Buch lesen: «Mara und der Feuerbringer», Seite 5

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Loki blieb einen Moment lang unschlüssig stehen, doch als die beiden Wölfe Odins grollten, drehte er sich schließlich um und ging wortlos den Gang zwischen den Bänken zurück, den er gekommen war.

Das Lachen Odins begleitete ihn den ganzen Weg entlang, aber niemand wagte es mehr mitzulachen.

Erst als Loki die Säule passierte, hinter der Mara und Steffi versteckt waren, konnten sie ihn endlich richtig von vorne sehen. Mit diesem einen Blick beantworteten sich mehrere Fragen: erstens warum Loki nichts gesprochen hatte, zweitens warum er so wütend war auf den Kicherer und warum Odin ihn ausgelacht hatte. Lokis Lippen waren zusammengenäht mit einem dicken schwarzen Lederband.

Mara schrie auf und wusste sofort, dass das ein ganz großer Fehler war.


Kapitel 9


Unzählige Augenpaare richteten sich auf Mara. Schneller, als sie achduscheißedummdumm denken konnte, waren schon die ersten Krieger aufgesprungen und hatten ihre Waffen gezogen.

Loki selbst stieß ein ersticktes Knurren zwischen seinen zugenähten Lippen hervor, und seine düsteren Augen verengten sich zu Schlitzen. Er hatte so gar nichts von dem schalkhaften Kerl, den Mara in der Höhle kennengelernt hatte. Dieser Loki hier war ein mörderischer, rachsüchtiger Dämon!

Mara wich zurück und versuchte, Steffis Arm zu erwischen, um mit ihr körperlichen Kontakt aufzunehmen. Nur dann konnte sie sicher sein, dass sie sie wieder mit zurücknehmen würde! Sie erwischte einen Ärmel, riss ihn zu sich und konzentrierte sich sogleich auf den Platz vor dem Museumstrakt.

Professor Weissinger war ebenso überrascht, wie Mara aufgeregt war: »Wow, das war knapp!«, sprudelte sie sofort los. »Wir waren in der Halle mit den toten Kriegern! Odin war auch da und Loki! Und er hatte den Mund zugenäht, warum könnte das denn sein, oder ist das wieder irgend so eine brutale Göttergeschichte? Auf jeden Fall bin ich erschrocken und zwar zu laut. Und alle haben hergesehen, Loki auch, und da sind wir sofort abgehauen, boah, war das knapp!«

Sie sah den Professor an, doch der sagte nichts. »Hallo?«, fragte Mara. »Alles okay?«

Der Professor schüttelte den Kopf und deutete dann nur mit seinem Blick und einem Nicken seines Kinns an, wohin Mara schauen sollte. Mara drehte den Kopf und erschrak noch einmal: Sie hielt den Ärmel eines Wikingers in der Hand.

»Ah!«, rief Mara und sprang zur Seite wie ein Flummi. Gleichzeitig zog der Wikinger sein Schwert. Ein wütender Kampfschrei klang dumpf unter dem breiten Nasenschoner des Helmes hervor, als er das Schwert geschickt um den Körper kreisen ließ, um dann von ganz oben mit voller Wucht zuzuschlagen.

Mara stolperte rückwärts, prallte gegen die Hauswand und rutschte zitternd daran herab. Sie hatte keine Chance, dem Hieb auszuweichen, und wusste das. Sie wusste auch, dass es nichts brachte, die Augen zu schließen und dabei schützend die Arme über den Kopf zu heben, und tat es trotzdem.

Da hörte sie einen weiteren Schrei und öffnete die Augen. Es war die Stimme des Professors, der Maras Stab in beiden Händen hielt und gerade einen Hieb des Wikingers parierte.

»Weg von der Mauer!«, rief er ihr zu, während er sich seitlich zu seinem Gegner postierte, um weniger Angriffsfläche zu bieten und gleichzeitig die linke Hand vom Stab löste. Mit der Rechten führte er nun den Stab wie ein Schwert, ließ ihn durch eine Bewegung des Unterarmes zweimal blitzschnell kreisen und schlug dann dem Wikinger aus einem überraschenden Winkel mit voller Wucht auf die Schwerthand. Der schrie wütend auf und ging zum Angriff über. Doch sein Schwert glitt ins Nichts, denn der Professor stand nun daneben und vollführte mit dem Stab eine seltsame Drehbewegung entlang der gegnerischen Klinge. Bevor Mara verstehen konnte, wie der Professor das gemacht hatte, fiel das Schwert des Wikingers auch schon in den Kies. Mara bemerkte sehr wohl, dass der Professor sein typisches Ich-liebe-es-wenn-ein-Plan-funktioniert-Gesicht trug. Sie schrie erschrocken auf, als der Wikinger nach seiner Waffe tauchte.

