Jenseits jeden Zweifels

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Jenseits jeden Zweifels
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Jenseits jeden Zweifels

Kriminalroman von

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2017 Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2017 @ viperagp, Depositphotos, ID 11622312

© Figuren Dr. Celeste Montgomery und Archibald Primes bei Susanne Danzer und Thomas Riedel

»Ein Fall für Montgomery & Primes«

Impressum Copyright: © 2017 Thomas Riedel Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.«

Christian Johann Heinrich Heine (1797-1856)

mber 1797 als Harry Heine in Düsseldorf, Herzogtum Berg; † 17. Februar 1856 in Pa

»Ebenso wie es natürlich ist,

viele Dinge ohne Beweis zu glauben,

ist es nicht weniger natürlich,

an anderen trotz der Beweise zu zweifeln.«

Luc de Clapier

Marquis de Vauvenargues

(1715-1747)

Kapitel 1

Die alten, abgewetzten Stühle und Holzbänke des ehrwürdigen ›Old Bailey‹, des ›Zentralen Gerichtshofes von England und Wales‹, nahe dem mittelalterlichen Stadttor Newgates, zweihundert Yards nordwestlich von ›St. Paul’s Cathedral‹, waren hart, aber das gehörte sich wohl so. In den Gängen drängte sich das Volk, das gleiche Volk, in dessen Namen hier seit dem Jahr 1539 Recht oder auch Unrecht gesprochen wurde.

Es war der 15. April 1888. Geschäftig liefen die perückten Anwälte in ihren schwarzen Roben durch die weiten Korridore, konferierten mit ihren Klienten oder deren aufgeregten Angehörigen. Dutzende Justizangestellte schleppten eifrig Aktenbündel hin und her oder standen müßig herum.

Gauner jeglicher Couleur flüsterten mit ihren Zeugen, denen sie die letzten Verhaltensmaßregeln für ihre Aussagen eintrichterten.

Lohnschreiber musterten die Aushänge und gaben sich Mühe, die Rosinen aus dem Teig zu picken. Manche der Fälle, die hier verhandelt wurden, waren schon wochenlang durch die diversen Journale geschleift worden. Von den meisten jedoch wusste man nicht das Geringste. Demzufolge lagen für die Presse immer wieder Sensationen in der Luft.

Die Gesetzesmaschine des Königreiches lief auf Hochtouren, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Ihre Handlager waren mehrere hundert ausgesuchte Polizeibeamte, Zahlreiche Polizei- und Gefängniskutschen, ein Heer von Inspektoren, Laboranten, Pathologen, Archivaren, Erkennungs- und Fingerabdruckexperten, Psychiatern, Richtern, Geschworenen, Kronanwälten und Gefängnisaufsehern; … nicht zuletzt gehörte auch der Henker von London zu ihnen.

Es war ein ungeheurer, kostspieliger Apparat zur Bekämpfung des Verbrechens, aber der Aufwand schien vergeblich zu sein, denn das Verbrechen in und um London wucherte üppig.

Bereits früh am Vormittag, als der Schriftsteller Nathaniel Hewitt das ›Old Bailey‹ betrat, war der Zuschauerraum des Schwurgerichtssaals Nummer IV fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Er befürchtete schon, keinen Sitzplatz mehr ergattern zu können, als er eine laute, tiefe Stimme vernahm.

»Guten Morgen, Nathan! Komm’ hierher! Wir rücken zusammen!«

Es war sein Freund Joseph Davenport von der ›Evening Post‹, der ihm lebhaft zuwinkte. Hewitt nickte ihm zu und schlängelte sich geschickt durch die Sitzreihen.

»Danke, Joseph!« Er ließ seinen Blick umherschweifen. »Es ist erstaunlich voll.«

»Das verwundert dich?«, schmunzelte der Journalist. »Die Sache verspricht, äußerst interessant zu werden. Wir haben eine wirkliche Starbesetzung: der alte Haudegen Cromwell führt den Vorsitz, der ehrgeizige Terry Farrell gibt für die Krone den Ankläger und Lawrence Tyler, der, meiner Meinung nach, ein brillanter Jurist und Stratege ist, hat die Verteidigung übernommen.«

Hewitt hatte sich in die Ecke der Bank gequetscht.

