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„Okay, tu das!“

Der Horizont von Simon drei rückte aus dem Sichtfeld des Monitors. Brauer macht schwache Strukturen im Nachtdunkel aus, die auf den dritten Kontinent hindeuteten. Brown verfremdete die Farben etwas, so dass das Bild deutlicher wurde.

Der dritte Kontinent war um vieles größer als die beiden anderen. Brauer konnte filigrane Linien erkennen, die von einem Flusssystem kündeten. Die Ströme mussten gewaltig sein, wenn sie von hier aus zu sehen waren.

„Was is’n das?!“, platzte Yali plötzlich heraus.

Brauer drehte sich irritiert um.

„Da oben war eben was!“, beteuerte Yali. „Es sah aus wie ein Blitz.“

Brauer schaute zu Brown.

Der hantierte am Terminal und betrachtete offenbar die Aufzeichnungen der letzten Sekunden. Dann blickte er zu Brauer. „Stimmt. Da war ein schwacher Lichtreflex.“

„Wo?“

Er markierte auf dem Hauptbildschirm die entsprechende Stelle.

„Katja“, meldete sich Ricardo Thomas. Er kam zu ihr vor und beugte sich über das Pult. Er zeigte auf eines der Fremdfarbenbilder. „An der Stelle, wo der Reflex entstand, gibt es einige seltsame Strukturen. Dort, siehst du?“

Brauer versteifte sich unwillkürlich und starrt auf den Monitor. „Was ist das?“

„Ich weiß nicht“, gab Thomas zu.

„Frank?“, fragt Brauer, ohne sich umzudrehen.

McMay antwortete: „Das fragliche Gebiet war nur ganz kurz im Erfassungsbereich der Sensoren. Wir können erst bei der nächsten Umrundung genauere Angaben bekommen.“

„Okay“, entgegnete Brauer knapp. „Jon! Ich brauch’ die Sonde dann näher an diesen Koordinaten.“

„Geht klar, Chefin!“

Brauer starrte auf ihr Pult, auf die Daten und Bilder, die die Sonde übermittelte. Der Planet wirkte so ungemein friedlich, beinahe sanft. Gerade überflog die E1 den Äquatorkontinent, der in der IR-Erfassung in hellen Farben glühte. Auf einem anderen Sensorbild sah Brauer, wie ein unregelmäßiger Fleck aus unzähligen Einzelpunkten wie eine Amöbe über die Steppe kroch: eine riesige Herde von offenbar recht großen Tieren, die den Kontinent durchwanderten.

Brauer bemerkte, dass sie sich vorgebeugt hatte, als könne sie dadurch besser sehen. Sie lächelte über sich selbst.

Der Ozean kam wieder ins Blickfeld. Die fasrigen Wolken verschleierten die Sicht nur unwesentlich. Brauer glaubte, einen Schwarm von Vögeln über dem Wasser zu erkennen, sah eine Insel, von der die Anzeigen behaupteten, sie sei erst vor wenigen hundert Jahren aus einem Vulkan entstanden. Die Frau registrierte, dass sich offenbar eine ganze Vulkankette unterseeisch vom Steppenkontinent hin zu dem Landsockel erstreckte, der auf der Südhalbkugel den zweiten Kontinent bildete und der in Küstennähe von einer niedrigen aber sehr dichten Pflanzendecke überzogen war. An einer Stelle wurde sie von einem Bergmassiv unterbrochen, das die Fortsetzung der unterseeischen Kette darstellte.

Brauer überlegte, dass die Idee, auf Simon vier eine ständige Basis zu errichten, durch den üppig grünenden dritten Planeten noch interessanter wurde, als sie es durch die günstige Lage unmittelbar hinter dem Knoten ohnehin schon war. Simon drei könnte eine echte Kolonie werden, anders als die kleinen Siedlungen, die die Menschen auf einigen Planeten entlang der wichtigsten Trassen förmlich hingekleckert hatten.

Inzwischen hatte die Sonde den zweiten Kontinent überflogen. Im Bild tauchte bereits die Küste des schlafenden dritten Kontinents auf. Die Sonde steuerte genau auf das Delta des riesigen Flusses zu, schien den Strom aufwärts zu verfolgen …

Plötzlich brach das Bild zusammen.

Ein unterdrückter Schrei von Inéz Cartena.

