Buch lesen: «Schwarzer Peter», Seite 3

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III

Damp hatte den Polizeiwagen hinter dem Hotel „Hitthim“ geparkt. Er wählte die Nummer von Bökemüllers Sekretariat. „Der Chef hatte Ihren Anruf schon früher erwartet“, verkündete unheilvoll die Vorzimmerdame des Polizeidirektors. Es dauerte mindestens eine Minute, bis er endlich durchgestellt wurde. Die eintönige, sich wiederholende Tonfolge der Warteschleife war für Damp wahre Folter.

„Mensch, Damp, was ist das wieder für ein Mist“, meldete sich sein Vorgesetzter. „Hier klingeln schon seit Stunden die Telefone. Warum muss ich aus dem Hiddensee-Forum im Internet erfahren, was bei Ihnen los ist? Hätten Sie das nicht verhindern können?“

„Wie denn?“, platzte Damp heraus. „Wir hatten alle Hände mit der Witwe und dem Sohn zu tun.“

Bökemüller ging nicht darauf ein. „Aber was ist denn nun Stand der Dinge?“

Damp berichtete über die Vorgänge auf dem Friedhof, dem Gespräch mit Gildes Hinterbliebenen und von den Anzeigen.

„Und was meint Rieder dazu?“ Die Frage versetzte Damp einen Stich. Zählte denn sein Urteil gar nicht?

„Der glaubt nicht, dass es zu Ermittlungen kommt.“

„Hm“, machte Bökemüller. „So wie das jetzt hochkocht, müssen wir der Sache nachgehen. Der Gilde war ein wichtiger Mann. Eine Fabrik mit über zweihundert Angestellten. Die einzige Fabrik auf Rügen.“

„Also wieder ausgraben?“

„Wieso ausgraben? Sie haben doch wohl verhindert, dass Gilde eingegraben wurde?“

Zur gleichen Zeit stand Stefan Rieder auf dem Hiddenseer Inselfriedhof in Kloster. Er sah dem Friedhofsgärtner Tobias Zion zu, wie er säuberlich den frischen Grabhügel über Gildes letzter Ruhestätte glatt strich. Zion war wie immer ganz in schwarz gekleidet und schien die personifizierte Trauer zu sein. Schwarzes Kopftuch, schwarze Jeans und schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „live fast, die young“. Angesichts des Alters des Toten war es aus Rieders Sicht nicht ganz passend. Aber es entsprach Zions Lebensphilosophie. Zion fühlte sich mehr dem Tod als dem Leben zugeneigt, obwohl er erst Ende zwanzig war. Er hasste die Sonne und das Tageslicht, liebte die Dunkelheit und den Mond. Zion lebte seit einigen Jahren auf der Insel. Der frühere Inselpfarrer Schneider hatte ihn als Friedhofsgärtner eingestellt und dafür gesorgt, dass er die alte Gärtnerei in Kloster pachten konnte. Allein von der Grabpflege und den Beerdigungen hätte Zion nicht leben können. Er zog in den Gewächshäusern und auf den Beeten der Gärtnerei Schnittblumen und frisches Gemüse. Beides verkaufte er über die Supermärkte in Kloster und konnte davon gut leben. Auch nach Schneiders tragischem Tod vor einem halben Jahr hatte der neue Inselpfarrer Laube ihn weiter beschäftigt, gegen den Widerstand einiger Mitglieder aus dem Kirchenvorstand. Sie störte Zions Angewohnheit, nachts auf Gräbern Lichter anzuzünden und dann stundenlang auf dem Friedhof sehr schaurige dunkle Musik zu hören. Es gab Gerüchte, der sonst sehr zurückhaltende junge Mann würde dabei den Teufel anbeten. Das sei doch mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar, hatten einige im Kirchenvorstand geklagt. Aber Pfarrer Laube hatte ihnen entgegengehalten, er fühle sich auch für eine verlorene Seele verantwortlich.

