Buch lesen: «Norderende», Seite 4

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VI

Das Gartentor zum Grundstück der Steins am Inselmuseum war immer noch verschlossen. Rieder wollte sich gerade wieder auf sein Rad schwingen, um es am anderen Eingang des Grundstücks zu versuchen. Da kam aus dem kleinen Kiosk die Besitzerin gerannt. „Herr Polizist!“, rief sie. „Herr Polizist. Sie wollen bestimmt zu Frau Stein. Die Arme. Sie ist gerade zum Strand runter. Hoffentlich tut sie sich nichts an!“

Rieder blieb stehen. „Wie kommen Sie denn da drauf?“

„Würden Sie baden gehen, wenn Sie gerade erfahren haben, dass ihr Mann ermordet worden ist?“, entgegnete ihm die Kioskbesitzerin entrüstet. „Vielleicht machen Sie nun bald mal was!“

Rieder stellte sein Rad wieder ab und wollte in Richtung Strand. Da blieb er nochmal stehen.

„Was ist denn nun noch?“, rief die Frau.

„Wie sieht Frau Stein eigentlich aus?“, fragte der Polizist.

Rieder kletterte auf die kleine Mauer neben dem Inselmuseum und zwängte sich dann durch einen mit Heckenrosen überwachsenen Durchgang durch die Dünen zum Strand. Der Strand von Kloster war menschenleer. Für morgendliche Jogger war der Sand hier zu weich und zu tief. Auch von professionellen Bernsteinsuchern keine Spur. Durch den Steindamm, die Hucke, der hier das Steilufer schützte, gab es keinen Seetang, mit dem das Gold der Ostsee angespült wurde. Allerdings gab es eine kleine Lücke im Wall.

Gleich hinter der Düne lag ein rotes Badehandtuch im Sand, darauf ein weißer Bademantel. Eine einzelne Person schwamm im Wasser. Eigentlich sah man nur ihren Kopf. Auf dem Rücken liegend, strebte sie mit langsamen Kraulschlägen wieder dem Ufer entgegen. Rieder hatte schon die roten Haare erkannt. Also kein Grund zur Panik.

Erst kurz vor der schmalen Öffnung im Steindamm drehte sich Ulrike Stein auf den Bauch und tauchte aus den Wellen auf. Natürlich nackt. Im Gegenlicht der Morgensonne glänzte ihr nasser schlanker Körper. Rieder war das peinlich, aber er konnte sich gleichzeitig kaum losreißen von dem Anblick.

Sie nahm den Bademantel und schlüpfte hinein. Dann streckte sie Rieder die Hand entgegen. „Guten Morgen, ich bin Ulrike Stein. Sie sind der Zivilbeamte, der jetzt hier auf der Insel neben Damp Dienst tut. Nicht wahr?“ Bevor er etwas sagen konnte, bemerkte sie: „Und nun ist es wie im Krimi. Sie werden mir mitteilen, dass mein Mann zu Tode gekommen ist, und ich müsste eigentlich in Tränen ausbrechen.“

„So stellt man es sich vor.“

„Dann hat Ihr Film schon einen Riss. Ich weiß schon, dass Peter tot ist. Michael hat mich heute Morgen besucht. Also Herr Durk. Er war Peters bester Freund.“ Etwas im Tonfall dieses Nachsatzes ließ Rieder aufhorchen. Ulrike Stein nahm ihr rotes Handtuch und begann die glitzernden nassen Haare abzutrocknen.

„Es gibt allerdings noch ein paar Fragen mehr“, erklärte Rieder.

„Hätten Sie mich nicht eigentlich bestrafen müssen? Ich habe doch unbekleidet im Textilbereich gebadet. Ihr Kollege versteht da keinen Spaß.“

Ulrike Stein reichte Rieder eine dampfende Tasse Tee. Von der Veranda sah man auf Hiddensee herab. Wie eine Schlange lag die Insel zu ihren Füßen.