Donald hantierte hektisch an seinem Pult. Schließlich lehnte er sich zurück und sagt trocken: „Aus.“

Brauer fuhr herum. „Was heißt aus?!“

„Aus eben. Funkstille. Verbindung weg.“

„Aber warum?!“

Donald hob die Schultern und legte die Außenaufnahme des Schiffes auf den Hauptschirm.

Brauer schaute zu McMay. Der schüttelte den Kopf. „Das Schiff ist in Ordnung. Es muss an der Sonde liegen.“

Die Kommandantin schwenkte samt Sessel herum. „Frank?“

„Es sieht so aus, als habe sich diese Schicht ausgedehnt. Eine Extrapolation der Entfernungsanzeigen lässt den Schluss zu, dass die Sonde beim Eintreten in diese Schicht verstummt ist.“

„Oder“, präzisierte Brauer sinnend, „wir können ihre Signale seitdem nicht mehr empfangen. – Okay!“ Sie schwang zurück an ihr Pult. „Jon! Kann sich das Rückkehrprogramm aktiviert haben, als wir den Kontakt zur E1 verloren?“

„Nein, die Automatik war außer Betrieb. Ich bin nicht dazu gekommen, sie zu aktivieren. Die Sonde wird irgendwo auf der südlichen Halbkugel abstürzen. Tut mir leid, Chefin!“

„Nicht deine Schuld. – Jos?“

„Ja?“

„Ist die E2 wieder okay?“

„Vollständig“, bestätigte Romp.

„Gut. – Frank, berechne einen Kurs für die E2, der außerhalb der Schicht bleibt und das Gebiet überstreicht, wo wir den Lichtreflex gesehen haben!“

„Sofort, Kommandant!“

„Tom? Wann ist Simon drei vom Schiff aus zu sehen?“

„Er muss jeden Moment hinter dem Stern auftauchen.“

„Gut … Jos, ich möchte, dass die E3 gecheckt wird.“

Der Chefingenieur wandte sich zum Gehen.

„Und die Lander!“, rief Brauer ihm nach.

Romp blieb verblüfft in der Tür stehen. „Die Lander?“, vergewisserte er sich.

„Ja. Ich möchte sie einsatzbereit haben.“

Joseph Romp nickte mit einer kleinen Verzögerung und verließ die Zentrale.

„Kommandant“, meldete sich Brown. „Der Kurs für die E2 ist berechnet.“

„Gut. Gib ihn an Jon!“ Brauer drehte sich halb zu Donald. „Sobald du fertig bist, startest du sie!“

„Geht klar!“, antwortete er. „Wir haben jetzt übrigens Sicht auf Simon drei, Kommandant.“

Brauer schwenkte den Sessel zum Bildschirm. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es irgendwie praktischer wäre, wenn der Kommandant im Hintergrund der Zentrale sitzen würde. Dann hätte er die volle Übersicht, ohne ständig kreiseln zu müssen. Es war ja – verdammt noch mal! – nicht damit getan, alle technischen Daten auf dem Pult abrufen zu können! Irgendwie sollte man auch seine Leute im Blickfeld haben. Meist waren die nämlich ein weitaus besserer Indikator für ungewöhnliche Situationen als alle Sensoren der Welt. Und man würde sich auch nicht so beobachtet fühlen. Und … Brauer merkte, wie sich ihre Gedanken an diesem Thema festhalten wollten, und rief sich zur Ordnung. Sie konzentrierte sich auf den großen Bildschirm.

Dort bot sich der nun schon vertraute Blick auf den blauen Planeten. Vor dem sternenübersäten schwarzen Samt des Alls prangte Simon drei wahrhaftig wie eine kostbare Perle. Brauer erinnerte sich, dass sie ganz ähnlich fühlte, als sie zum ersten Mal die Erde verlassen und vom Beobachtungsdeck des Linienschiffes zurück auf die Heimat geblickt hatte. Das war so unsagbar schön gewesen, beinahe schmerzhaft schön. Sie hatte wirklich geweint damals.

Die E2 schob sich ins Bild des Hauptschirms und holte die Kommandantin damit in die Gegenwart zurück. Die Sonde bewegte sich sehr schnell auf den Planeten zu. Brauer beugte sich über ihr Pult und verfolgt die einlaufenden Daten.