Gildes Grab befand sich im vorderen Teil des Inselfriedhofs. Dort waren die Ruhestätten der Hiddenseer Prominenz aus vergangenen Tagen. Gegenüber war das schlichte Holzkreuz für den früheren Inselpfarrer Arnold Gustavs, der über ein halbes Jahrhundert Seelsorger der Insulaner gewesen war. Ein paar Gräber neben Gilde hatte die Tänzerin Gret Palucca ihre letzte Ruhe gefunden. Auf dem schlichten Stein lagen Kiesel der Erinnerung. Neben Gildes Grabhügel türmten sich auf einem kleinen Wagen die Kränze und Gestecke. Rieder entzifferte die Texte auf den Schleifen. Nicht nur für Witwe und Sohn sollte Werner Gilde unvergessen bleiben, sondern auch für die Geschäftsführung der Gildemeister Holding, den Personalrat, die Abteilung Gildemeister Back und die Abteilung Gildemeister Suppen. Auch der Unternehmerverband und die Insel Hiddensee gaben mit großen Gebinden das letzte Geleit. Dazu kamen viele Sträuße. Kunstvoll versuchte Zion alles so auf und um das Grab zu platzieren, dass auch keine Schrift verdeckt war.

„Vielleicht ist das vertane Liebesmüh“, unterbrach Rieder die Arbeit des Friedhofsgärtners. Zion hielt inne. „Ist nicht wahr, oder?“ Er richtete sich auf und sah Rieder an.

„Die Angehörigen gönnen dem Toten noch nicht seine letzte Ruhe“, erklärte der Polizist.“

„Habe ich schon mitbekommen“, erwiderte Zion und klopfte sich den Dreck von seiner Jeans. „So ein Theater am offenen Grab habe ich noch nicht erlebt. Sonst krachen sich alle erst beim Leichenschmaus.“ Er schüttelte den Kopf.

„Wenn es dicke kommt, kannst du ihn wieder ausgraben.“

Zion starrte kurz auf das Grab und zuckte dann mit den Schultern. „Mir egal. Wird ja wohl bezahlt?“

Ein alter Mann in blauer Schifferjacke und mit einer weißen Kapitänsmütze kam aus dem hinteren Teil des Inselfriedhofs. Er stützte sich auf einen Krückstock und schritt vorsichtig voran, um auf dem schmalen Weg nicht zu stürzen. Rieder trat zur Seite, um Platz zu machen.

„Tach, Björn, wie geht’s? Warst du wieder bei deinem Grab?“, sprach ihn Zion an. Der Mann blieb stehen.

„Jo, hast schöne Blumen hingestellt. Danke.“

Zion nickte. „Keine Ursache.“

Mit der Krücke zeigte der Alte auf das frische Grab. „Und da liegt nun der Gilde?“

„Jo. Heute begraben.“

„Wurde auch Zeit.“

Rieder blickte den alten Mann verwundert an. „Entschuldigung, wie meinen Sie das? Wurde auch Zeit?“

Der Mann musterte den Polizisten. Sein Blick war dabei ein wenig verwirrt. Zion trat zu ihm. „Björn, das ist Kommissar Rieder von der Polizei.“

„Polizei? Hm …“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Ihr kommt zu spät. Viel zu spät.“ Dann setzte er seinen Weg fort. Ohne ein weiteres Wort.

„Wer ist das eigentlich? Gesehen habe ich ihn hier in Kloster schon öfter.“

„Björn Just. Kommt jeden Mittwoch und Samstag von Stralsund hierher. Er besucht das alte Grab für den ,Unbekannten Seemann‘. Es liegt im oberen Teil des Friedhofs, auf dem Blauen Berg. Da sitzt er dann auf der kleinen Bank daneben ein paar Stunden und starrt auf den Stein. Früher hat er immer Blumen mitgebracht. Aber er hat es nicht so dicke. Nun stelle ich ihm immer einen frischen Strauß hin.“

„Von Stralsund? Jeden Mittwoch und Samstag?“

Zion nickte. „Selbst im Winter. Solange die Schiffe fahren.“

„Und was will er an dem Grab?“

„Keine Ahnung. Angeblich weiß ja keiner, wer da liegt. Nach ein paar Jahren auf der Insel würde ich eher sagen, alle Hiddenseer wissen es, aber keiner will es sagen.“