»Mich interessieren mehr die anderen Akteure dieses Dramas. Außerdem besteht ein besonderer Grund für meine Anwesenheit.«

»Kann ich mir denken«, grinste Davenport. »Du bist natürlich wieder auf der Suche nach neuem Stoff für einen deiner Romane.«

»Du wirst lachen. Der Roman ist schon fast fertig. Ich habe ihn lange vor dem Mord an Liam Harris begonnen. Nur die Entwirrung des Knotens bereitet mir noch Kopfschmerzen. Ich komme einfach nicht klar damit.«

»Und jetzt suchst du hier die Lösung? Erzähl mir nicht, deine schmutzige Fantasie sei eingerostet.«

Hewitt zuckte die Achseln.

»Sie ist ausschweifend wie eh und je, daran liegt es nicht, aber bevor ich das Resultat zu Papier bringe, will ich es mit der nüchternen Wirklichkeit konfrontieren. Das Problem meines Buches ist fast haargenau das gleiche, wie das dieses Prozesses, ebenso die Handlung, die auch in einem Mord gipfelt … Die Frage, die sich stellt, lautet: Wer ist der Mörder?«

»Dazu hättest du aber nun wirklich nicht hierher zu kommen brauchen. Wer Liam Harris umgebracht hat, steht eindeutig fest. Es kommt nur noch darauf an, was der Kronanwalt und die Verteidigung daraus machen.«

»In meinem Buch steht es eben nicht fest. Da könnte es auch ein anderer gewesen sein.«

»Wenn du hier dafür Eingebungen suchst, wirst du vermutlich kein Glück haben. Wer sollte es denn sonst gewesen sein, wenn nicht dieser Livingstone? Harris hatte ein Verhältnis mit seiner Frau. Livingstone wusste davon und benutzte das, um ihn finanziell zu rupfen. Scheinbar hat er es damit übertrieben, und Harris erklärte ihm, er werde ihn wegen Erpressung anzeigen. Er legte diese Anzeige sogar schriftlich nieder und hätte sie wohl auch abgeschickt, wenn er nicht vorher ermordet worden wäre.«

»Das behaupten Scotland Yard und der Kronanwalt! Ich weiß, Joseph, … aber stimmt es auch?«

»Es soll Zeugen geben. Warten wir ab. Wir werden es ja hören … Wie heißt dein neuer Roman eigentlich?«

»Der Titel liegt noch nicht endgültig fest. Sehr wahrscheinlich werde ich das Buch ›Jenseits jeden Zweifels‹ nennen.«

Plötzlich wurde es ganz still. Der ›Usher‹, ein Gerichtsdiener, durchquerte, würdevoll gekleidet und gemessenen Schrittes, den Gerichtsaal. Mit Blick auf die Anwesenden blieb er neben einer Bank stehen, die sich auf halber Höhe vor der des Richters befand, und auf der zuvor bereits der Gerichtschreiber und ein Urkundsbeamter Platz genommen hatten, und nahm Haltung an.

»Erheben Sie sich!«, rief er gleich darauf mit kraftvoller Stimme. »Der Ehrenwerte Richter, Sir Reginald Cromwell, führt den Vorsitz. Jedwede Person, die der Gerichtsbarkeit Ihrer Majestät Königin Victoria, Königin des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Irland, Kaiserin von Indien, etwas vorzutragen hat, wird vortreten und vom Hohen Gericht angehört werden.«

Während sich daraufhin alle Anwesenden von ihren Plätzen erhoben, eilte ein rangniederer ›Usher‹ an den Richtertisch heran, legte einen Stapel Bücher und Akten darauf ab und öffnete die hinter der richterlichen Bank befindliche Tür.

Gleich darauf erschien Richter Cromwell, in seiner ganzen Herrlichkeit, mit weißer Perücke und wehendem Talar. Der Richter war ein stattlicher Mann, groß, mit breiten Schultern, kurzem Hals und einem dicken, bis auf einen ausgeprägten silbergrauen Backenbart, kahlen Kopf. Seine Augen waren wasserblau, und auf der Nase hatte er eine lächerliche Brücke kleiner Sommersprossen … Aber Sir Reginald war alles andere als lächerlich. Er war bekannt für seinen messerscharfen Verstand. Niemand konnte ihm etwas vormachen, nicht einmal der Anwalt der Krone. Nicht umsonst hatte man ihn zum Richter des ›High Court‹ berufen und mit seiner Ernennung in den Adelsstand erhoben.

Nachdem seine Lordschaft und die Anwälte sich durch eine knappe, wortlose Verbeugung begrüßt hatten, ließ er sich schnaufend auf seiner erhöhten Richterbank nieder, suchte nach seinem Kneifer, und als er ihn gefunden hatte, vertiefte er sich in die vor ihm liegende Akte.