Die rätselhafte Schicht wurde sichtbar. Man konnte sie durchaus für eine Art Kapsel halten, die sich schützend um Simon drei gelegt hatte. Aber eine Kapsel woraus? Kein Material lieferte einerseits deutliche Absorptionslinien, ohne nicht auch gleichzeitig durch andere Sensoren erfassbar zu sein. Rein theoretisch konnte es gar keinen Stoff mit derartigen Eigenschaften geben. Andererseits passten die Daten auch auf keine der bekannten Energieformen …

Je näher die Sonde dem Planeten kam, desto deutlicher wurde die Kapsel. Brauer versuchte zu erkennen, in welcher Höhe sich die Schicht in der Atmosphäre erstreckte. Sie hob überrascht die Brauen: Der Radius der Kapsel vergrößerte sich!

„E2 auf der Umlaufbahn“, meldete Donald.

Brauer blickte auf. „Okay. Diese Höhe halten!“

„Höhe halten“, bestätigte Donald.

Brauer schaute wieder auf ihr Pult. „Mm??“, machte sie und blickte irritiert zu McMay. Der war ganz mit den eingehenden Sondendaten beschäftigt und offenbar genauso ratlos wie Brauer.

Die Schicht bewegte sich nicht mehr!

„Chefin?“

Sie sah zu Donald. „Ja?“

„Ich habe da so eine Idee … Darf ich mal was probieren?“

Brauer zögerte. „… und was?“

„Nur mit der Sonde ein Stückchen runter gehen.“

Die Frau runzelte die Stirn, nickte aber. „Okay …“

Donald verringerte die Höhe der Sondenbahn und sofort setzte sich auch die Schicht wieder in Bewegung.

Brauer sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Tomasz zu Donald trat und auf dessen Pult blickte. „Sieht aus, als würde jemand oder etwas diese Schicht der Sondenbewegung anpassen“, sagte er und schaute zu Brauer, die sich zu Brown herumdrehte.

Brown schüttelte unschlüssig den Kopf. „Das ist … nicht sehr wahrscheinlich. Die … scheinbare Bewegung der Schicht verhält sich zwar proportional zur Annäherung der Sonde an den Planeten, aber … Es könnte sich höchstens um eine hochsensible Automatik handeln, denn es sind keine noch so kleinen Reaktionsverzögerungen zu beobachten. Außerdem ist die Proportionalität der beiden Größen im Rahmen unserer Messgenauigkeit absolut konstant.“

Brauer drückte die Inter-Komm-Taste an ihrem Sessel. „Zentrale an Hangar! Ist die E3 einsatzbereit?“

„Ja“, bestätigte eine Stimme.

Brauer hob erstaunt die Brauen. „Jan? Wo ist Joseph?“

„Beim zweiten Lander. Soll ich ihn holen?“

„Nicht nötig, danke! Zentrale Ende. – Tom?“

 

„Bin schon dabei“, antwortete McMay und wenig später wurde die zweite Sonde auf dem Bildschirm sichtbar.

Brauer hörte hinter sich leises Murmeln. Auch das war äußerst unpraktisch, fiel ihr ein, und sie nahm sich vor, dem Flottenkommando den dringenden Vorschlag zu machen, die Steuerzentrale völlig umzugestalten und eine Art Beobachtungsraum einzurichten, von dem aus die Besatzungsmitglieder Sondeneinsätze und dergleichen mitverfolgen konnten, ohne die Piloten abzulenken. Die Frau fragte sich, ob sie tatsächlich die Erste war, der diese Sache auffiel, oder ob einfach die Trägheit der Bürokratie schuld daran war, dass sich seit siebzig Jahren kaum etwas an den Bauprinzipien der Out-of-Orbit-Ships geändert hatte.

Ein lautes „Bingo!“ von Donald lenkt sie davon ab. Sie sah ihn fragend an.

„Ein veralteter Begriff für Volltreffer“, erklärte Donald obenhin und sagte: „Du hattest recht!“

„Womit?“

„Die E3 meldet die Schicht an einer anderen Stelle als die E2“, antwortete Donald und Brown ergänzte: „Und der Proportionalitätsfaktor ist identisch mit den schon ermittelten Werten der anderen Sonden.“

„Gut“, atmete Brauer auf. „Dann wäre wenigstens das geklärt. Lässt sich die tatsächliche Höhe feststellen?“

„Schon geschehen“, entgegnete Brown. „Alle Extrapolationen liefern vier siebenundsiebzig Komma zwei Kilometer über normal null.“

„Das ist verdammt weit draußen“, stellte Donald fest.