„Und Björn Just?“

„Der weiß es ganz sicher auch. Aber sobald man ihn fragt, schweigt er. Selbst das Meer hat mehr zu erzählen als Björn.“

IV

Rieder lief vom Friedhof am Pfaffenteich vorbei zum Hafen in Kloster. Dort wollte Damp auf ihn warten. Das Polizeiauto stand vor dem Supermarkt im Hafenweg. Damp kam aus dem Laden mit einer Flasche Wasser. Er setzte sie an und trank sie in einem Zug aus. Rieder ging auf ihn zu. „Gilde ist schon unter der Erde.“

Damp starrte ihn kurz an. „So eine Scheiße!“, brüllte er und warf mit aller Kraft die leere Flasche in den gegenüberliegenden Garten. Dort stoben die Hühner mit lauten Gegacker auseinander, und ihr Hahn begann lauthals zu krähen.

„Was können die Hühner dafür?“, fragte Rieder ungerührt über den Wutausbruch seines Kollegen.

„Alles läuft schief“, klagte Damp. „Warum konnte Zion nicht warten?“

„Zion hat nur seine Pflicht getan.“

Rieder stieg über den Zaun und sammelte Damps Flasche ein. Damp trabte zum Polizeiauto und setzte sich hinein. Als Rieder zu ihm kam, saß er völlig apathisch da. Er hatte die Hände auf das Lenkrad gelegt, seinen Kopf zwischen den breiten Schultern eingezogen und starrte vor sich hin. „Bökemüller wird mich total rund machen, wenn er es erfährt.“

Rieder zuckte mit den Schultern. „Ist jetzt auch nicht mehr zu ändern. Das löst sich bestimmt alles in Wohlgefallen auf“, versuchte er seinen Kollegen zu trösten. „Ich denke, Möselbeck wird schon genau hingeschaut haben, und alles ist korrekt mit Gildes Tod.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr. Der Chef sieht das ganz anders.“

„Abwarten, der muss den Schein wahren und Aktivität heucheln“, meinte Rieder betont gelassen. „Ich hole mein Rad, und dann treffen wir uns in einer halben Stunde bei Möselbeck in seiner Praxis in Vitte.“

Damp nickte, wirkte aber weiter unglücklich. Er wollte gerade den Motor anlassen, da entdeckte er Thomas Förster. Der Bürgermeister kam aus dem Hotel „Hitthim“. Als er die beiden Polizisten sah, winkte er kurz und lief auf sie zu. Damp stieg aus. „Ist die Party zu Ende?“

„Eigentlich schon lange“, antwortete Förster, „nur die drei fanden kein Ende.“ Er deutete hinter sich. Aus dem Gebäude stolperten drei Männer. Zwei hatten ziemlich Schlagseite. Rieder kannte die beiden vom Sehen, wusste aber nicht ihre Namen. Den dritten erkannte Rieder sofort. Malte hatte es also noch zum Leichenschmaus geschafft und sich dafür, zu Rieders Überraschung, in einen schwarzen Anzug geworfen. Sonst trug er seine Fischeruniform. Sie sei für ihn so eine Art Dienstkleidung, hatte er Rieder erzählt. „Damit biete ich den Pensionsgästen ein wenig Inselfolklore.“ Allerdings war Malte nie Fischer gewesen. „Das ist gut fürs Geschäft. Die Leute erzählen dann zuhause, sie hätten die Insel ganz echt erlebt. Sie fühlen sich dann besser und kommen wieder. Das ist eine Art Paartherapie zwischen Gast und Gastgeber zum gegenseitigen Vorteil.“

Als die drei nach ihren Rädern griffen, straffte sich Damp. Rieder wusste, sein Kollege nahm Witterung auf. Die hatten bestimmt mehr Alkohol als erlaubt intus. Rieder sah schon ins Damps Augen den Bußgeldrechner rotieren. Doch Malte sah Damp und verdarb ihm das Vergnügen. „Männer“, rief er, „wir sollten doch besser schieben. Lasst uns mal Richtung Deich gehen.“