Professor Weissinger schwang den Stab wie einen Golfschläger und traf das Schwert präzise am Knauf. Singend schlitterte die Waffe des Wikingers über den Kiesboden und schlug mit der Spitze am Fuß eines Baumstamms ein. Der Wikinger landete bäuchlings im Kies.

Gerade als er sich aufrappeln wollte, um hinter dem Schwert herzurennen, schob ihm Professor Weissinger den Stab zwischen die Füße. Der Wikinger vollführte einen halben Salto in der Luft, und es machte ziemlich laut PANK, als der Helm auf den Kiesboden prallte. Da der Kopf des Wikingers nach wie vor im Helm war und an dem Kopf der Rest des Wikingers dranhing, machte es wohl auch in dem Wikinger ganz schön laut PANK. Bevor der sich’s versah, hatte der Professor ihm seinen Fuß auf den Hals gestellt und schaute ihn mit einem Blick an, den Mara so noch nie an ihrem Mitstreiter gesehen hatte.

»Ekki bregð við eða ek skal þrýsta!«, sprach der Professor, und Mara ahnte schon, dass das eine Drohung war, in der das Wort zudrücken vorkam.

»Mara! Hol das Schwert!«, befahl der Professor, und Mara stolperte sofort los. Die Klinge ließ sich leider nicht so leicht aus dem Baum ziehen wie erhofft, aber nachdem sie einmal fest gegen den Griff getreten hatte, löste sich die Spitze aus dem Holz, und sie hob das Schwert auf.

Sie war überrascht, wie schwer es war. Mit der Klinge nach unten reichte sie dem Professor die Waffe. Der nahm seinen Fuß vom Hals des Kriegers und hielt ihm jetzt dafür die Spitze seines eigenen Schwertes unters Kinn.

Sehr darauf bedacht, keine hektische Bewegung zu machen, breitete nun der Wikinger auf dem Boden die Arme aus und drehte die Handflächen nach oben. Er ergab sich.

»Krass«, schulhofte es aus Mara hervor. Es passte nun mal perfekt zu der Situation. Sie war gleichzeitig verwundert und fasziniert, wie gut Professor Weissinger tatsächlich mit dem Schwert umgehen konnte.

Dieser merkte das. »Um ehrlich zu sein, ich war nicht ganz fair. Ich kenne dieses historische Schwertmodell, und es ist fürchterlich kopflastig. Damit kann man zwar wuchtig zuschlagen, aber dafür verliert man schnell die Kontrolle, wenn ein geschickter Gegner – in dem Falle also ich – an der richtigen Stelle Druck ausübt. Mit einem hochmittelalterlichen Schwert vom Typ XIII nach Oakeshott hätte er mich filettiert.«

Mara verzichtete darauf, zu fragen, was für ein Typ der Oakeshott war. Sie wollte den Professor in einer solchen Situation nicht noch in den Erzählmodus schalten. Schließlich lag da nach wie vor ein wütender Wikinger vor ihm auf dem Kies!

Der Professor ließ seinen Gegner nicht aus den Augen.

»Eingar heimskar!«, sagte er auf wikingerisch, und Mara konnte wieder nur raten, was es wohl bedeutete. Vermutlich so was wie: »Brav bleiben, Schnubbelchen, und die Flossen, wo ich sie sehen kann.« Was man eben so sagte, wenn man jemanden mit einer Waffe bedrohte.

»So, dann bring ich den jetzt mal zurück und hol Ihre Exfrau wieder«, verkündete Mara und trat neben den Professor.

»Eine klitzekleine Sekunde bitte noch!«, bat der Professor. »Lass uns wenigstens nachsehen, mit wem wir hier die Ehre haben!«

»Herr Professor! Ihre Exfrau rennt vermutlich gerade vor einem Haufen Wikinger davon!«

»Oder die vor ihr«, brummte der Professor in seinen Bart.

»Bitte?!«

»Ich sagte, du hast natürlich recht. Also dann, ich bin bereit.«

Mara beschloss, die letzten Sätze zu ignorieren, damit sie nicht noch mehr Zeit verloren, und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Und öffnete sie wieder. »Geht nicht«, sagte sie nur.