Brauer nickte. „Ja. Das wird ’ne ganz schöne Friemelarbeit werden.“

Jemand räusperte sich hinter ihr. Sie reagiert nicht darauf. Erst als Yali sie direkt ansprach, drehte sie sich um. „Eh … Katja! Ich weiß ja, dass ich nicht viel Ahnung habe, aber … Ich verstehe immer nur Bahnhof. Was ist gut daran, wenn zwei Sonden das gleiche Objekt an verschiedenen Stellen lokalisieren?“

Brauer atmete tief durch. Es war wirklich extrem unpraktisch, wenn die Besatzung im wahrsten Sinne des Wortes in die Arbeit der Crew hineinreden konnte. Und es auch tat!

„Also! In Kurzform: Die Schicht existiert in vierhundertsiebenundsiebzig Kilometern Höhe. Die Sonden erfassen sie aber in einer Höhe, die abhängig ist von ihrem eigenen Abstand zum Planeten. Das Einzige, was sich also bewegt bei der Sache, sind die Sonden. Was bedeutet, dass wir uns über eventuelle Steuermechanismen und deren Erbauer und oder Bediener keinen Kopf zu machen brauchen. Klar?“

„In etwa.“

„Na prima!“, sagte Brauer mit der Betonung von ,Na hast du’s endlich kapiert?‘ Als ihr dieser Tonfall bewusst wurde, ärgerte sie sich: Sie hatte kein Recht, jemandem Begriffsstutzigkeit auf einem Gebiet vorzuwerfen, mit dem derjenige im Normalfall nichts zu tun hatte. Gleichzeitig war Brauer erleichtert, dass ihre Schwester die Frage gestellt hatte und so das Ganze quasi in der Familie blieb. Obwohl … Chris hatte ja eigentlich nur ausgesprochen, was die anderen dachten. Und insofern war ihre Antwort eigentlich ein Affront gegen alle.

Brauer versuchte, möglichst sachlich zu klingen, als sie sich erkundigte, ob es noch Unklarheiten gab.

„Was wird ’ne Friemelarbeit?“, fragte Yali auch prompt.

„Diese Strukturen zu analysieren. Wir müssen ja mit der Sonde außerhalb der Schicht bleiben.“

„Warum?“, fragte Yali mit aller ihr zur Verfügung stehenden Naivität.

„Warum?!“ Brauer glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Dann allerdings ahnte sie, worauf ihre Schwester hinaus wollte, und wandte sich an den Piloten: „Tom?“

„Den Versuch wäre es wert“, antwortete er und blickte kurz zu Brown.

Brauer registrierte, dass Frank zu rechnen begann, und schwenkte zu Donald herum. „Also wir machen Folgendes: Wir schicken die E2 mit einem speziellen Programm unter diese Schicht. Die E3 beobachtet von draußen, was mit der E2 passiert. Wenn wir Glück haben, kann die E3 aus unmittelbarer Nähe diese Strukturen analysieren und bringt nach der automatischen Rückkehr ein genaues Bild davon mit.“

„Und wenn wir Pech haben?“, fragte Ricardo Thomas.

„Verlieren wir die Sonde. Entweder, weil die Automatik versagt und die E2 abstürzt, oder weil sie zerstört wird.“

„Zerstört wird?“, fragte Inéz Cartena tonlos.

Brauer schaute zu ihr, versuchte, möglichst optimistisch auszusehen, und nickte. „Das ist nicht auszuschließen. Auch wenn ich nach allen bisherigen Ergebnissen glaube, dass es auf Simon drei keine Zivilisation mit einem halbwegs technischen Standard gibt, kann es sich bei diesen noch völlig rätselhaften Strukturen zu Beispiel um eine intakte Basis von Raumfahrern handeln, die vor uns den Planeten entdeckt haben und uns nun möglicherweise als Feinde einstufen.“ Sie verstummte, selbst einigermaßen erstaunt über diesen Gedankengang.

Donald holte tief Luft. „Heißt das, du rechnest mit einem Angriff?!“

Sie blieb betont gelassen. „Es ist nicht unmöglich.“

„Na toll!“, machte Donald und breitete die Arme aus. „Ich wollte schon immer mal wissen, wie man sich als Zielscheibe fühlt!“

„Ach hör auf“, entgegnete Brauer matt. „Wenn überhaupt, dann ist die E2 die Zielscheibe und nicht wir.“

„Aja? Dann hoffe ich, dass die da unten dieselbe Spielanleitung gelesen haben wie du“, erwiderte Donald sarkastisch und nahm auf seinem Pult die von Frank berechneten Daten entgegen. „Also meinetwegen kann es losgehen“, brummte er.