Die drei liefen los, aber Rieder ahnte, dass sie auf ihre Räder steigen würden, sobald sie auf dem Deichweg aus Damps Sichtweite waren. Da konnte ihnen Damp mit dem Polizeiwagen nicht folgen. Es gab zwar den Fahrweg unterhalb des Deichs, doch der war vom Schmelzwasser des Packeises auf dem Bodden noch völlig aufgeweicht. Der Streifenwagen würde unweigerlich steckenbleiben.

„Wer war das?“, fragte Rieder den Bürgermeister.

Als Thomas Förster Rieder etwas erstaunt ansah, fügte er noch hinzu. „Malte habe ich schon erkannt. Aber die anderen beiden?“

„Der mit dem alten Strohhut ist Hans Kempe, der Inselmaler“, setzte Förster süffisant hinzu. „Der andere ist Karl Born. Der war mal Gildes rechte Hand, hat hier auf der Insel die Brotfabrik geleitet.“

„Eine Brotfabrik?“, fragte Rieder irritiert. „Hier auf Hiddensee?“

„Früher, zu DDR-Zeiten, gab es hier auf der Insel eine Brotfabrik“, klärte ihn der Bürgermeister auf. „Ich kenne es auch nur aus den Unterlagen. Komme ja auch nicht von der Insel. Die war übrigens genau gegenüber von deinem Haus im Wiesenweg. Dort, wo jetzt die Post-Appartements drin sind.“

„Und wo sind die anderen Gäste abgeblieben?“, mischte sich Damp ein.

„Wie auf der Flucht“, berichtete Förster. „Die meisten haben gleich das nächste Schiff genommen. Wundert mich nicht nach dem Eklat am Grab. Haben sich die beiden beruhigt?“

Rieder und Damp schüttelten beinahe synchron ihre Köpfe. „Sie haben sich gegenseitig angezeigt“, klärte Rieder den Bürgermeister auf. „Wegen Mordes an Werner Gilde.“

„Der soll ermordet worden sein?“, fragte Förster verwundert. „Der war doch steinalt.“

„Trotzdem müssen wir sehen, was dran ist“, ergänzte Damp. „Ich werde heute noch die Unterlagen an die Staatsanwaltschaft in Stralsund weiterleiten. Dort wird dann entschieden.“

An Damps Geschäftston erkannte Rieder, dass sein Kollege gegenüber dem Bürgermeister klarmachen wollte, wer hier auf der Insel der Polizeichef sei. Wenn er es brauchte …

Förster runzelte die Stirn. „Ich wäre dankbar, wenn es keine neuen Aufregungen auf der Insel gibt nach dem harten Winter und so kurz vor dem Saisonstart.“

Das Klingeln von Damps Telefon unterbrach das Gespräch. Er schaute nur kurz auf das Display und ließ es dann weiter klingeln, bis sich offenbar die Mailbox meldete oder der Anrufer aufgelegt hatte. Rieder wunderte sich. Sonst ging Damp immer ran. Er bemerkte auch, wie Damp die Stirn runzelte und es plötzlich sehr eilig hatte. „Ich fahre schon mal vor. Wir sehen uns dann beim Doc. In zwanzig Minuten?“

Rieder nickte. Damp stieg in den Wagen, ließ den Motor an und gab kräftig Gas. Förster und Rieder blickten ihm erstaunt hinterher.

„Was war das denn?“, fragte Förster.

„Keine Ahnung. Muss mit dem Anruf zusammenhängen.“

Sie gingen zusammen zum Hafen. „Wie willst du nun das Problem mit deiner Wiese lösen?“, fragte Förster.