»Wie, ›geht nicht‹?«

»Na, das Fass namens Mara ist wieder mal leer. Reicht grad mal für mich alleine, aber nicht für drei«, antwortete Mara und seufzte. »Wo sind denn Hugin und Munin? Vielleicht geben die mir was ab?«

Sie sah sich um. Die beiden Raben waren verschwunden. Auch der Professor wagte einen Blick zur Seite, wo die beiden vorher noch gesessen hatten, und schnaubte wütend: »Die sind doch tatsächlich abgehauen! Na, vielen Dank!«

Ein Fehler, wie er schnell bemerkte, denn der Wikinger nutzte sofort die Chance, schlug mit seinem lederumwickelten Unterarm die Klinge des Schwertes zur Seite, rappelte sich auf und rannte dann wie der Teufel davon, in Richtung des Haupthauses.

»Verdammt noch eins!«, rief der Professor und machte sich sofort an die Verfolgung. »Du musst Steffi alleine zurückholen! Du schaffst das, Mara! Ich weiß das!«

Es klirrte und schepperte, und ein überraschter Schrei mischte sich unter den Lärm. Der Krieger war mit voller Wucht durch die gläserne Eingangstüre des Haupteingangs gerannt und schlitterte auf der anderen Seite zusammen mit den Scherben über den polierten Boden. Sogar von hier aus konnte Mara sehen, wie verwirrt der Kerl war, dass etwas, das man kaum sehen konnte, so verdammt stabil war. Da schrillte auch schon die Alarmanlage los, und der Wikinger erschrak so fürchterlich, dass er Mara fast leidtat.

»Los jetzt, Mara! Tu es!!«, rief Professor Weissinger und folgte dem Wikinger durch die zerschmetterte Glastür ins Museum.

Und Mara tat es.

Kapitel 10


Als Mara in die Halle der Gefallenen trat, war dort kein einziger Gefallener. Stattdessen räumte eine kleine Armada an Frauen die Tische ab, wischte Bier vom Boden auf und rückte Bänke an ihre Stelle. Von draußen tönte Kampfeslärm.

Ist mal wieder typisch, dachte Mara. Die Jungs toben draußen rum, und die Mädels räumen auf. Dann kommen die Jungs nach Hause, sauen mit ihren Straßenschuhen wieder alles ein und wollen dann aber, dass die Mädels über die Schrammen am Knie pusten.

Andererseits … Mara überlegte. Vielleicht wollte sie doch lieber hier drin Teller stapeln, wenn die Alternative war, sich da draußen gegenseitig mit Schwertern die Birne runterzuhauen.

Genug davon. Mara griff sich ein grobes Leinentuch, das zusammengeknüllt in einer Ecke lag, wickelte es notdürftig über ihre moderne Kleidung und band es mit ihrem Ledergürtel an der Hüfte zusammen. Schließlich schulterte sie noch eine große Holzschüssel, um irgendwie einen arbeitenden Eindruck zu machen, und wagte sich aus der Deckung. Sie blieb trotzdem im Schatten zwischen den Holzsäulen und der Wand, um nicht aufzufallen.

Sie musste gar nicht lange suchen, als sie die Exfrau des Professors schon erkannte. Zugegeben, das war auch nicht sonderlich schwer. Stefanie Warnatzsch-Abra stand umringt von einer Gruppe Frauen auf einem der Tische und redete in einer fremden Sprache auf sie ein. Die Frauen hörten gebannt zu und nickten dabei eifrig. Mara wagte sich etwas näher heran und versuchte, die Aufmerksamkeit von Steffi zu erhaschen. Doch die war voll in ihrem Element und sprach wie ein Wasserfall. Vereinzelt wurden nun zustimmende Rufe laut. Anscheinend traf Steffi einen Nerv mit ihrer Rede.

»Psst! Frau Warnatzsch-Abra! Hallo, ich bin’s!«, zischte Mara zu ihr hinauf, aber sie drang nicht durch.

Verdammt, jeden Moment kommt wieder irgendein Gott mit Wölfen, Raben oder abbem Arm hier rein, und dann hab ich’s dreifach schwer, ärgerte sich Mara. Sie spürte kurz prüfend in sich hinein und stellte fest, dass ihre Kraft nicht ausreichen würde, um mit Steffi zusammen hier zu verschwinden. Okay, das ist blöd, dachte sie und sah sich etwas ratlos um. Da entdeckte sie etwas, das ihr bekannt vorkam: Eine große Schale Äpfel stand auf dem Tisch, an dem Odin gesessen hatte. Sofort war Mara klar, dass dies keine gewöhnlichen Äpfel sein konnten, denn sie schillerten golden im Licht, das von oben zwischen den Schilden hindurch in die Halle fiel.