Brauer registrierte es mit einem Nicken und drehte sich zur Besatzung um. „Für den Fall eines Angriffs werden wir von der gegenwärtigen Position aus durchstarten und den Abstand zu Simon drei vergrößern. Kümmert euch darum, dass die Kabinen und Arbeitsräume entsprechend gesichert werden! Ich erwarte dann eure Bereitschaftsmeldungen.“

Sie wandte sich wieder ihrem Pult zu, ließ sich von McMay die Kontrollen über das Schiff geben, so dass er sich nur noch auf die E3 konzentrieren musste. Sie hörte, wie Brown den Technikern im Hangar Bescheid gab, und bemerkte, dass William Base, Ricardo Thomas und Brown in der zweiten Sesselreihe Platz nahmen. Und dann kam auch schon die erste Bereitschaftsmeldung der Besatzung …

Der Gang lag im Dämmern der Nachtbeleuchtung. Katharina Brauer schloss die Tür hinter sich, tappte im Dunkel der Kabine zur Bar und macht die kleine Lampe an, die ein warmes gelbes Licht auszustrahlen begann und das Zimmer wie in Kerzenlicht tauchte. Dann goss sie sich Gin in eines der Whiskygläser und füllte es mit Orangensaft auf. Stirnrunzelnd stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, neues Eis anzusetzen. Naja, es würde schon reichen. Sie ging zum Tisch und ließ sich in einen der Sessel fallen.

Eine Siedlung also. So viel konnte man auf den Aufnahmen der E2 immerhin erkennen. Leider war das Programm so vorsichtig gestaltet worden, dass die Sonde zurückgekehrt war, ohne sich näher um die einzelnen Gebäude zu kümmern. Naja. Sicher würde Tom mehr herausfinden, wenn er morgen selbst unter die Schicht tauchte. Komisch, dass diese Schicht von unten gar nicht zu erkennen war …

Brauer stellte das Glas ab und streckte sich gähnend. Sie warf einen Blick zur Uhr: gleich Mitternacht. Vielleicht hätte sie doch noch mal in die Zentrale gehen sollen. Ach Quatsch! Tom kam nach dem Dienst bestimmt hierher.

Sie lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. Eigentlich müsste sie glücklich sein. Sie hatte doch alles erreicht, was sie wollte: Pilotenpass, Einsatzflotte, Raumsicherheit und dann Forschungsflotte. Kommandobrief. Eine richtig gute Crew und eine tolle Besatzung. Die hatte sie sich sogar selbst zusammensuchen dürfen.

Brauer lächelte matt bei der Erinnerung daran. Es war ihre Bedingung dafür gewesen, dass sie die Emanuel übernahm. Eigentlich verwunderlich, dass das Flottenkommando mitgespielt hatte. Na gut: Durch das Ausbleiben der Vulkan stand das Kommando ganz schön unter Zeitdruck. Trotzdem war es nahezu unlogisch, einem praktisch blutjungen Piloten, der sein erstes Kommando übernehmen sollte, nicht nur Mitspracherecht bei der Crew einzuräumen, sondern auch zu gestatten, die eigentlich schon fertige Liste der wissenschaftlichen Besatzung nach seinen Wünschen kräftig umzumodeln.

Wie gesagt: Eigentlich müsste sie zumindest zufrieden sein. Ihr erstes Kommando hatte bis jetzt keine wirklichen Probleme gebracht, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Bewohner dieser typischen Bauernsiedlung irgendeine ernsthafte Gefahr darstellen könnten, war, bei Lichte besehen, verschwindend gering. Sollte eigentlich nur der Ruhm bleiben, die erste außerirdische Zivilisation gefunden zu haben.

Aber nicht einmal das baute Brauer jetzt auf. Sie fühlte sich rundum müde. Nicht nur körperlich. Sie hatte diesen schalen Geschmack im Mund, wenn sie an den nächsten Tag dachte. Daran dachte, dass Tom in dem Lander sitzen würde, der unter die Schicht tauchen und damit unerreichbar werden würde. Warum flog nicht Frank?

Katharina zog die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. Es würde nichts ändern. Frank war ihr nicht weniger wichtig. Eigentlich war es absoluter Zufall gewesen, dass sie damals Tomasz als Partner wählte. Was heißt wählte? Es war eine völlig spontane Entscheidung gewesen. Selbst im Nachhinein durch nichts zu begründen. Was nicht hieß, dass sie sie bereute. Und trotzdem.