»Meine Damen und Herren! Setzen Sie sich!«, forderte nun der ranghöhere ›Usher‹, klar und deutlich. »Die Sitzung ist eröffnet!«

Er nahm Platz und für einen Augenblick vernahm man ein allgemeines Scharren und verhaltenes Tuscheln.

Der Anklagevertreter Terry Farrell, ebenfalls in schwarzer Robe und weiß perückt, war ein kleiner, schmaler Mann, mit dem Kopf eines Geiers auf langem Hals, einem ewig hüpfenden Adamsapfel und langen, schmalen, feingliedrigen Händen. Ungeduldig blätterte er in seinen Unterlagen. Er schien es kaum abwarten zu können und vor Energie nur so überzuschäumen.

Hewitt blickte hinüber zum Antagonisten des Kronanwaltes, dem Verteidiger. Lawrence Tyler, war das gerade Gegenteil Terry Farrells, freundlich, behäbig, mit dünnem, immer sorgfältig gescheiteltem Blondhaar unter der weißen Perücke und genießerischen, roten Lippen unter einem ausgeprägten Zwirbelbart. Er saß auf der Verteidigerbank, korrekt, geschäftsmäßig und offiziell wie der Hauptkassierer der ›Bank of London‹.

Als der Angeklagte von zwei Gefängnisbeamten in das ›Dock‹, einer Box mit Anklagebank, am hinteren Ende des Gerichtssaals, geleitet wurde, drehte er sich kurz um und nickte seinem Mandanten zu, wobei er ein zuversichtliches Lächeln zeigte.

Richter Cromwell räusperte sich indigniert und blickte in die anwesende Menge.

 

»Meine Damen und Herren, wie Sie sehen können, ist das Gericht Ihrer Majestät bereit, ordnungsgemäß zu beginnen … Die Krone gegen Bryan Livingstone.« Er sah zu Anklagevertreter und Verteidiger hinüber. »Sind Sie soweit, meine Herren?«

»Der Beschuldigte ist anwesend, der Herr Verteidiger ebenfalls«, entgegnete der Kronanwalt. »Der Ankläger ist prozessbereit.«

»Die Verteidigung ebenfalls, Eure Lordschaft«, erwiderte Tyler wohlwollend, legte die Unterarme auf den Tisch, faltete die Hände und begann Daumen zu drehen.

Nathaniel Hewitt benutzte die kurze Pause und wendete dem Angeklagten, der zwischen zwei uniformierten Justizbeamten, hinter Gitterstäben, zusammengesunken auf der Bank saß, seine Aufmerksamkeit zu.

Bryan Livingstone mochte vielleicht fünfundvierzig Jahre alt sein, war mittelgroß und schlank – man hätte ihn fast zierlich nennen können – und hatte ein geradezu klassisches Profil. Er trug einen dunklen Anzug mit Weste, ein weißes, gestärktes Hemd und eine silbergraue Fliege.

So hätte sich Hewitt einen smarten Vertreter vorgestellt, vielleicht auch noch einen Heiratsschwindler, aber auf keinen Fall einen Mörder.

»Der Angeklagte Bryan Livingstone wird beschuldigt, in der Nacht vom siebten zum achten März dieses Jahres, den Grundstücksmakler Liam Harris durch einen Stich mit einem Dolch, in seinem Haus Nummer 69 in der ›Stanhope Street‹ getötet zu haben«, begann Richter Cromwell. »Im Namen ihrer Majestät frage ich, wie bekennt sich der Angeklagte?«

Cromwell hatte, wie es üblich war, den Beschuldigten nicht direkt angesprochen, sondern seine Worte an den ›Barrister‹, den Anwalt der Krone, gerichtet. Nur wenn sich Livingstone im Zeugenstand befand, war es ihm gestattet, sich unmittelbar an ihn zu wenden.

»Diesbezüglich habe ich keine Kenntnis, Eure Lordschaft«, erwiderte Farrell, und wandte sich flüsternd dem ›Solicitor‹ zu. Lawrence Tyler seinerseits erhob sich, ging zum ›Dock‹, tuschelte kurz mit Livingstone, um daraufhin an seinen Platz zurückzukehren. Er übermittelte die Antwort dem Kronanwalt, der sich nun wieder erhob und für alle gut vernehmbar verkündete: »Der Angeklagte bekennt sich ›nicht schuldig‹, Eure Lordschaft.«

Sir Reginald nickte und vertiefte sich erneut in das Aktenbündel, während die Geschworenen eingelassen, und vom leitenden ›Usher‹ mit monotoner Stimme einzeln aufgerufen und vereidigt wurden. Nacheinander nahmen die zwölf Geschworenen, neun Männer und drei Frauen, auf ihren Sitzen Platz und versuchten ihre Nervosität dadurch zu verbergen, dass sie sich ein, der Situation angemessenes und würdiges Aussehen gaben.