„Woher weißt du davon?“, stutzte Rieder kurz. „Ach klar, Malte. Hast du so einen Aufsitzmäher oder irgendeine andere Mähmaschine?“

„Meinst du das ernst? Wir sind hier im Biosphärenreservat“, antwortete Förster, der im Hauptberuf Chef des Nationalparks war. „Ich darf nicht in die Natur eingreifen, auch wenn ich mir es manchmal wünsche.“ Er schlug Rieder mitfühlend auf die Schulter. „Da kann ich dir nicht helfen.“

Rieder schwang sich auf sein Rad und schlug auch den Weg über den Deich nach Vitte ein. Wenn er pünktlich bei Inselarzt Möselbeck Damp treffen wollte, musste er heftig in die Pedale treten. Dazu ging es jetzt gegen den Wind. Beim Fahren schaute er über die Sumpfwiesen Richtung Ostsee. Am Strandaufgang kurz vor Vitte stand das Polizeiauto. Irgendetwas stimmte nicht mit Damp.

V

Damp kam zehn Minuten zu spät, tat aber so, als wäre er noch pünktlich. Rieder hatte in der Zwischenzeit die Veranstaltungsplakate am Hotel „Godewind“ studiert. Mit Schwung schlug Damp die Tür des Autos zu. Er wirkte wie ausgewechselt und schien voller Tatendrang. „Mal sehen, was der Doc zu sagen hat“, rief er Rieder zu und marschierte, ohne auf seinen Kollegen zu warten, auf Möselbecks Praxis zu. Rieder hätte zu gern gewusst, was diesen Stimmungswechsel bewirkt hatte.

„Was treibt euch denn hierher? Ist eine Epidemie im Anmarsch?“, fragte der Arzt, als die beiden Polizisten von seiner Sprechstundenhilfe hereingeführt wurden. Er war aufgestanden und reichte beiden zur Begrüßung die Hand.

„Es geht um Gilde“, erklärte Damp. Möselbeck zog die Stirn in Falten, doch bevor er etwas fragen konnte, zog Damp den Totenschein aus einer Mappe und reichte ihn Möselbeck. „Sie haben dieses Dokument ausgestellt. Nun gibt es aber Zweifel, dass es sich um einen natürlichen Todesfall handelt.“

Möselbeck nahm das Formular. „Wie kommt ihr denn darauf?“ Er wartete aber die Antwort der Polizisten nicht ab, sondern rollte mit seinem Stuhl zu einem Aktenschrank, zog eines der Fächer auf und suchte nach einer Akte. „Nix für ungut. Aber Gilde war ein alter Mann. Über neunzig. Ein tolles Alter. So alt muss man erst mal werden. Da ist es ganz natürlich, dass man stirbt. Punkt.“ Er zog einen Hefter heraus, klappte ihn kurz auf, sah hinein und rollte dann wieder zurück an den Schreibtisch.

„Können Sie uns erzählen, wie Sie von Gildes Tod erfahren haben und was Sie daraufhin getan haben?“, meldete sich Rieder.

„Anna Rese rief mich an. Sie war von Frau Gilde gerufen worden, die ihren Mann tot aufgefunden hatte. Ich bin hingefahren, und es war alles korrekt.“ Möselbeck hatte dabei in der dünnen Akte geblättert und beim Sprechen auf der einen oder anderen Seite etwas nach gelesen. „Hier steht’s auch. Ich notiere mir immer alles genau bei Todesfällen. Heute steht man als Arzt ja immer mit einem Bein im Knast. „Eintreffen gegen 20.00 Uhr. Atemstillstand. Kein Puls an der Halsschlagader. Abhören Brustkorb und Herz. Keine Herztöne. Geweitete Pupillen. Gräuliche Färbung an den Fingerspitzen. Bei Beschau des Körpers keine Anzeichen für äußerliche Einwirkung. Auf Grund der Vorerkrankung Diagnose: Herzversagen. Keine Anzeichen für einen unnatürlichen Tod. 20.45 Uhr: Ausstellen des Totenscheins und Information der Witwe. Absprache mit Frau Rese über weiteres Vorgehen. Information an Notfallteam und Herrn Zion. Abtransport der Leiche in die Kapelle am Friedhof Kloster.“

Möselbeck reichte die Akte über den Schreibtisch. Rieder nahm sie und blätterte sie durch. „Mehr kann ich euch auch nicht sagen“, erklärte Möselbeck, „Gilde war nicht mein Patient, sondern ging hier auf Hiddensee immer zum alten Lang.“

„Der praktiziert noch?“, fragte Damp ungläubig.