„Sind das momentan wirklich Ihre größten Sorgen?“, erwiderte Rieder. „Mich würde eher interessieren, warum jemand schwimmen geht, wenn er gerade erfahren hat, dass sein Ehepartner getötet wurde?“

Ulrike Stein schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.“ Sie ließ ihren Blick in die Ferne gleiten. „Da ist eine tiefe Traurigkeit, dass Peter tot ist. Er war über dreißig Jahre Teil meines Lebens und wird es auch bleiben. Aber sie haben sicher auch gehört, dass wir seit einiger Zeit getrennt gelebt haben. Oder?“

Rieder nickte. Sie drehte ihren Kopf und schaute ihm in die Augen. „Und was sagt sonst so der Inseltratsch?“

„Ich bin noch nicht so lange auf der Insel, um hier alle Geschichten zu kennen. Auch Ihr Mann war für mich bis gestern Abend ein Unbekannter.“

„Komisch ...“

„Wollen Sie gar nicht wissen, was passiert ist?“ Ulrike Stein stellte ihre Tasse ab, stand auf und trat an eines der Fenster. Sie drehte Rieder den Rücken zu und schaute hinaus. „Durk hat es mir schon erzählt. Er sei niedergeschlagen worden. Was soll ich da noch fragen?“

„Ich hatte versucht, Sie gestern Nacht noch zu erreichen. Aber ich habe Sie nicht angetroffen. Wo waren Sie gestern Abend?“

„Die berühmte Frage nach dem Alibi?“ Sie lächelte ein wenig. Rieder irritierte das. „Ich war bei Freunden. Sie machen hier gerade Urlaub und wohnen in Grieben im Hotel, Enddorn‘, in einem Appartement. Marie und Kurt Zabel. Ich habe dort auch übernachtet und bin erst heute Morgen hierher zurückgekommen. Durk stand schon vor der Tür und wartete auf mich.“

„Wie war denn das Verhältnis zu Ihrem Mann? Gab es Streit?“

Ulrike Stein dachte einen Moment nach. Rieder versuchte ihren Gesichtsausdruck zu ergründen.

„Nein, eigentlich nicht. Es wäre sicher übertrieben, dass wir nur im Guten auseinandergegangen wären, aber wir haben jeder für sich unser Leben hier auf der Insel weitergelebt. Er in seinem Haus in Vitte, ich hier auf dem Hügel in Kloster. Jeder hatte seine Arbeit ...“

„Was machen Sie?“

„Ich habe eine Praxis für Naturkosmetik und Physiotherapie in Vitte. Das war vielleicht auch zuletzt der einzige Berührungspunkt. Sein Lager und mein Laden liegen beide im Hafen von Vitte. Wir sind uns nicht oft begegnet. Er organisierte alles von seinem Haus aus oder war auf den Baustellen zu finden.“

„Warum haben Sie sich getrennt?“

„Auseinandergelebt.“ Ulrike Stein drehte sich wieder um und setzte sich auf das breite Fensterbrett. Sie verschränkte die Arme und zog die Schultern hoch. Es schien, als würde sie frieren. „Man glaubt, ein Kapitel eigentlich schon abgeschlossen zu haben. Und dann ist alles plötzlich wieder da. Und dann sitzt man hier, weiß, dass Peter tot ist und denkt die ganze Zeit, dass diese Veranda sein Lieblingsplatz war.“

„Kein Streit ums Geld? Ums Haus? Sind Sie eigentlich geschieden?“

„Scheidung war nie ein Thema. Das hätte alles nur komplizierter gemacht. Wir besitzen gemeinsam mehrere Häuser hier auf Hiddensee und wollten nicht um Grund und Boden streiten und damit Anwälte und Notare reich machen. Peter hat sich um alles gekümmert, die Vermietung der Ferienwohnungen mit allem Drum und Dran: Saubermachen, Rasen mähen und mir meinen Anteil an den Einkünften überwiesen. Das lief alles ohne Probleme. Peter war großzügig. Für alle Fälle habe ich noch mein eigenes Einkommen durch die Praxis. Die läuft in der Saison sehr gut, und so langsam macht sich auch unter den Hiddenseer Frauen die Erkenntnis breit, dass man ab und zu mal was für Körper, Haut und Seele tun sollte.“

„Haben Sie wieder eine neue Beziehung?“

„Spielt das eine Rolle?“

„Möglich. Bei Mord spielt immer alles eine Rolle.“

„Hier und da ein Abenteuer. Immer hübsch diskret. Nicht auf der Insel.“

„Und Ihr Mann?“

„Wie gesagt, wir sind seit zwei Jahren nicht nur getrennte Wege, sondern, soweit es die Insel erlaubt, auch unsere eigenen Wege gegangen. Man hörte dies und das ...“

„Was hörte man denn?“

„Kleine Affären. Ich glaube aber nichts Ernstes.“

„Mit wem?“

Schulterzucken.