Damit war das Gericht endlich vollständig und die eigentliche Verhandlung konnte beginnen. Terry Farrell verlas die Anklageschrift und ließ dabei kräftig seinen Adamsapfel hüpfen.

»Die Anwaltschaft der Krone verzichtet auf eine detaillierte Zusammenfassung ihrer Ermittlungen. Sie reserviert sich diese für später. Sie schlägt vor, sofort in die Einvernahme der Zeugen zu gehen.«

Richter Cromwell sah zum ›Solicitor‹ hinüber.

»Die Verteidigung ist damit einverstanden«, erklärte Lawrence Tyler.

»Ihre Zeugen!«, forderte Cromwell nun den Kronanwalt auf.

Den Anfang machte die leitende Pathologin und Polizeiärztin von Scotland Yard, Dr. Lady Celeste Montgomery, die etwa eine Stunde nach der Meldung mit Detective Chief Inspector Archibald Primes eingetroffen war. Entkleidet aller medizinisch-technischen Ausdrücke und Floskeln, erklärte sie sachlich, dass sie nachts gegen vier Uhr zehn am Tatort eingetroffen sei und die Leiche in einem Schlafzimmer im ersten Stock auf dem Bett liegend vorgefunden habe. Der Tod sei frühestens siebzig bis neunzig Minuten vor ihrem Eintreffen, also zwischen zwei Uhr vierzig und drei Uhr, eingetreten.

»Der Körper war noch warm«, fuhr sie fort. »Ursächlich für den Eintritt des Todes war ein Stich mit einem Dolch zwischen der dritten und vierten Rippe auf der linken Brustseite, wobei das Herz durchbohrt wurde.«

»Lagen Spuren eines Kampfes vor?«, fragte Farrell.

»Wenn Sie Abwehrverletzungen meinen, dergleichen habe ich nicht entdecken können. Die Waffe steckte noch im Körper. Nach einer ersten Betrachtung habe ich mich zuerst um Mrs. Harris kümmern müssen. Sie war ohnmächtig und zeigte Anzeichen schwerer Misshandlungen. Sie lag quer über ihrem Bett.«

»Welcher Art waren diese Zeichen, Madam?«, erkundigte sich der Kronanwalt.

»Sie rührten von Faustschlägen ins Gesicht und einem Würgegriff am Hals her. Auch am Kopf fand sich eine Schwellung, die von einem Schlag herrühren musste.«

»Waren diese Misshandlungen unter Umständen geeignet, den Tod herbeizuführen?«

»Objection! Einspruch, Eure Lordschaft!«, fuhr der Verteidiger sofort dazwischen. »Ich protestiere auf das Schärfste! Diese Frage ist belanglos und unwesentlich. Die Anklage lautet nur auf Mord an Liam Harris, nicht auf versuchtem Mord an dessen Frau!«

»Einspruch zugelassen«, nickte Sir Reginald. »Die Frage wird aus dem Protokoll gestrichen.«

Der Anwalt der Krone zuckte unmerklich die Achseln und schoss eine neue Frage ab.

»Dann will ich es anders formulieren«, lächelte Farrell spitzbübisch. »Lady Celeste, Sie sagten soeben aus, dass Spuren eines Abwehrkampfes an dem Toten nicht zu sehen waren. Daraus geht für mich hervor, dass Mr. Harris heimtückisch im Schlaf ermordet wurde.«

»Einspruch!«, meldete sich prompt der Verteidiger zu Wort. »Der Herr Kronanwalt veranlasst die Zeugin, eine Schlussfolgerung zu ziehen, zu der sie nicht imstande ist.«

»Streichen Sie den zweiten Teil der Frage im Protokoll«, wies Cromwell den Gerichtsschreiber an. Dann wandte er sich selbst an Dr. Montgomery. »Wurde Mr. Harris den Umständen nach im Schlaf ermordet?«

»Ich bin davon überzeugt, Eure Lordschaft«, erwiderte die Pathologin ernst.

Der Kronanwalt nickte zufrieden. Er hatte erreicht, was er wollte. Auch wenn es im Protokoll gestrichen worden war, die Geschworenen würden sich ihren Teil denken und die ›Heimtücke‹ merken. »Ihre Zeugin«, sagte er zum Verteidiger.