Hatte der Professor da nicht etwas erzählt? Irgendwas mit Äpfeln, die Loki geklaut hatte? Wie war das noch gleich? Auf jeden Fall waren die Dinger irgendwie wichtig für die Götter, und was für die Götter gut war, konnte doch wohl kaum schlecht für Mara sein, oder?

Okay, bei Adam und Eva war die Apfelnummer echt schlecht ausgegangen. Hm …

Sie blickte noch einmal verstohlen auf die Früchte. Ja, die sahen auf jeden Fall so aus, als wären sie voll mit … mit Zauberdings.

Und ich brauch jetzt ganz dringend was mit Zauberdings, dachte Mara entschlossen. Im schlimmsten Fall hab ich dann halt weniger Hunger, und das ist auch nicht so schlecht.

Vorsichtig zog sich Mara aus der Gruppe der Zuhörerinnen zurück und näherte sich der Schale. Als sie nah genug dran war, drehte sie sich mit dem Rücken zum Tisch und streckte heimlich die Hand aus ihrem improvisierten Kleid. Blind tastete sie sich an der Schale hoch und griff sich einen der Äpfel.


AU! Mara zuckte zurück und starrte auf ihren blutigen Handrücken. Auf dem Tisch stand ein Rabe und funkelte sie wütend an.

»Hugin! Oder Munin! Spinnst du oder was?«, rief sie und hielt sich die schmerzende Hand. »Ich sag dir, das wirst du noch bereuen, wenn du erst einmal weißt, wer ich bin! Ich rette euch gerade allen den Hintern, verdammt!«

Immerhin hatte sie es mit ihrem Monolog geschafft, dass der Rabe sie verwirrt anstarrte. Ach ja, und auch Steffi schwieg und sah fragend herüber. Zusammen mit ihren Zuhörerinnen.

Okay, na dann … Mara gab sich einen Ruck und rannte los. Sie hörte den Raben krähen und mit den Flügeln schlagen und legte noch einen Zahn zu. Er würde jeden Moment einen Luftangriff starten, da war sich Mara sicher. Und sein Schnabel war eine verdammt fiese, schwarze, spitze Waffe! Trotzdem blieb sie nicht stehen, hob im Rennen den Apfel mit der blutigen Hand zum Mund und biss hinein.

Innerhalb einer Millisekunde fühlte sich Mara … kurzbeinig?

Sie stolperte über ihre Verkleidung, obwohl ihr die doch nur bis zu den Knien ging, und wollte sich mit den Händen an einem der Tische abstützen. Doch irgendwie war der Tisch weiter weg, als sie dachte. Mara prallte fies mit der Schulter auf eine der Bänke, bevor sie auf dem Boden aufschlug.

Gerade noch rechtzeitig hörte sie ein verräterisches Flattern über sich und hatte noch die Geistesgegenwart, die große Holzschüssel wie ein Schild über ihren Kopf zu halten. Es machte laut BONK, und direkt danach machte es leise »Krächz«. Neben ihr fiel der Rabe bewusstlos zu Boden.

»Tut mir leid!«, quietschte Mara seltsam, rappelte sich auf und lief weiter auf Steffi zu. »Frau Warnatzsch-Abra!«, rief sie und wunderte sich über ihre eigene schrille Stimme.

»Mara?!«, antwortete Steffi und sprang vom Tisch. »Aber … aber du … du bist …«

»Ja, ich weiß, ich war weg, aber jetzt bin ich wieder da, und wir hauen hier ab! Ihre Hand!«, piepste Mara heiser und streckte ihre Finger nach Steffi aus. Doch als sie ihre eigene Hand vor sich sah, erschrak Mara so sehr, dass sie fast noch einmal hingefallen wäre. Ihre Finger waren … Fingerchen!?

»Du bist … ein Kind!«, stotterte Steffi und starrte Mara völlig entgeistert an.

»Ich bin ein … aber … was?«, stammelte Mara verwirrt. Und doch schien alles darauf hinzudeuten, dass Steffi recht hatte: die Finger, die kürzeren Beine, die Stimme – Mara hatte sich verjüngt!