„Ich denke, Hiddensee ist ein Dorf?“, hakte Rieder nach.

„Sie kannten auch nicht meinen Mann“, entgegnete Ulrike Stein schmunzelnd. „Ein bisschen müssen Sie auch selbst Ihre Arbeit machen, Herr Rieder.“

„Hätte es Sie gestört, wenn es was Ernstes gegeben hätte?“ „Vielleicht. Aber wir sind auch alle erwachsen. Oder?“ Ulrike Stein stand auf. „Noch einen Tee?“

Rieder spürte, dass sie das Thema nicht vertiefen wollte. „Nein, danke.“

„Aber ich will noch einen. Die Ostsee ist im Oktober doch schon ganz schön kalt.“ Sie ging mit ihrer Tasse in die Küche. Rieder folgte ihr. Sie spülte ihre Tasse aus und schaltete den Wasserkocher ein.

„Wer könnte ein Motiv haben, Ihren Mann zu töten?“, fragte der Polizist.

Schulterzucken. „Keine Ahnung. Hier auf der Insel war mein Mann beliebt. Alle ließen von ihm bauen, was zu bauen war. Dass es da mal Streit gibt, ist im Baugeschäft normal. Die Besitzer wollen Paläste für wenig Geld, und die Bauleute müssen oft lange auf ihr Geld warten.“ Sie tat einen Teebeutel in die Tasse und goss heißes Wasser drüber.

„Er saß seit fast zwanzig Jahren im Gemeinderat und wurde auch immer wiedergewählt. Das spricht doch eher dafür, dass er recht beliebt war. Aber darüber sollten Sie besser mit Durk reden.“

Sie gingen wieder zurück in die Veranda und setzten sich in die beiden Sessel. „Und außerhalb von Hiddensee?“

„Mit dem Verkauf eines Teils der Firma und dem Umzug nach Hiddensee hat er keine Aufträge außerhalb der Insel mehr angenommen. Für die letzten zwei Jahre kann ich Ihnen darüber allerdings nichts sagen. Hier gibt’s immer weniger neu zu bauen, um damit richtig viel Geld zu verdienen. Meist sind es Sanierungen oder Umbauten. Das bringt nicht so viel.“

„Was heißt: Umzug der Firma nach Hiddensee?“

Ulrike Stein stand und nahm ein Bild von der Wand. Sie gab es Rieder. „Peter und sein Vater.“

Das war nicht zu übersehen. Die Gesichtszüge und die Haltung glichen sich fast wie bei Zwillingen, wenn nicht der Altersunterschied gewesen wäre.

„Früher, als Peters Vater noch lebte, hatte die Firma ‚Inselbau‘ ihren Sitz auf Rügen. In Bergen“, erzählte Ulrike Stein weiter. „Willy Stein, mein Schwiegervater, starb kurz vor der Wende. Als Peter dann allein für die Firma verantwortlich war, wurde ihm irgendwann die Fahrerei zu viel. Jeden Morgen von der Insel rüber nach Rügen und abends wieder zurück, und das bei jedem Wetter. Hier gab es damals auch genug für ihn zu tun. Schon vor der Wende hatte er hier einen Bauhof betrieben. Das reichte ihm. Den Rest der Firma, die ‚Inselbau Rügen‘ hat er verkauft und hier aus dem Bauhof die ‚Inselbau Hiddensee‘ gemacht. Außerdem hat er dann auch noch so eine Art Deal gemacht mit den Baufirmen auf Rügen. Die bauen hier nicht und er dort nicht.“

„Und das funktioniert?“

„Ich denke schon.“

„Haben Sie eigentlich Kinder? Gibt es noch weitere Angehörige?“

Der Blick der Frau erstarrte. Sie nahm das Bild zurück und hängte es wieder an. „Kinder haben wir nicht. Peter hatte noch einen Bruder. Der lebt aber in Bremen.“

Als sie sich wieder umdrehte, wirkte sie angespannt. „Haben Sie noch mehr Fragen oder reicht das erstmal?“

Rieder stand auf. „Nein. Ich habe einen ersten Eindruck bekommen. Sie müssen Ihren Mann noch identifizieren. Wir haben ihn in die Leichenhalle an der Inselkirche gebracht. Ich werde natürlich auch Ihre Bekannten befragen müssen. Sie werden das verstehen?“