Lawrence Tyler unterbrach das Spiel seiner Daumen.

»Wieviel Kraft erforderte der Dolchstoß, der zum Tod des Mr. Harris führte?«

Lady Celeste zog die Brauen ein wenig zusammen.

»Ich würde sagen, dass der Stoß mit nicht unerheblicher Kraft ausgeführt wurde. Der Dolch traf die dritte Rippe, glitt von dieser ab und drang anschließend in die Brusthöhle ein.«

»Und wie steht es mit den Misshandlungen, denen Mrs. Harris ausgesetzt war? War auch dazu erhebliche Kraft erforderlich?«

»Unbedingt. Der Betreffende muss weit ausgeholt und sinnlos zugeschlagen haben, während er sein Opfer mit der anderen Hand an der Kehle gepackt hielt.«

»Und in diesem Fall gab es also einen Kampf?«

»Auf Grund des Befundes möchte ich diese Frage bejahen.«

»Wie ist die körperliche Verfassung der Angegriffenen? Ist sie schwächlich oder zart?«

»Einspruch!« Der Anwalt der Krone reckte den Hals. »Die Frage ist unwesentlich und ohne belang!«

»Eure Lordschaft«, wandte sich Tyler an Cromwell, »die Beantwortung dieser Frage ist für die Verteidigung von großer Bedeutung. Ich bitte darum, sie zuzulassen.«

»Einspruch abgelehnt«, entschied Sir Reginald. »Antworten Sie, Lady Celeste.«

»Mrs. Harris ist eine sportliche, kräftige Frau«, beurteilte Dr. Montgomery daraufhin.

»Aha!«, brummte Lawrence Tyler und legte soviel Bedeutung in das kleine Wörtchen, dass die Geschworenen aufhorchten. Noch wusste niemand, warum der Anwalt der Verteidigung solchen Wert auf diese Feststellung legte. Man war gespannt darauf, es zu hören, wurde aber enttäuscht. »Das ist im Augenblick alles.«

Der leitende ›Usher‹ erhob sich.

»Detective Chief Inspector Archibald Primes!«, rief er.

Ein großer, athletischer Mann, betrat den Gerichtssaal. Zielstrebig schritt er zum Zeugenstand, legte seine rechte Hand auf die Bibel.

»Ich erkläre vor Gott, dass ich die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen werde.«

»Wann trafen Sie am Tatort ein, Chief Inspector?«, fragte der Kronanwalt, nachdem sich Primes gesetzt hatte.

»Um vier Uhr zehn.«

»Schildern Sie dem Gericht mit Ihren eigenen Worten, was Sie vorfanden.«

»Als ich ankam, war das Haus in heller Aufregung. An der Eingangstür erwartete mich Mr. Berwick Lincoln, ein Nachbar der Eheleute Harris, der, wie er angab, durch Schreie geweckt worden war und im Morgenmantel durch den unmittelbar angrenzenden Garten herüberkam. Außerdem traf ich auf Streifenpolizist Constable Fielding, der den Alarm gegeben hatte. In der Halle stieß ich auf ein völlig aufgelöstes, junges Mädchen, das ich als Abigail Ward identifizierte, ebenso den Gärtner, der mich und Dr. Montgomery zum Mordzimmer im ersten Stock führte. Später erschien Mr. Blake Lancaster, ein Freund der Familie, den man, ebenso wie den Hausarzt herbeigerufen hatte.

Mr. Harris lag im Bett. Sein Gesichtsausdruck war friedlich, wenn man in diesem Zusammenhang von friedlich sprechen mag. Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, dass ihn der Mörder im Schlaf überrascht haben muss. Die Klinge des Dolches steckte bis zum Heft, einem geschnitzten Elfenbeingriff, im Körper.«

Richter Cromwell gab dem Gerichtsdiener einen Wink. Der ›Usher‹ hob ein Dolchmesser hoch, dessen Klinge mit dunklen Flecken übersäht war.

»Beweisstück A«, rief er dabei aus und trat an die Bank der ›Jury‹.

Einer der Geschworenen streckte die Hand nach dem Dolch danach aus, nahm ihn und ließ das Messer weitergehen. Ein Raunen ging durch den Saal, das der Richter mit einem Stirnrunzeln sofort zu ersticken wusste.