Katharina spürte, dass Tom die Kabine betrat. Sie sah auf.

„Du bist noch wach?“, fragte er. „Angst?“

Katja antwortete nicht. Natürlich hatte sie Angst. Und er wusste das auch.

Er holte sich einen Saft und setzte sich auf die Liege Katja gegenüber. „Komm!“ Er nahm ihre Hand. „Vergiss es bis morgen! Es ist eine Routinesache!“

Katja lächelte. ,Ich weiß‘, hieß das. Sie setzte sich neben ihn und fuhr sein Profil mit dem Finger nach. Tomasz lächelte und küsste ihre Fingerspitzen. Sie ließ einfach geschehen, dass er ihr den Overall von den schmalen Schultern streifte, seine Hände ihren Rücken streichelten. Seine Finger berührten sanft ihren Hals, malten Kreise auf ihre Brust, glitten zu den Hüften. Katja schmiegte sich an ihn, ließ sich in seine Zärtlichkeiten fallen. Es tat gut, alles andere zu vergessen …

Als McMay am Vormittag aufwachte, war Brauer schon fort. Er fand sie in der Zentrale. Wie vermutet hatte sie bereits ihren Platz als Kommandantin neben Base eingenommen. Der Raumprojektor zeigte den Planeten und als seinen Satelliten die Emanuel. McMay beobachtete den roten Punkt. In einer Stunde würde ein zweiter, kleinerer seine Bahn unterhalb des ersten ziehen.

McMay warf einen Blick zu Brauer. Sie gab sich, als wäre alles wie sonst. Kaum zu glauben, dass sie gestern noch das kleine schwache Mädchen gewesen war, das in seinen Armen Schutz gesucht hatte. Er trat zu ihrem Sessel, legte ihr die Hand auf den Arm. Sie schaute hoch. Er ahnte ihr Nicken mehr, als er es sah. Als er die Zentrale verließ, dreht sich Brauer nicht um.

Brauer ließ ihre Gedanken schweifen. Sie hätte mit Tom frühstücken sollen. Warum eigentlich? Sie taten das sonst auch nie. Frühstücken zumindest. Aber gemeinsam zum Dienst gehen, das taten sie. Oft zumindest. Warum diesmal nicht? Es wäre ihr wie in böses Omen erschienen, auch nur den Anschein zu erwecken, die gemeinsamen Minuten auskosten zu wollen. Tom hätte das auch gar nicht gewollt. Und es war ja auch nicht nötig. Er war verdammt gut. Der Beste. Neben Frank natürlich. Aber der Beste …

Brauer merkte kaum, wie sich die Zentrale nach und nach füllte. Erst als Cartena sie ansprach, blickte sie auf.

„Frank macht den zweiten Lander klar“, sagte das Mädchen.

Brauer bemerkte, dass sie wirklich ,Mädchen‘ dachte.

Base schaute überrascht zur Kommandantin. „Ein zweiter Lander war nicht geplant“, sagte er.

Sie beruhigte ihn. „Er wird außerhalb des Orbits bleiben und nur im Notfall runtergehen.“

„Und wer wird ihn fliegen?“

„Frank.“

„Frank? Aber …“ Base holte tief Luft, wie um zu einer langen Rede anzusetzen. Dann aber fragte er nur: „Wann hast du das entschieden?“

„Eben gerade.“

„?“

„Ich wusste nicht, dass Frank den Lander fertigmacht“, erklärte Brauer. „Aber es ist vernünftig. Und deshalb ist es okay.“

„Weiß Frank wenigstens, dass er fliegen soll?“

„Sicher“, lächelte sie. „Sonst wäre er jetzt nicht im Hangar.“

„Also hat er eigentlich entschieden …“

„Ist das nicht egal? Es ist vernünftig.“

„Ich meine ja nur. Eure … wortlose Kommunikation ist schon … beachtlich.“

Ehe sie noch etwas erwidern konnte, stürzte Donald in die Zentrale.

„Ich habe eben Frank beim Hangar getroffen. Er sagt, ich soll die Copilotenstelle beim Manöver einnehmen. Kannst du mir erklären, was das soll?“, bestürmte er Brauer.

 

Sie bemühte sich um Ruhe. „Frank wird auf eine Umlaufbahn über Tomasz gehen, um schnell bei ihm zu sein, falls er gebraucht wird.“

„Wird er das? Na toll!!“ Donald stützte die Hände in die Seiten und lachte laut auf. Dann fuhr er Brauer an: „Willst du nicht auch gleich mit raus? Zur Sicherheit?!“

„Jon!“, wies Cartena ihn zurecht, doch der Mann ließ sich nicht bremsen.