„Muss das sein?“

„Es geht um Ihr Alibi.“

„Das meine ich nicht“, erklärte sie. „Die Identifizierung. Möselbeck kennt ihn doch länger als ich. Seit Kindertagen. Und Durk auch. Die drei waren wie Pech und Schwefel seit der Schulzeit.“

VII

Uwe Gebauer stand am Anleger der alten Reparaturwerft. Er blickte ungeduldig auf die Uhr. Es ging schon auf neun. Der Motor des Wasserschutzpolizeibootes tuckerte leise vor sich hin. Wenn Gebauer etwas hasste, dann Unpünktlichkeit. Acht Uhr dreißig wollten sie ablegen, um nach Hiddensee zu fahren. Doch bisher hatte sich keiner von der Spurensicherung sehen lassen, weder Behm noch seine Kollegen.

Da bog der graue VW-Bus in die Dänholmstraße ein. Mit Lichthupe antwortete der Fahrer auf Gebauers Winken.

Behm stieg aus. Statt einer Begrüßung raunzte er Gebauer an: „Einen besseren Liegeplatz gab’s nicht? Wir sind fast eine halbe Stunde rumgekurvt, um dich zu finden.“

Gebauer gab sich schuldbewusst. „Stimmt schon, liegt etwas ab. Aber hier macht es nicht so viel Aufsehen, wenn ihr euer Zeug an Bord bringt. In der Seestraße, am Hiddensee-Kai, gibt’s doch gleich einen Auflauf. Alle fragen, warum, wieso? Ihr habt doch sicher ein Navi im Auto?“

„In der alten Krücke?“ Behm zeigte auf den VW, der schon einige Jahre auf dem Buckel hatte: „Vergiss es.“ Dann wandte er sich an seine beiden Kollegen. „Bringt die Kisten aufs Boot.“

„Aber bitte vorsichtig!“, rief Gebauer dazwischen.

„Nun mach dir mal nicht ins Hemd. Uns reicht schon so die Plackerei mit den Kisten. Immer für die Insulaner alles verpacken ...“

Einsätze auf Hiddensee waren bei den Stralsunder Beamten nicht beliebt. Alles musste für Tatortuntersuchungen auf der Insel aus den Einsatzfahrzeugen der Spurensicherung in Kisten umgepackt und dann auf Gebauers Boot geschleppt werden. Dort mussten sie es dann unter seiner Anleitung rutschfest in dem engen Innenraum verstauen. Reibereien waren vorprogrammiert. Die Kollegen an Land rümpften sowieso die Nase über die Wasserschutzpolizisten. Sie nannten sie heimlich „Bodden-Enten“. Das wusste natürlich auch Gebauer. Er rächte sich gern an den „Landeiern“, wie er im Gegenzug die Beamten der Polizeidirektion bezeichnete. Musste er für sie Wassertaxi spielen, jagte er sein Schiff durch die Boddengewässer, ließ es gern auch mal heftig schaukeln beim Durchfahren von Wellenbergen und -tälern, fuhr tollkühne scharfe Kurven und beobachtete mit gnädigem Lächeln, wie sich die Kollegen krampfhaft an den wenigen Halterungen festhielten, im Gesicht immer fahler wurden und bald darum bettelten, er möge doch etwas langsamer fahren oder nach den Kotztüten riefen. Hatten sie dann wieder festen Boden unter den Füßen, drohten sie ihm mit Beschwerden. Das nahmen Gebauer und seine Crew gelassen. „Einsatz ist Einsatz!“, rief er ihnen dann nach. Außerdem unterstanden sie nicht dem Kommando des Polizeichefs Bökemüller, sondern gehörten einer eigenen Direktion mit Sitz in Rostock an. Bis dahin war der Dienstweg für Klagen weit.

Endlich hatten sie alles an Bord. Gebauer gab seinen beiden Besatzungsmitgliedern das Kommando zum Ablegen und stellte sich selbst ans Steuer. „Jetzt wollte ich eigentlich schon da sein“, maulte er Behm an, der neben ihm stand. Der gab sich gelassen. „Den toten Bauunternehmer stört’s nicht mehr, ob wir nun ’ne Stunde früher oder später auf Hiddensee sind. Die Spuren sind sowieso hin, weil die letzte Nacht alle durch den Tatort getrampelt sind.“ Gebauer manövrierte vorsichtig das Boot an zwei alten Schleppern vorbei und fuhr dann langsam in Ric htung Fahrrinne Strelasund. Backbord lagen das Ozeaneum und die alten Lagerhäuser, steuerbord die Fachwerkhäuser des Fischerdorfes Altefähr.

