieder in der Zentrale waren. Und sie hätte Simon drei beinahe verschlafen!

Brauer schaute sich nach Brown und McMay um. In diesem Moment ging hinter ihr schmatzend die Tür, Brauer verzog angeekelt das Gesicht und drehte sich zu den Piloten. Falls die beiden Männer über die vertraute, nichtsdestotrotz seltene Färbung des Planeten überrascht waren, konnten sie es ausgezeichnet verbergen.

Ricardo Thomas räumte den Copilotenplatz für McMay. Brown ging zum Hauptterminal. Brauer setzte sich in den Kommandantensessel und aktivierte das Pult. Sie registrierte, dass Thomas hinter ihr stehen blieb. Er tippte auf eine der Anzeigen und Brauer ließ die Zahlen in eine Bildschirmgrafik übersetzen. Die starrte sie fünf Sekunden ratlos an, begriff plötzlich und blickte dann überrascht zu McMay hinüber. Er führte eine paar Schaltungen auf seinem Pult aus und betrachtete das seltsame Ergebnis auf den Monitoren.

Brauer drehte sich um: „Frank?“

„Ich habe keine Vorstellung, was das sein könnte.“

„Was was sein könnte?“, fragte Tich. Er schaute suchend auf den Bildschirm vor ihm.

„Das da!“, entgegnete Donald und versah von seinem Pult aus eine der Datenreihen auf Tich Konsole mit einer blinkenden Markierung.

Der Planetologe neigte irritiert den Kopf und betrachtete die entstehende Grafik aus den Augenwinkeln heraus. „Na eben!“, machte er und neigte den Kopf zur anderen Seite.

Yali räusperte sich. Sie sagte, ohne Brauer aus den Augen zu lassen, in Cartenas Richtung: „Das ist das Wunderbare an solchen Gesprächen: Alle wundern sich. Die einen, weil sie Informationen haben, und die anderen, weil sie keine haben.“

Ricardo Thomas setzte sich in den freien Sessel der zweiten Reihe, schwenkt ihn herum. „Einer der Sensoren markiert eine kompakte Schicht in der oberen Atmosphäre“, erklärt er. „Das Problem ist, dass kein anderes Gerät davon Notiz nimmt.“

„Ein Defekt?“, erkundigte sich Joseph Romp.

„Wenn, dann ist er von hier aus nicht zu finden“, antwortete Donald.

Brauer bemerkte Romps Erleichterung und versuchte abzuschätzen, welche Art von Fehlern nicht vom Schiff aus festzustellen sein könnte. Ihr fiel nichts ein.

Base trat zu Donald und schaute auf dessen Pult. Brauer beobachtete, wie der Erste Offizier die Kontrollen musterte. Donald, der als Beauftragter der Raumsicherheit die Stelle des Zweiten Offiziers einnahm, lehnte sich im Sessel zurück und verschränkt die Arme in einer Na-wenn-du’s-besser-weißt-Geste vor der Brust.

„E1 schwenkt eben auf die äußere Umlaufbahn ein“, meldete Brown.

Base richtete sich auf und Donald konzentrierte sich wieder auf die Steuerung der Sonde.

Brauer lehnte sich zurück. Sie beobachtete den Bildschirm, auf dem die Außenaufnahme der Sonde zu sehen war. Es war wirklich seltsam, wie sehr Simon drei der Erde ähnelte. Nicht nur, dass sich der Planet in dem selben grünschattierten Blau präsentierte, das in der gleichen, an Perlmutt erinnernden Weise durch die Wolkenschleier schimmerte und den Planeten wie eine kostbare Kugel aus zerbrechlichem, ein wenig rauchigem Glas erscheinen ließ. Auch die Angaben, die die Sonde über Schwerkraft, Atmosphäre und Oberflächenstrukturen übermittelte, erinnerten eher an die Erfindungen eines extrem fantasielosen Science-Fiction-Autors als an einen realen Planeten, Lichtjahre von der Sonne entfernt. Sogar Tages- und Jahresrhythmus wichen nur unwesentlich von denen der Erde ab.

Cartenas Stimme unmittelbar hinter ihr ließ Brauer den Kopf wenden. „Das Grüne – sind das Pflanzen?“

„Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, antwortete Brauer. Sie lächelte über die Begeisterung, die sich deutlich in Inéz’ Gesicht abzeichnete. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob es an der mädchenhaften, beinahe noch kindlichen Gestalt der Ärztin lag, dass sie ständig das Gefühl hatte, Inéz beschützen zu müssen. Und ob es den anderen ähnlich ging. Dann sah Brauer wieder zum Bildschirm.

Eine rote Linie umschloss eine Fläche des Planeten. „Das ist der mittlere von drei Kontinenten“, erklärte Brown, der die Markierung auf den Schirm projiziert hatte. „Er liegt in der Äquatorzone, es dürften dort also tropische Temperaturen herrschen. Die Pflanzendecke ist den Sondendaten nach sehr dünn. Hier oben“, Brown erzeugte eine gelbe Linie im Bild, „ist ein Stück des zweiten Kontinents zu sehen. Dichte Vegetation, gemäßigtes Klima. Der dritte Kontinent wird jeden Moment sichtbar. Er liegt auf der derzeitigen Nachtseite von Simon drei.“

„Wie sieht es mit Tieren aus?“, erkundigte sich Wiesner.

„Gibt es sicher auch“, entgegnete Brauer. „Aber Definitives können wir erst sagen, wenn die Sonde noch näher herangegangen ist.“ Sie schaute zu Donald, der völlig in die Anzeigen seines Steuerpultes vertieft war. „Registriert die Sonde noch immer diese Schicht in der Atmosphäre?“

Donald blickte nur kurz auf und nickt. „Ja. – Ich gehe jetzt langsam tiefer.“