»Wir fanden darauf keine Fingerabdrücke«, bemerkte Primes unaufgefordert und fuhr fort: »Wir untersuchten das Tatzimmer wie üblich. Es wurden Fingerabdrücke des Personals mit Ausnahme der Köchin gefunden, außerdem aber auf dem Griff der Balkontür die des Angeklagten.

Anschließend rief mich Dr. Montgomery zu Mrs. Harris, deren Zimmer an das des Ermordeten grenzt. Sie bot einen bedauernswerten Anblick. Ihr Gesicht und ihr Hals waren rot, geschwollen und mit Blut bedeckt. Soweit es unter den Umständen möglich war, vernahm ich sie noch vor Ort. Mrs. Harris gab an …«

»Wir werden die Zeugin selbst hören«, unterbrach ihn Richter Cromwell. »Haben Sie noch weitere eigene Beobachtungen gemacht, Chief Inspector?«

»Nein, Eure Lordschaft!«

»Wie beurteilen Sie die vorgefundene Situation?«, fragte der Kronanwalt.

Der Verteidiger hätte gegen diese Frage Einspruch erheben können, unterließ es aber.

»Ich beschränke mich wie immer auf die Tatsachen«, entgegnete Primes. »Mr. Harris ist im Schlaf ermordet worden. Er hat seinen Mörder wohl gar nicht gesehen. Da keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens gefunden wurden, muss der Mann einen Haustürschlüssel gehabt haben. Obwohl alles sehr leise vor sich ging, erwachte Mrs. Harris. Sie rief nach ihrem Mann und wollte aufstehen, als sie keine Antwort erhielt. Bevor sie Licht machen konnte, stand der Mörder vor ihr, warf sie auf das Bett zurück und misshandelte sie. Dann flüchtete er, wahrscheinlich über den Balkon, auf dessen Türgriff seine Abdrücke gefunden wurden.«

Der Anwalt der Krone nickte zustimmend.

»Haben Sie noch eine Frage an den Chief Inspector?«, forschte der Richter.

»Zur Zeit nicht, Eure Lordschaft.«

»Kreuzverhör.«

Der Verteidiger schnellte hoch.

»Sie sagten, ein Nachbar namens Lincoln sei durch Schreie geweckt worden. Wer hatte geschrien?«

»Das Hausmädchen Abigail Ward, deren Zimmer über dem Schlafraum von Mrs. Harris liegt und das von dem Lärm des Kampfes wach wurde. Sie fand die Frau ohnmächtig und blutend vor.«

»Hat das übrige Personal nichts gehört?«

»Nein. Die Zimmer liegen weiter nach Süden, wohin die Geräusche nicht drangen. Die Leute erwachten erst, als das Mädchen schrie.«

»Können Sie mir erklären, warum sich am Dolch keine Fingerabdrücke befinden?«

»Er ist reich geschnitzt. Auf den wenigen, glatten Stellen, die sich für eine daktyloskopische Auswertung anboten, fanden sich nur verwischte Flecken.«

»Deutet das nicht darauf hin, dass der Mörder Handschuhe getragen hat?«

»Natürlich besteht die Möglichkeit, aber es war nicht mit Bestimmtheit festzustellen.«

»Sie betonten besonders, dass der Griff der Balkontür Fingerabdrücke des Angeklagten trug. Man fand diese nur an der einen Stelle, und Sie schlossen daraus, dass er über den Balkon geflüchtet sei. Was befindet sich darunter im Garten?«

 

»Ein mit Kies bestreuter Weg.«

»Dort wurden keine Spuren gefunden?«

»Nein.«

»Sie stellten aber auch andere Fingerabdrücke im Zimmer fest.«

»Ja, die des Personals.«

»So, dass also auf Grund dieser Feststellung, wenn ich, wie Sie das tun, die Abdrücke als Beweis ansehe, noch drei andere Personen als Täter in Frage kämen, die Zofe, das Hausmädchen und der Gärtner.«

»Theoretisch ja«, lächelte Primes, »aber es lag kein Grund für einen Verdacht vor.«

»Sicher haben Sie das auch nachgeprüft?«

»Soweit ich es für erforderlich hielt.«

»Mit anderen Worten: Sie haben es nicht getan.«

Primes‘ Gesichtsfarbe veränderte sich. Er war verärgert.

»Die Verteidigung versucht die Dinge zu verwirren«, sprang der Kronanwalt lauthals in die Bresche. »Ich werde den Beweis antreten, dass nur der Angeklagte der Täter sein kann.«

Der Verteidiger zeigte sich ungerührt.