„Vitte, Neuendorf oder Kloster?“, fragte Gebauer.

„Erstmal Kloster. Da haben sie den Toten hingebracht. Der Tatort ist wohl am Zeltkino in Vitte. Den kann ich mir dann immer noch ansehen und mich weiter ärgern. Aber du kannst uns dann wieder in Vitte abholen.“

„Der Tote ist Bauunternehmer? Von Hiddensee?“

„Ja, ein gewisser Stein.“

„Peter Stein?“, fragte Gebauer.

„Genau. Kanntest Du ihn?“

„Ich hatte mal mit ihm zu tun, als sie den Anleger in Neuendorf neu gebaut haben und es für unsere Boote einen Liegeplatz geben sollte. War eigentlich ein netter Typ.“

„Augenscheinlich sahen das nicht alle so. Sonst hätte er ja nicht gestern Abend tot am Zeltkino gelegen.“

Behm steckte die Hände in die Taschen. Er hatte keine Lust mehr auf eine weitere Unterhaltung.

Gebauer schob den Gashebel langsam nach vorn. Die Turbinen wurden lauter. Der Bug des Bootes hob sich aus dem Wasser. Wasserfontänen spritzen steuerbord und backbord nach oben.

Nicht mal eine halbe Stunde dauerte es, bis die ersten Bojen für den Tonnenweg zum Hafen Kloster in Sicht kamen. Am Kai wartete Damp mit dem Polizeiwagen.

Auf dem Weg zur Leichenhalle berichtete er Behm, was in der vergangenen Nacht passiert war, wer Stein gefunden hatte, was Doktor Möselbeck vermutete und wie sie versucht hatten, den vermeintlichen Tatort zu sichern.

„Wer passt dort jetzt auf, nachdem es hell geworden ist, dass da keiner rumtrampelt?“

„Keiner“, antwortete Damp. „Wie sollen wir denn zu zweit alles organisieren? Rieder ist bei Steins Frau. Ich musste mich um den Zeugenaufruf kümmern ...“

„Als ob das jetzt so wichtig wäre ...“

Obwohl die Inselkirche nur gut dreihundert Meter vom Hafen entfernt war, kam Damp nur langsam mit dem Auto voran. Auf dem Hafenweg musste er zahlreiche Touristen und Reisegruppen umkurven. Obwohl sie gerade erst mit dem Schiff von Rügen angekommen waren, drängten sie sich gleich vor den beiden Souvenirläden kurz vor der Kreuzung am Pasterteich.

„Die haben noch nichts von der Insel gesehen, kaufen aber schon irgendwelchen Kitsch“, meinte Behm.

„Es ernährt aber seinen Mann hier auf der Insel“, erwiderte Damp.

„Für mich sind diese Läden nichts anderes als moderne Wegelagerei.“

Damp parkte auf dem Platz für die Fuhrwerke neben der Inselkirche. Von dort führte ein kleiner Pfad zur Leichenhalle.

Vor dem Gotteshaus hatten sich zahlreiche Schaulustige angefunden, darunter auch viele Insulaner. „Wo kommen die plötzlich her? Haben Sie den Termin auf Ihrem Aushang bekanntgegeben?“, fragte Rieder, der Ulrike Stein hierher begleitet hatte.

Damp wurde wütend. „Sicher! Bin ich ein Trottel oder was? Die können auch alle eins und eins zusammenzählen. Nicht nur die Herren aus der Hauptstadt. Dass Stein hier liegt, ist kein Geheimnis. Oder? Und dass die Witwe hier irgendwann auftauchen wird, können sich selbst die Hiddenseer an ihren Fingern abzählen.“

„Ist ja gut. Ich habe es ja nicht so gemeint“, entschuldigte sich Rieder.

Pfarrer Laube und Doktor Möselbeck warteten schon.

Behm begrüßte Rieder. „Ich halte mich erst mal im Hintergrund, bis die Ehefrau die Leiche identifiziert hat.“

Pfarrer Laube drückte Ulrike Stein fest die Hand und sprach ihr sein Beileid aus. Als Möselbeck Frau Stein sogar umarmen wollte, wehrte sie ihn ab und stieß ihn sogar leicht zurück. Rieder war darüber verwundert. „Ich dachte, Möselbeck und Stein waren Freunde“, flüsterte er Damp zu.