Alles, aber doch DAS nicht!, schrie es in Mara, ich hab ewig gebraucht, um vierzehn zu werden, bitte nicht noch mal!

»Du … du hast doch nicht etwa von den Äpfeln der Idun gegessen?!«, rief Steffi erschrocken. »Bist du denn von allen guten Geistern verl…«

Ein lautes Krachen und Knarren ließ sie verstummen, und beide sahen sich um.

Zu allem Überfluss öffnete sich direkt neben ihnen gerade eines der gigantischen Doppeltore. Und noch eins. Und noch eins. Und noch eins. Okay, alle. Und in die Halle flutete durch jedes Tor eine Hundertschaft an blutverschmierten, johlenden und lachenden Wikingern.

Sie warfen ihre Waffen, Helme und Schilde achtlos zur Seite, rissen sich um die Tische, schubsten und schlugen sich feixend und schrien nach Essen und Trinken. Das verstand Mara zwar nicht, aber sie hatte trotzdem keinen Zweifel daran. Was sonst hätten sie brüllen sollen? »Für mich bitte eine Rhabarbersaftschorle mit Strohhalm?!« Oder was?

Da hatte Steffi Mara endlich erreicht und griff mit beiden Händen ihren Arm. »Los, weg hier! Die sind jetzt erst mal beschäftigt.«

Mara verstand erst nicht, was Steffi meinte. Doch als sie zurückschaute zu den Frauen, auf die Steffi vorhin so eindringlich eingeredet hatte, wurde ihr alles klar: Die Frauen sahen den Männern schweigend zu, hatten die Arme verschränkt, die Lippen zusammengepresst und bewegten sich keinen Millimeter.

Steffi grinste schelmisch. »Dachte, es kann auch hier in Walhall nicht schaden, wenn sich die Männer zur Abwechslung mal ihr Bier selber holen. Jetzt aber los.«

Mara nickte und konzentrierte sich.

Kapitel 11


Das Gute an den magischen Kräften der Äpfel war, dass es Mara spielend leicht gelang, sie beide wieder zurück in die Gegenwart nach Kalkriese zu holen. Das Schlechte daran war, dass Mara nicht älter aussah als acht Jahre.

»Daf darf doch nicht wahr fein«, lispelte Mara, kaum dass sie sich orientiert hatte, und schlug sich sofort mit der Hand auf den Mund. Ich lisple!? Ich lisple wieder?! Nein! NICHT DAS!

»Ganz ruhig, Mara, beruhige dich bitte«, hörte sie Steffi sagen, aber Mara sah wirklich überhaupt keinen Grund, sich zu beruhigen. Am liebsten hätte sie jetzt ganz laut losgeschrien und geschimpft. Sie schämte sich aber so für ihre Stimme und ihr Lispeln, dass sie es bei einem unterdrückten Wutschrei irgendwo in der Kehle beließ und dazu wie wild auf dem Kies herumtrampelte.

»Mara! Das bringt überhaupt nichts! Hör auf damit!«, rief Steffi. »Das geht wieder vorbei. Ganz sicher! Die Götter mussten regelmäßig von den Äpfeln der Idun essen, weil sie so ewig jung blieben! Das heißt, dass du ganz schnell wieder älter wirst, wenn du nicht mehr davon isst, verstehst du?«

Mara überlegte fieberhaft, was sie wohl sagen konnte, ohne dass irgendwelche S-Laute darin vorkamen. Sie entschied sich schließlich für ein multifunktionales »Aaahrgh!« und schlug dazu mit den kleinen Fäustchen so lange auf einen Baum ein, bis ihr die Knöchel wehtaten.

Da griff ihr jemand mit beiden Händen an die Handgelenke und hielt sie eisern fest. Steffi drehte Mara geschickt herum, ohne sie loszulassen und sah ihr dann direkt in die Augen. »Mara, du wirst dich jetzt beherrschen«, sagte sie ganz leise und ruhig. »Ich weiß, du kannst das. Du hast anscheinend schon ganz andere Sachen geschafft, und das schaffst du jetzt auch. Okay?«

Mara biss sich auf die Lippen und sagte nichts. Steffi seufzte. »Na gut, du siehst also nicht nur wieder aus wie acht, sondern verhältst dich auch so.«

»Gar nicht!«, rief Mara und riss sich trotzig los. Dabei hatte sie allerdings nicht wirklich das Gefühl, sich jetzt besonders erwachsen aufzuführen.