»Chief Inspector«, fuhr Lawrence Tyler fort, »Sie haben soeben die Möglichkeit eingeräumt, dass der Mörder Handschuhe getragen habe. Glauben Sie, er habe sie abgelegt, als er die Balkontür öffnete, um zu fliehen, damit man seine Fingerabdrücke dort auch ganz bestimmt finden werde?«

»Es ist nicht sicher, dass er Handschuhe trug«, wandte Primes ein. »Ich sprach nur von der theoretischen Möglichkeit. Ich bin der Überzeugung …«

»Danke!«, unterbrach ihn der Verteidiger. »Mir genügt das vorläufig.«

Police Constable Dave Fielding betrat als nächster den Zeugenstand, wurde vereidigt und erklärte, er sei auf seiner Patrouille gerade mit dem Fahrrad von der ›Clare Street‹ in die ›Stanhope Street‹ eingebogen, als er gellende Schreie aus Nummer 69 hörte. Er fand dort ein sich wie wild gebärdendes Mädchen, das behauptete Mrs. Harris sei ermordet worden. Er sah jedoch, dass die Frau nur ohnmächtig war und wollte ihren Gatten herbeirufen. Als er diesen tot im Bett vorfand, alarmierte er umgehend die Kollegen von der Kriminalpolizei, die dann gegen vier Uhr zehn eintrafen.

»Danke«, endete der Kronanwalt und wendete sich an den Verteidiger. »Ihr Zeuge, Mister Tyler.«

»Wieviel Zeit verging zwischen dem Augenblick, in dem Sie die Schreie hörten und dem Anruf im Yard?«

»Nicht mehr als zehn Minuten.«

»Wie konnten Sie den Yard so schnell informieren?«

»Im Haus der Harris‘ gibt es bereits einen dieser modernen Telefonapparate.«

»Es war also gegen drei Uhr«, kam der Verteidiger wieder auf den Zeitpunkt zurück.

»Das wird wohl so stimmen.«

»Sie fanden nur das junge Mädchen vor?«

»Ja, sie und einen Nachbarn. Ein paar Minuten später war das gesamte Personal da. Ich hatte Mühe, die Leute bis zum Eintreffen der Beamten des Yards zurückzuhalten. Nur der Zofe, erlaubte ich, sich um ihre Herrin zu bemühen, während die Ward den Hausarzt und einen Freund des Hauses anrief, die beide bald darauf eintrafen.«

»Welchen Eindruck erhielten Sie von den einzelnen Angehörigen des Personals?«

»Einspruch!«, bellte der Kronanwalt. »Die Frage ist belanglos, irreführend und suggestiv!«

»Einspruch genehmigt«, knurrte Richter Cromwell.

Der Verteidiger lächelte.

»Dann will ich mich anders ausdrücken. Wie sahen die Leute aus?«

»Sie waren sehr erregt. Sie hatten sich keine Zeit genommen, sich großartig anzuziehen. Der Gärtner trug einen grüngestreiften Schlafrock, die Köchin und die Zofe waren in weißen Nachthemden.« Er grinste vielsagend. »Nur das Hausmädchen hatte einen Morgenmantel übergeworfen, unter dem ein Rocksaum hervorsah.«

»Sie war also angekleidet?«

»Ja, es sah so aus.«

»Was wollen Sie damit sagen? Entweder sie war angekleidet oder nicht.«

»Ich weiß ja nicht, ob sie wirklich ein Kleid darunter anhatte«, erwiderte der Constable unsicher.

Im Zuschauerraum wurde gekichert, was Richter Cromwell zu einem mehr als energischen Räuspern veranlasste.

»Wie waren ihre Haare?«, bohrte der ›Solicitor‹ weiter.

»Die waren nach oben gesteckt. Sie trug einen Dutt.«

»Danke. Ich habe keine weiteren Fragen.«

Der Gärtner Edward Pearce, die Zofe Harriet Carver und die Köchin Mary Williamson bestätigten die Darstellung des Police Constables.

Lawrence Tyler verzichtete auf ein Kreuzverhör.

»Ich rufe Abigail Ward in Zeugenstand«, rief der ›Usher‹.

Ein Raunen ging durch den Zuhörerraum, und die männlichen Mitglieder der Jury reckten die Hälse.

»Donnerwetter, ist die Kleine hübsch«, flüsterte Joseph Davenport, der Reporter der ›Evening Post‹, seinem Freund anerkennend zu.

Hewitt nickte zustimmend.