„Das muss ja nicht unbedingt auch für die Frau gelten“, antwortete sein Kollege. Da war was dran, dachte sich Rieder.

Ulrike Stein drehte sich zu Rieder um. „Können wir?“, fragte sie.

Seitdem sie mit Rieder ihr Haus verlassen hatte und sie gemeinsam die gut hundert Meter bis zur Inselkirche gegangen waren, hatte Rieder beobachtet, dass die Frau immer mehr die Fassung verloren hatte. Immer wieder hatte sie sich die Nase geputzt und über die Augen gewischt.

Rieder gab Pfarrer Laube ein Zeichen. Der schloss die Kapelle auf, machte das Licht an. Die Glühbirne erleuchtete den kleinen fensterlosen Raum kaum. In der Mitte stand ein langer Holztisch. Darauf lag der Leichensack. Damp nahm seine Schirmmütze ab. Möselbeck ging an Laube vorbei, zog den Reißverschluss auf und schlug die Plastikhülle zur Seite, damit das Gesicht des Toten besser zu erkennen war. Ulrike Stein trat heran. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann hemmungslos zu weinen. Ihre Knie knickten ein. Pfarrer Laube sprang zu ihr und fing sie auf. Langsam führte er die Frau aus der Halle ins Freie.

„Obwohl sie getrennt gelebt haben, scheint er ihr trotzdem nicht egal gewesen zu sein“, meinte Rieder zu Damp.

„Man steckt nicht drin“, antwortete Damp lapidar. „Ich werde ihr anbieten, sie nach Hause zu fahren. Vielleicht besser, wenn man das hier so sieht.“ Dabei deutete er auf den Platz vor der Inselkirche. Dort hatte man alles genau beobachtet und ließ auch jetzt keinen Blick von der trauernden Witwe.

Damp setzte wieder seine Mütze auf, straffte sich und ging zu Pfarrer Laube und Ulrike Stein.

Jetzt trat Behm an die aufgebahrte Leiche. Möselbeck hatte sich über Stein gebeugt. „Das Hämatom an der Schläfe ist deutlich ausgeprägt. Es gibt für mich keinen Zweifel. Er wurde durch einen Schlag auf den Kopf getötet.“ Behm sah sich die Verletzung genauer an. „Kann man nicht von der Hand weisen. Ich würde aber trotzdem die Autopsie abwarten. Sie schließen einen natürlichen Tod definitiv aus?“, wandte er sich an den Inselarzt.

„Definitiv!“

„Okay, dann wollen wir mal.“ Behm zog den Reißverschluß des Leichensacks völlig auf. Er gab seinen Mitarbeitern ein paar Anweisungen. Die Hände des Toten wurden in Plastiktüten verpackt, damit keine DNA-Spuren vernichtet wurden. Außerdem wurden zahlreiche Fotos von dem Toten und der Wunde an der linken Schläfe gemacht.

„Habt ihr die Kleidung schon untersucht?“, fragte er Rieder.

„Nein. In der Dunkelheit gestern Abend hatte ich Angst, irgendetwas zu verlieren.“

Behm begann die Hosentaschen zu durchstöbern. Eine Brieftasche kam zum Vorschein. Ein Schlüsselbund. Ein Fahrschein für die Fähre nach Schaprode. Eine Packung Papiertaschentücher. „Nicht gerade eine große Ausbeute. Kein Handy. Für einen Bauunternehmer ungewöhnlich.“

Das sah Rieder auch so.

„Hast du seine Handynummer?“ Rieder verneinte.

„Ich kann sie Ihnen geben“, mischte sich der Arzt ein.

„Dann mal los.“ Behm zog sein Diensthandy aus der Tasche, schaltete seine Rufnummernanzeige aus. Dann wählte er die Nummer, die ihm Möselbeck ansagte. Er nahm das Telefon ans Ohr. „Klingelt.“ Etwas später: „Mailbox.“

Mit einer speziellen Software auf seinem Laptop versuchte er Steins Handy zu orten. „Es ist noch auf der Insel. Innerhalb der Funkzelle von Vitte.“

„Vielleicht liegt es am Tatort.“

Doch auch dort fand es sich nicht, als sie wenig später am Zeltkino eingetroffen waren. Behm wählte immer wieder die Nummer von Steins Mobiltelefon, ließ es klingeln, bis sich die Mailbox meldete, aber nirgendwo war ein Klingelton zu hören.