„Was heißt hier Jon! Wer hat denn was von Gefahr erzählt?! Bloß weil die Sonden unbeschädigt geblieben sind, gilt das auf einmal nicht mehr?! Wissen wir denn, was mit höherem Leben beim Passieren der Schicht geschieht?! Wissen wir, wie die Leute in den Häusern …“ Er sah demonstrativ zu Brauer, „… wir hatten uns doch auf Häuser geeinigt? Oder? Wie reagieren die, wenn da was vom Himmel fällt? Das wissen wir nicht. Wir wissen gar nichts. Und du wunderst dich, dass ich mich aufrege? Wieso ist bei der Beratung gestern kein Wort darüber gefallen? War das überhaupt eine Beratung? Oder ein Alibi?! – Okay!“ Er machte eine Geste wie sich ergeben. „Katja ist der Kommandant, Frank und Tomasz die Piloten, und die Crew hat das Recht, so was zu entscheiden. Aber mal ganz abgesehen davon, dass weder Rico, der auch zur Crew gehört, noch der Erste Offizier etwas davon wussten – von mir als Sicherheitschef mal ganz zu schweigen! – finde ich es ziemlich arrogant, den anderen vorzumachen, ihre Meinung sei tatsächlich gefragt! Ich nenne so was Verarschung, Frau Brauer!“ Damit drehte sich um und verließ geräuschvoll den Raum.

Betretenes Schweigen machte sich breit.

Brauer schluckte.

Ein Signal tutete in die Stille hinein.

Base forderte mit gedämpfter Stimme von den Piloten die Bereitschaftsmeldungen und gab letzte Anweisungen für das Ablegen.

Der Countdown begann.

Wenig später zogen die Lander in weiten, weichen Bögen zum blauen Planeten. Jon Donald nahm im Sessel des Copiloten Platz, Brauer reagierte nicht darauf.

Base übernahm die Kontrolle über die Lander. Er viertelte den Hauptschirm, um neben den Außenaufnahmen der Emanuel auch McMays und Browns Bilder im Auge zu haben.

Als McMay die kritische Höhe erreichte, herrschte Totenstille. Sein Viertel des Bildschirms erlosch. Dafür meldete sich Brown, auf dessen Fremdfarbenbild McMays Lander auch weiterhin deutlich sichtbar war. Jemand atmete auf. Es klang unnatürlich laut.

„Alles verläuft erwartungsgemäß“, tönte Browns Stimme im Raum. „Der Lander ist gut zu erkennen. Er ist jetzt über der Steppe. Er dreht ein wenig nach Norden ab, um nachher direkt die Häuser zu überfliegen …“

Jemand bewegte sich raschelnd, Tasten klickten. Flüstern. Normalität. Brauer stand auf. Ohne auf die Blicke der anderen zu achten, verließ sie die Zentrale und ging wie in Trance zu ihrer Kabine.

Kurz vor der Tür holte Inéz Cartena sie ein. „Was ist los?“, fragte sie besorgt.

Brauer schüttelte abwehrend den Kopf.

Cartena musterte sie. „Alles in Ordnung?“

„Ja. Es ist nur … Jon.“

„Jon?“

Brauer nickte.

„Ach, er ist nur ein bisschen laut geworden. Du kennst ihn doch, er schäumt schnell über.“

Brauer nickte. „Ja. Aber er hat Recht. Ich … habe mich unprofessionell verhalten.“

„Jon hat’s nicht so gemeint“, versucht Inéz, sie zu trösten.

Katja wischte sich über die Augen. „Ich weiß. Aber dummerweise hat er recht.“

„Und wenn schon. Komm mit zurück!“

Brauer schüttelte den Kopf.

„Und Tomasz?“

„Ich kann von hier aus sowieso nichts machen. Und außerdem ist ja Frank da.“

Cartena nickte. „Ja.“ Dann sagte sie: „Ihr seid ein tolles Team, weißt du das?“

Brauer versuchte zu lächeln. „Ja, ich weiß.“

„Es ist … eben nur manchmal schwer, damit umzugehen. Ihr macht eure Sache allein. Versteh mich nicht falsch, ihr macht sie gut, aber … Es ist manchmal schwer, nicht dazuzugehören.“

„Tatsächlich?“ Etwas Sinnvolleres fiel Brauer nicht ein.