Das Mädchen war sehr jung. Er schätzte sie auf höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre. Sie war schlank, hoch gewachsen, um fünfeinhalb Fuß groß, und sehr gut geformt. Ihr Haar war braun mit einem goldenen Schimmer darüber und, wie der Constable kurz zuvor noch zu Protokoll gegeben hatte, feinsäuberlich zu einem Dutt hochgesteckt. Sie trug ein eng anliegendes hellblaues Kleid, dessen bauschiger Saum beim Gehen kokett wippte. Sie bewegte sich mit animalischer Grazie und war sich bewusst, dass die Blicke aller Männer im Saal ihr folgten. Sogar der ehrenwerte Richter Cromwell lächelte wohlwollend. Sie leistete den Eid und blickte hinüber zum Anwalt der Krone.

»Sie wartet auf ihr Stichwort«, flüsterte Hewitt mit einem Blick zum Ankläger ihrer Majestät. »Ich bin sicher, dass Farrell den Auftritt mit ihr zuvor durchexerziert hat.«

»Miss Ward«, begann der Kronanwalt, »berichten Sie uns bitte ausführlich über den Verlauf des Abends und der Nacht. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Niemand wird Ihnen etwas tun.«

Diese letzte Zusicherung war vollkommen überflüssig. Von Furcht konnte wirklich keine Rede sein. Es schien Hewitt viel mehr, als ob das Mädchen es in vollen Zügen genoss, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.

»Wir hatten Gäste zum Dinner«, begann sie mit klangvoller, melodischer Stimme, »Mr. Lancaster, Mr. und Mrs. Livingstone. Um neun Uhr fuhren alle zusammen weg. Wohin weiß ich nicht. Wenn die Herrschaften ausgehen, was ein bis zweimal in der Woche vorkommt, wechseln Harriet und ich uns ab. Eine von uns bleibt auf, um Kaffee zu kochen oder einen Imbiss zu servieren. An diesem Tag war ich an der Reihe. Ich las, bis ich um ein Uhr Pferdehufe und die Räder der Kutsche hörte. Mrs. Harris bestellte sich einen besonders starken Kaffee. Sie habe zuviel getrunken, meinte sie und brauche ihn.

Um zwanzig Minuten nach zwei ging sie zu Bett. Ich half ihr zuvor beim Entkleiden und hängte ihr Kleid in den Schrank. Sie war guter Laune und neckte mich.

Als ich wieder nach unten kam, hörte ich die Stimmen der Herren aus dem Salon. Mr. Harris sprach so laut, dass ich ihn genau verstehen konnte.«

»Was sagte Mr. Harris?«, fragte Farrell.

»Er sagte: Ich werde mir das nicht länger bieten lassen. Ich werde Anzeige erstatten. Meine Geduld hat ein Ende. Ich werde auch mit meiner Frau sprechen.‹

›Und wenn Charlotte nun eine Annullierung der Ehe beantragt? Grund genug hätte sie ja‹, hörte ich Mr. Lancaster antworten.

›Sie wird es nicht tun. Sie liebt mich.‹

›Was aber wird Laura dazu sagen?‹

›Ich habe ihr bereits angekündigt, dass ich nicht mehr mitmache. Ich bin der Überzeugung, sie hat mich mit Wissen oder sogar im Auftrag ihres Mannes herumbekommen, damit dieser mich erpressen kann.‹«

»Wer ist Laura?!« Die Frage des Kronanwalts knallte wie ein Schuss in den Saal.

Abigail Ward schien einen Augenblick zu zögern. Dann antwortete sie.

»Mrs. Livingstone.«

Der Angeklagte war schlohweiß geworden. Seine gefalteten Hände verkrampften sich, und seine Zähne gruben sich in die Unterlippe.

»Fahren Sie fort, Miss Ward«, mahnte Farrell.

»Mehr hörte ich nicht. Ich ging in die Küche und räumte auf. Dann legte ich mich schlafen. Während ich die Treppe hinaufging, verließ Mr. Lancaster das Haus. Es war Viertel vor zwei. Ich war sehr müde und schlief sofort ein. Plötzlich schreckte ich auf. Ich glaubte einen unterdrückten Schrei gehört zu haben. Ich sprang aus dem Bett, und da vernahm ich ein Poltern, das aus Mrs. Harris‘ Zimmer zu kommen schien. Ich streifte Kleid und Morgenmantel über und sah nach. Mrs. Harris lag quer über ihrem Bett. Ihr Nachthemd war zerrissen und ihr Gesicht voller Blut. Ich glaubte, sie sei tot …, und dann muss ich wohl hinausgerannt sein und geschrien haben. Ich weiß es nicht mehr.«