„Wenn wir mit dem Kahn und dem Gelände drumherum fertig sind, durchforsten wir noch mal das Wäldchen hier“, kündigte Behm an.

Damps Absperrung des Tatortes und des Weges vom Zeltkino war unversehrt.

„Mensch, Rieder, was habt ihr hier für disziplinierte Urlauber und Einwohner. Hier herrscht wirklich Ordnung und Sicherheit“, meinte Behm ironisch. „Okay, das mit dem Mord ist vielleicht ein kleiner Wermutstropfen, aber wirklich nur ein kleiner. Damp und du, ihr scheint wirklich ein polizeiliches Dreamteam zu sein, wenn ich das hier so sehe.“ Er schlug Rieder auf die Schulter. „Ihr müsst das nur mehr zeigen. Nach außen, mein’ ich. Traut euch.“

„Haha!“, blaffte Rieder. „Sehr witzig.“

„Da fällt mir ein, ich muss Damp noch zu seiner Beförderung beglückwünschen“, stichelte er weiter. „Was hast du ihm denn geschenkt? Einen Kaktus? Nein. Ich weiß. Einen goldenen Bußgeld-Block.“

Rieder winkte genervt ab.

Dora Ekkehard kam aus der kleinen Baracke hinter dem Kino. Sie hatte die Polizisten belauscht.

„Falsche Lorbeeren, mein Herr. Ich habe den ganzen Morgen wie ein Schießhund aufgepasst.“

Rieder stellte Behm die Kinofrau vor. Der Beamte verneigte sich fast, als er Dora Ekkehard begrüßte. „Ich bin ein großer Fan Ihres Kinos. Schön, dass es noch so etwas gibt. Darf ich mal in Ihr Heiligstes schauen?“

Die alte Dame öffnete die Tür zum Vorführraum. Staunend schlich Behm zwischen den Projektoren umher und blickte durch die kleinen Gucklöcher. Er drehte auch mal an der Kurbel, an der die Filmrollen zurück auf Anfang gerollt wurden. Fast zärtlich strich er über einen der Projektoren.

„Wie alt sind die?“

„Fast vierzig Jahre. In den siebziger Jahren gebaut.“ fügte sie hinzu. „Echte Ernemanns.“ Behm setzte seine Brille auf. Er studierte das kleine Metallschild. „Kinoton FP20“, las er vor. „Aus Kiel?“

„Die habe ich nach der Wende gekauft. Vorher hatte ich Kofferprojektoren von Carl Zeiss. Die waren dann aber etwas schwach auf der Brust geworden. Gebaut in den fünfziger Jahren. Als ich hier 1964 angefangen habe, haben wir die aus einem Kino in Stralsund bekommen. Die wurden damals alle auf sowjetische und tschechische Geräte umgerüstet.“

„Und wer repariert die? Das muss doch superteuer sein. Gibt’s da eigentlich noch Ersatzteile?“

„Mach’ ich alles selbst“, erklärte Dora nicht ohne Stolz in der Stimme. „Ich hab’ das von der Pieke auf gelernt, richtig in Dresden in dem alten Ernemann-Werk. Heute ist es Museum. Fast wie ich.“

Alle lachten.

„Mensch, super. Früher gab es auf jedem Zeltplatz an der Ostsee ein Zeltkino. Nun sind Sie fast der letzte Mohikaner. Oh, Entschuldigung, natürlich die letzte Mohikanerin.“

Dora Ekkehard nickte gerührt. Ihre Augen wurden feucht.

So kannte Rieder seine Nachbarin gar nicht. Ob sie nun Kinokarten verkaufte, im Garten arbeitete oder mit dem Rad durch Vitte fuhr, sie wirkte immer etwas streng, lächelte selten.

Holm Behm studierte inzwischen die vergilbten Kinoplakate an den Bretterwänden. „Paul und Paula“, „Lütt Matten und die weiße Muschel“. Und, wie passend: „Spiel mir das Lied vom Tod“. „Lohnt sich das noch mit dem Kino?“ Er rieb Daumen und Zeigefinger.

„Es ernährt seinen Mann ...“, antwortete Dora Ekkehard.