Etwas schepperte laut, und beide sahen zum Museum hinüber. Der Wikinger rannte aus dem Gebäude, als wäre der Teufel hinter ihm her. In der Hand hielt er ein seltsames Schwert: Es war an mehreren Stellen geknickt, fast wie eine Wellenlinie, und außerdem ganz schön verrostet.

Dicht hinter ihm folgte Professor Weissinger und keuchte wie eine Dampflok. Trotzdem schien er ungebrochen zu sein und schwang das Schwert des Wikingers wie ein geübter Kämpfer, während er hinter seinem Gegner herrannte. »Du … du … legst das … pff … zurück … pff …«, schnaufte er. »Das ist ein Museumsstück … du Barbar … pfff …«

Mutig stellten sich Steffi und Mara in den Weg und breiteten die Arme aus. »Stallþu!«, rief Steffi, und Mara tat ihr Bestes. »Ftallfuh!«, brüllte sie ebenso falsch wie lispelnd und kam sich sofort so dermaßen blöd vor, dass sie am liebsten spontan implodiert wäre.

Doch anstatt anzugreifen, schlug der Wikinger einen überraschenden Haken und rannte nun quer durch die Bäume und Büsche in Richtung des Parkplatzes.

Der Professor wollte direkt weiterrennen, besann sich aber dann und wendete sich kurz an Steffi: »Schön, dass du, äh, gerettet bist. Scheidung hin oder her.« Dann grinste er frech, und zu Maras Überraschung grinste Steffi sogar zurück. Doch kurz bevor er sich wegdrehen wollte, sah er noch einmal Mara an.

»Iduns Äpfel?«, fragte er, und Steffi nickte. »Geht vorbei«, sagte der Professor nur und rannte dann weiter dem Wikinger hinterher.

»Komm!«, rief Steffi Mara zu, und sie folgten ihm querfeldein in Richtung Parkplatz.

Dort angekommen, bot sich ihnen ein unerwartetes Bild: Der Wikinger war umringt von einer Schar von Touristen jeden Alters und sah aus wie ein scheues Reh. Überall riefen Menschen nach ihm.


»Schau hierher, Wickie!«

»Kuckuck!«

»Cheeeeese!«

Man stellte sich neben ihn, posierte, und es herrschte ein großes Hallo.

Etwas abseits stand Professor Weissinger auf das Schwert gestützt, und obwohl er schwitzte und schnaufte, grinste er bis über beide Ohren. »Neun Uhr, Öffnungszeit«, meinte er nur und deutete auf den großen Reisebus, aus dem immer mehr Touristen strömten. Sobald sie den Wikinger zwischen den Mitreisenden erblickten, hatten sie schneller ihre Fotoapparate und Handys gezückt als Lucky Luke den Colt und ballerten wild drauflos.

»Gibt es irgendeinen Wagen, den wir … ähm … verwenden könnten?«, flüsterte der Professor Steffi zu. Die sah ihn groß an. Aber Professor Weissinger zuckte die Achseln. »Wir müssen nach München. Dringend. Also?«

Seine Exfrau seufzte ergeben und deutete auf einen dunklen Jeep. »Der Wagen gehört dem Museum. Die Schlüssel sind im Büro. Ich geh sie holen.«

Sie drehte sich um, ging schnellen Schrittes zurück zum Bürogebäude und winkte dabei Mara heran. »Komm mit, du willst doch sicher eure Koffer?«

»Aber«, fing Mara an, doch der Professor wedelte mit der Hand. »Geh nur, ich hab das hier im Griff. Wenn die mit ihm fertig sind, wird er nicht mehr kämpfen wollen. Dann braucht er höchstens jemanden, der ihn in den Arm nimmt. Ach, und nehmt bitte das alte Schwert mit. Es ist aus der Sonderausstellung im zweiten Stock.«

Mara hob die verbogene, rostige Waffe vom Boden auf und löste sich von dem seltsamen Schauspiel. Dann folgte sie Steffi. Was sonst hätte sie tun sollen? Eben.

Als sie beide nur wenig später mit dem Gepäck zurückkamen, waren die Touristen inzwischen im Museum verschwunden. Professor Weissinger und der Wikinger standen auf dem Parkplatz und waren in ein Gespräch verwickelt. Hätte der Krieger nicht so kriegerisch ausgesehen, man hätte meinen können, dass sich hier zwei Arbeitskollegen unterhielten, bevor sich jeder in seinen Büroverschlag zurückzog. So aber bot es schon ein seltsames Bild.