„Ja, leider.“

Rieder sah den Arzt fragend an. „Lang war mein Vorgänger. Selbst Damp war noch nicht auf der Insel, als ich seine Praxis übernommen habe. Mancher Hiddenseer geht immer noch lieber zu ihm als zu mir. Dabei sind seine Methoden, na, sagen wir mal, etwas fragwürdig.“

„Was meinen Sie damit?“

Möselbeck stand auf, stellte sich hinter seinen Schreibtischstuhl und stützte sich mit den Händen darauf ab. „Lang ist eher ein Purist. Kommt einer zu ihm mit einer Wunde am Fuß, könnte seine Behandlung schon allein aus dem Rat bestehen, ein Bad in der Ostsee zu nehmen. Manchmal hilft es, manchmal auch nicht. Und was Gilde angeht … Ich habe mal einen Blick in den Nachttisch geworfen. Immer eine gute Informationsquelle für den Arzt.“ Möselbeck rieb sich das Kinn. Offenbar war er sich unsicher, ob er wirklich nicht seine Schweigepflicht verletzten würde. „Also da lagen diese blauen Pillen … ihr wisst, was ich meine.“

„Na, bei so einer jungen Frau“, meinte Rieder trocken. Damp schien noch nicht zu verstehen und sah seinen Kollegen verständnislos an.

„Mensch, Viagra, Damp!“

Bei Damp rutschte der Groschen. „Ach so.“

„Aber ich glaube nicht, dass er daran gestorben ist. Sein Gesamtzustand muss schon so kläglich gewesen sein, so erzählte es jedenfalls Anna Rese, dass ihm sicher nicht mehr der Sinn nach Sex stand. Er kämpfte mit seinem absterbenden Körper, war aber noch klar bei Verstand. Das zu erleben, wünsche ich keinem.“ Möselbeck richtete sich auf. „Reicht euch das?“

Damp schien unzufrieden zu sein. „Mir wäre es egal, aber ob es Bökemüller reicht? Und ob es die Hinterbliebenen glauben?“, gab er zu bedenken.

Möselbeck steckte die Hände in die Taschen seiner weißen Arzthose. „Mensch, Damp, wie gesagt, Gilde war über neunzig. Er hatte sein Leben gelebt. Wollt ihr ihn jetzt wieder ausgraben? Oder was? Ich habe das am Samstag auch schon der jungen Witwe erklärt. Sie machte da schon ziemlichen Wind.“

„Das hat aber nichts gebracht“, konstatierte Rieder trocken. „Und Gildes Sohn ist auch nicht viel besser.“

„Du meinst Richard? Der ist doch eigentlich ganz verträglich.“

Daraufhin berichtete Damp, was am offenen Grab von Werner Gilde passiert war. Möselbeck grinste. „Da haben die Hiddenseer wieder einen echten Skandal. Und ihr beide macht euch auch noch die Mühe, diesem Schwachsinn nachzugehen. Grad nicht viel los auf der Insel?“

„Wir glauben diesen Schwachsinn nicht, aber wir müssen ihm nachgehen“, antwortete Rieder resigniert. „Vorschrift ist Vorschrift. Gemeinsam mit Ihrer Aussage packen wir den ganzen Kram zusammen, schicken ihn nach Stralsund und warten ab.“

Die Polizisten standen auf. „Wo finden wir diesen Doktor Lang?“, fragte Rieder noch.