„Das habe ich heute schon mal gehört“, meinte Behm. „Die Hiddenseer scheinen genügsame Leute zu sein. Was läuft heute?“

„Am Nachmittag in der Kindervorstellung, Alfons Zitterbacke‘, abends ‚Die Frau des Leuchtturmwärters‘ und in der Spätvorstellung, wenn genug kommen, ‚Sommer vorm Balkon‘.“

„Interessantes Programm“, meinte Behm.

„Die Leute mögen’s. Die Hiddensee-Urlauber wollen keine Blockbuster. Die meisten sind nicht die typischen Kinogänger. Sie wollen Filme sehen, die zur Insel passen, zu einem Urlaub auf Hiddensee. Keine Thriller. Eher was fürs Gehirn. Und dazu immer ein bisschen Ostalgie., Paul und Paula‘, ,Solo Sunny‘ und , Spur der Steine‘. Verstehen Sie?“

Behm nickte. „Hiddensee – die Insel der anderen.“

Dora Ekkehard wischte mit der Hand ein paar Krümel von ihrem kleinen Arbeitstisch. „Tja, aber die Zeiten ändern sich. Auch hier auf Hiddensee. Will zwar nicht jeder wahrhaben, aber ist so.“

„Was meinen Sie damit?“, fragte Rieder nach.

Dora schaute Rieder an: „War mehr so eine Redensart.“ Dabei knetete sie ihre Hände. Sie wurde ungeduldig. „Ich muss dann jetzt mal. Der Zuschauerraum säubert sich nicht von selbst.“

Die Untersuchung des Tatortes brachte kaum neue Erkenntnisse. Behms Team konnte Fingerabdrücke auf dem Kiel des Bootes sichern, neben dem Peter Stein gefunden worden war. Die konnten aber auch den beiden jungen Leuten gehören, die sich auf das Boot gesetzt hatten, bevor sie Steins Leiche gefunden hatten.

„Wir lassen die Abdrücke mal durch den Rechner laufen. Vielleicht gibt es einen Zufallstreffer. Aber die Fußspuren können wir vergessen“, stellte Behm fest. Dann suchten die Polizisten die Umgebung des Bootes nach Steins Handy ab. Im Dickicht des Strandwäldchens fanden sich aber nur leere Flaschen und Reste von Eisverpackungen. Außerdem hatte mancher Urlauber hier seine Notdurft verrichtet, statt die nahe öffentliche Toilette am Strandzugang beim Häuschen der Rettungsschwimmer zu benutzen. „Schöne Sauerei“, stöhnte Behm. „Hier könnte Damp sich mal auf die Lauer legen und Bußgelder verteilen.“ Von Steins Handy gab es keine Spur.

Behm und Rieder gingen zurück zum Zeltkino. Plötzlich blieb der Spurensicherer stehen. „Was mich wundert“, wandte er sich an Rieder, „wir haben keine Ruder gefunden. Da lag zwar der Bootswagen unter dem Boot. Aber keine Ruder. Komisch.“

„Die Fischer nehmen ihre Ruder immer mit nach Hause“, meinte Rieder. „Von denen liegen auch noch ein paar Boote am Strand. Und die schleppen die Dinger immer hin und her. Sonst könnte man doch die Boote leicht klauen.“

„Aber wenn ich mich erinnere, dann haben die einen Handwagen dabei. Das ist der ganze Kram drauf. Netze, Fässer und eben die Ruder. Aber Stein wird doch nicht mit den Rudern hierhergewackelt sein. Über die halbe Insel. Egal, ob er nun von seinem Haus in Kloster oder von seinem Haus am Süderende gekommen wäre.“

„Wir können die Kinofrau fragen.“

Dora Ekkehard war gerade dabei, eine Filmrolle in den Projektor einzulegen.

„Frau Ekkehard. Wir hätten noch eine Frage“, meldete sich Rieder. Dora Ekkehard schreckte auf und griff sich mit einer Hand ans Herz. „Um Gottes Willen. Können Sie nicht anklopfen?“

„Entschuldigung. Wir fragen uns, ob Peter Stein die Ruder von seinem Boot immer mitgenommen hat oder ob sie am Boot waren?“

Dora Ekkehard überlegte. „Sie müssten am Boot sein. Stein ist ja nicht oft rausgefahren. Meist nur zum Heringsangeln im Frühjahr. Und da hatte er ...“, sie schien intensiv zu versuchen, sich zu erinnern, „ ... da hatte er nur die Angeln dabei.“

„Sicher?“, fragte Rieder nach.

„Sicher.“

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