Cartena nickte.

„Das wusste ich nicht.“

„Woher auch. Du gehörst ja dazu.“

Brauer schwieg fragend.

„Es … Man kommt an keinen von euch ran, das ist es. Nicht wirklich. Ich meine, Tom ist ja sowieso eher … verschlossen, aber Frank zum Beispiel …“

Brauer glaubte zu begreifen: „Ist es das? Dass du … nicht an Frank herankommst?“

Cartena stutzte. „Dass ich …? Nein!“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein nein nein nein nein. Es … Nein.“

Brauer lächelte. „Du liebst ihn, oder?“

Cartena zögerte mit der Antwort. Dann verneinte sie.

„Sondern?“

Sie schwieg.

„Ich sag’s auch nicht weiter …“, versuchte Brauer zu ulken.

Inéz Cartena holte tief Luft und sagte: „Ich liebe dich.“

Das Lächeln in Katjas Gesicht erstarrte.

„Vergiss es!“, winkte Inéz ab. „Es war dumm von mir. Du bist mit Tom zusammen und … Vergiss es einfach!“ Sie drehte sich um und ging, lief beinahe.

Katharina sah ihr nach. Damit hatte sie nicht gerechnet. Nicht einen Moment lang. Es war so … absurd. Sie waren Freunde. Oder? Inéz war … das kleine Mädchen, das sie beschützen musste. So wie es damals sie beschützt hatte. Katja fühlte Tränen aufsteigen. Sie hatte für Inéz sorgen wollen und wusste nicht mal, was in ihr vorging.

Sie hatte versagt.

24. 9. 2285, 22.25 Uhr Bordzeit der Emanuel

Es war ein langer Tag. Und ein ziemlich durchwachsner, was schöne und unerfreuliche Begebenheiten angeht. Erst der Anpfiff von Jon. Zu recht, und deshalb um so niederschmetternder. Dann Inéz ’ Liebeserklärung.

Mein Gott! Ich versteh das einfach nicht! Bin ich denn wirklich so blind?! Das Schlimmste ist: Es tut weh. Ja, es tut richtig weh. Ich … mag das Mädchen. Ich liebe sie.

Aber nicht so!

Mit ihr zu reden war immer … wie ein angenehmes Bad. Ein Ausgleich zur Kühle der Zentrale. Entspannung. Seltsam: Ich konnte mich in ihrer Gegenwart sogar besser entspannen als mit Tomasz …

Man beachte die Vergangenheitsform dieser Aussage!

Scheiße!

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Das vermiest mir sogar die Entdeckung der Zivilisation auf Simon drei. Und das will was heißen! Immerhin sind es die ersten außerirdischen Intelligenzen, die die Menschheit gefunden hat. Auch wenn sie uns verteufelt ähnlich sehen.

Als Tomasz über das eine Gehöft flog, kam gerade die Bäuerin heraus. Sie guckte ziemlich perplex in die Kamera, ließ dann den Trog fallen und stürzte schreiend in die Kate zurück. War ’n bisschen fies von Tomasz, die Gute so zu erschrecken. (Grins, grins.)

Wir werden morgen Nacht landen. Ich weiß, dass es sehr unüblich ist, mit dem Mutterschiff auf einen Planeten runter zu gehen, aber durch die dumme Schicht bleibt uns kaum etwas anderes übrig.

Es ist mir völlig schleierhaft, was das für ein Feld ist. Nach menschlichem Ermessen dürfte es gar nicht existieren können! Es scheint auch nicht auf dem Planeten erzeugt zu werden, zumindest haben wir nichts gefunden, was wie eine Apparatur dafür wirkt.

Allerdings ist da in der Zentralsiedlung dieser Turm. Naja … Man kann nicht reinsehen, das ist das Problem. Bei allen anderen Gebäuden, auch den großen Gebäudekomplexen rund um den Turm, kann man im Inneren die Räume erkennen. Und die Leute, die sich darin aufhalten. Aber beim Turm versagt unsere Technik.

Na, wir werden sehen! Jetzt werde ich erstmal ins Bett gehen. Und vielleicht noch etwas über Inéz nachdenken.

Inéz.

Wieso …? Was mach ich denn jetzt? Ich kann doch nicht wirklich vergessen! Ich muss Abstand zwischen uns bringen. Aber das kann ich doch nicht. Ich meine, sie hat mir das Leben gerettet! Sie …

Wann zum Teufel ist das eigentlich passiert?!

Und warum tut es so weh?

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