»Dann nimm doch mal deinen Helm ab«, forderte der Professor ihn gerade auf, deutete auf den Helm und dann auf die Sonne. Der Wikinger zögerte kurz, zuckte dann recht modern mit den Achseln und zog den schweren Helm mit dem breiten Nasenschoner vom Kopf.

Mara war ebenso erstaunt wie der Professor, als darunter ein schmutziges, aber überraschend junges Gesicht zum Vorschein kam. Außerdem fielen lange dunkelblonde Haare aus dem Helm und kräuselten sich nun bis über die lederbedeckten Schultern.

»Hvat er nafn þitt?«, fragte der Professor, und der Junge antwortete mit einem seltsamen Wort. Er sagte: »Thumelicus.«

Professor Weissinger runzelte die Stirn, und seine Exfrau sog überrascht die Luft ein. »Das kann doch nicht …«, flüsterte sie und sah den Jungen dabei mit einem seltsamen Blick an, der diesem offensichtlich gar nicht geheuer war.

»Um waf geht’f hier, bitte?«, lispelte Mara dazwischen und hätte jetzt wirklich alles dafür gegeben, Zeichensprache zu beherrschen.

»Ich habe ihn nach seinem Namen gefragt, und die Antwort hat uns, vorsichtig ausgedrückt, überrascht«, antwortete der Professor.

»Wiefo?«, fragte Mara, während sie überlegte, wie der junge Wikinger wohl gewaschen aussah. Andererseits würde er sich ja wohl kaum für ein achtjähriges, leicht angepummeltes Lispelmädchen interessieren.

»Wie gesagt, Thumelicus«, gab der Professor zurück.

»Daf ift ein Name?«

»Ja, und zwar ein römischer. Somit ist das hier eigentlich gar kein Wikinger, sondern ein Germane.«

Mara sah den Professor fragend an. Der Junge war ein Germane, weil er einen römischen Namen trug? Hatten nicht vor allem Römer römische Namen?

Steffi antwortete für den Professor: »Das ist wieder mal typisch Reinhold Weissinger, unglaublich. Damit will er nur erreichen, dass man ihn fragt, und ich kürz das mal eben ab. Also, wenn dieser Junge DER Thumelicus ist, den wir meinen – dann ist er ein germanischer Fürstensohn, trägt aber einen römischen Namen, weil er in römischer Gefangenschaft aufwuchs. Jeder Historiker, der sich durch die Schriften des Tacitus kämpfen durfte, kennt ihn. Und wir hier im Museum Varusschlacht kennen ihn sogar ganz besonders gut.«

Aha, ist also ein Promi, der Tunnelkuss, dachte Mara und beschloss, ihn deswegen nicht anders zu behandeln als jeden anderen nett aussehenden Jungen mit dunkelblonden Locken und braunen Augen …

Professor Weissinger nickte. »Ja, Thumelicus ist nämlich der Name des Sohnes von Arminius.«

Sofort blitzte es in den Augen des Jungen auf. »Sigurd!«, rief er wütend. Und schimpfte dann irgendwas in einer ganz anderen Sprache, wollte gar nicht mehr aufhören.

Beruhigend hob Professor Weissinger die Hände und sprach leise, aber bestimmt auf ihn ein. Mara erkannte, dass der Professor jetzt lateinisch mit dem Jungen sprach. Na klar, Thumelicus war bei den Römern aufgewachsen, und die hatten ihm sicher kein Germanisch beigebracht. Die nordische Sprache hatte er dann wohl erst in Walhall gelernt.

Der Junge verstummte schließlich und drehte sich dann weg. Mara kannte diese Bewegung sehr gut, und zwar von sich selbst. Sie machte das immer dann, wenn sie weinen musste und es niemand sehen sollte. Und jetzt wurde ihr bewusst, dass genau das Wegdrehen eigentlich schon alles verriet. Mist.

»Ich glaube, wir sollten ihm mal erzählen, wo er hier eigentlich ist. Das sind wir dem armen Kerl schuldig«, sagte Steffi. »Nimm du dir doch die Zeit und kläre Mara kurz auf. Dann fahren wir nach München.«

»Wir? Moment mal, wieso …«, begann der Professor, doch Steffi schnitt ihm das Wort ab. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich jetzt wieder hier in mein Erdloch setze und weiter germanische Pfeilspitzen ausgrabe, wenn ich mit euch die Chance habe, zu sehen, wie die Dinger abgeschossen werden?«

Den Ich-bin-ja-so-froh-dass-wir-geschieden-sind-Seufzer des Professors komplett ignorierend, wendete sie sich an Thumelicus und sprach leise mit ihm. Dabei deutete sie ab und zu auf das Museum und auf die umliegende Gegend. Der Junge blieb die ganze Zeit über still.