„Auf Teneriffa. Von Oktober bis Ostern überwintert er dort. Deshalb haben sie auch mich und nicht ihn geholt.“

Eine Stunde später war Rieder zu Hause. Gemeinsam mit Damp hatte er im Revier noch die Anzeigen von Gildes Hinterbliebenen und das Protokoll des Gesprächs mit Möselbeck fertiggemacht. Damp wollte die Sache schnell vom Tisch haben. Er hatte die Unterlagen an die Staatsanwaltschaft in Stralsund gemailt, auch wenn die Unterschriften fehlten, und dann dort angerufen, um die Entscheidung über eine Exhumierung Gildes zu beschleunigen. Rieder staunte über das energische Auftreten Damps. Das war gar nicht seine Art. Irgendetwas musste mit ihm passiert sein. Aber was nur, fragte sich Rieder.

Als er das Tor zum Grundstück im Vitter Wiesenweg öffnete, wurden alle Gedanken an Gildes Tod und Damps Verhalten verdrängt. Er stöhnte, als er wieder auf den hüfthohen Grasdschungel schaute. Es half nichts. Der Rasenmäher stand noch neben dem Schuppen. Rieder nahm den Fangkorb vom Mäher ab, fixierte die geöffnete Klappe mit einem Spanngurt und schloss das Netzkabel an. Der kleine Motor jaulte auf. Langsam begann Rieder eine erste Bahn entlang der Hausmauer zu ziehen. Die gehäckselten Gräser und Grashalme flogen durch die Luft. Bald war seine Kleidung mit einem grünen Pelz aus Heu überzogen. Obwohl es zum Abend hin immer kühler wurde, schwitzte Rieder. Aber es ging langsam voran. Nach einer Stunde hatte er fast die Hälfte seines Grundstücks abgemäht. Weil es so gut lief, kehrten die Gedanken an den Fall zurück – wenn es überhaupt ein Fall war. Rieder war überzeugt, dass es keine Ermittlungen geben würde und Gilde in seinem kalten Grab bleiben würde. Der medizinische Befund Möselbecks war eindeutig.

Rieder wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sehnte sich nach einer Abkühlung. Nachdem er seine Kleidung abgeklopft hatte, schloss er das Häuschen auf. Sofort umfing ihn dieser besondere, leicht bittere Duft nach alten Möbeln, Kohlengrus und Staub. Im großen Zimmer waren die blaugemusterten Vorhänge noch geschlossen. Aber durch den kleinen Spalt tanzten die Schatten der Wolken im vergehenden Sonnenlicht. Rieder durchfloss ein warmes Gefühl von Geborgenheit. Das war sein Refugium. Aus dem alten Schrank im Zimmer mit den Glastüren nahm er sich einen Becher und ging in die Küche. Dort hatten über den Winter Spinnen Quartier gemacht und in allen Ecken Netze gespannt. Morgen würde er alles in Ordnung bringen. Er drehte den Wasserhahn auf. Doch es kam nichts heraus. Ihm fiel ein, dass hier das fließende Wasser nicht einfach aus der Wand kam. Er musste erst den Haupthahn im Garten aufdrehen. Rieder ging wieder hinaus, räumte die Feuersteine von der Abdeckung der Wassergrube. Das Grundwasser war durch das Tauwetter angestiegen und hatte die Hähne überspült. Rieder legte sich flach auf den Bauch und griff in das eiskalte Wasser. Glücklicherweise waren letztes Jahr die Hähne ausgetauscht worden. Er öffnete sie und spürte, wie das Wasser durch die Leitung floss. Auch aus dem Haus hörte er lautes Rauschen. Allein der geöffnete Wasserhahn in der Küche konnte das nicht sein. Rieder stand auf und lauschte. Es musste aus der Toilette kommen. Sie befand sich zwar im Haus, war aber nur von außen zugänglich. Dort konnte eigentlich nichts eingefroren sein. Über den Winter war dort ein kleiner Heizer auf niedrigster Stufe gelaufen, und Malte hatte kiloweise Salz ins Klo geschüttet. Rieder ging um das Haus und öffnete die Toilettentür. Ein kalter Wasserschwall überschüttete ihn. Er war sofort klatschnass. Aus einem Rohr schoss das Wasser. Rieder stürzte zurück zur Grube und schloss den Hahn wieder. Wenig später stand er vor Maltes Tür. Sein Nachbar konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Komm rein.“

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