»Also, Mara, dann will ich mal nicht dem Befehl meiner Ex zuwiderhandeln und dich schnell aufklären«, fing der Professor an und grinste. »Soll ich mir den Bienchen-und-Blumen-Witz sparen oder …«

»Ich feh nur fo auf wie acht«, grummelte Klein-Mara und verschränkte die Ärmchen.

»Verzeih mir, du haft … äh, hast ja recht«, verbesserte sich Professor Weissinger und sprach lieber gleich weiter. »Thumelicus ist also in der Tat der Sohn von Arminius. Wir erinnern uns: Der germanische Fürst, der nach allem, was wir wissen, hier in Kalkriese die römischen Soldaten des Varus besiegte. Die Reaktion des Jungen auf den anscheinend verhassten römischen Namen seines Vaters war Beweis genug. Die Tatsache, dass dessen germanischer Name Sigurd lautet, ist nicht weniger als eine kleine Sensation, denn das könnte bedeuten, dass Arminius und der Siegfried aus der Nibelungensage vielleicht doch miteinander zu tun haben!«

Der Professor machte eine Pause, als Thumelicus Steffi eine Frage stellte und dabei nach oben deutete. »Er fragt gerade, warum er seinen Vater nicht in Walhall finden konnte. Dort kämen doch alle großen Krieger hin«, erklärte er dann und schluckte.

Mara hatte auch augenblicklich einen Kloß im Hals. Die Vorstellung, dass der Junge schon eine halbe Ewigkeit in diesen Tausenden von Menschen nach seinem Vater suchte und ihn nicht finden konnte, berührte irgendetwas in ihr.

»Wiefo ift er überhaupt in Walhall?«, fragte sie und schniefte.

»Thumelicus, meinst du? Nun, dort kommen, laut den alten Schriften, die Krieger hin, die im Kampf gefallen sind und dann von den engelsartigen Walküren ausgesucht wurden. Odin holte sich nur die Besten in sein Totenheer.«

Mara fand das sofort unlogisch. Wenn man auf dem Schlachtfeld fiel, war man doch eben genau nicht der Beste, oder? Andererseits, hätte Odin nach jeder Schlacht die siegreichen Überlebenden in seine Halle der Toten geholt, hätte sich bald die Frage gestellt, warum man dann überhaupt siegen wollte. Wieder einmal stellte Mara fest, dass sie wohl zu viel nachdachte. Das machte es nicht immer leichter, aber fast immer deutlich komplizierter.

»Wie dem auch sei, wir sollten ihn auf jeden Fall wieder zurückbringen nach Walhall«, sagte der Professor nun.

»Nein!«, widersprach Mara viel zu laut und erntete damit einen erstaunten Blick. Ich bin so eine Gurke, dachte sie sofort. Was denkt der jetzt von mir!

»Ich meine … er kann doch noch … bleiben. Kurpf«, setzte sie hinterher und fühlte sich gleich noch etwas gurkiger.

»Richtig, wir nehmen ihn mit«, hörte sie plötzlich Steffi sagen und das entgurkte sie schneller als jeder Gurkenhobel.

»Echt?«, rief sie.

»WAS?«, rief der Professor.

»Wir nehmen ihn mit, Reinhold. Hast du es jetzt akustisch verstanden, oder soll ich es ein drittes Mal wiederholen?«, fragte Steffi ungerührt und drückte auf den Autoschlüssel. Es piepte in unmittelbarer Umgebung, und die Lampen eines schwarzen Jeeps blinkten kurz auf.

»Aber … das können wir doch nicht so einfach machen!«, entgegnete der Professor hitzig. »Er gehört nicht hierher, er ist … der Junge ist ein toter Germane und gehört darum in das germanische Jenseits nach Walhall! Wir wissen doch gar nicht, was wir damit anrichten, wenn wir ihn nicht wieder dorthin zurückbringen! Wer weiß, was das für menschheitsgeschichtliche Konsequenzen hat!«

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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Altersbeschränkung:
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Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
374 S. 25 Illustrationen
ISBN:
9783964260444
Rechteinhaber:
Автор
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