Jenseits jeden Zweifels

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»Einspruch!«, meldete sich der Anwalt der Krone sofort wieder.

»Abgelehnt.« Richter Cromwell wurde ungeduldig. »Antworten Sie, Zeugin.«

»Ich könnte mir nicht denken, wo anders sie gewesen sein sollten«, überlegte Charlotte Harris. »Es gibt auf diesem Flur nur mein und das Schlafzimmer meines Mannes, sowie zwei zur Zeit unbenutzte Gästezimmer.«

»Kommen wir zu etwas anderem. Es war wiederholt die Rede von einem Mr. Lancaster, der sich an diesem Abend in Ihrer Gesellschaft befand und später mit Ihnen zu Hause Kaffee trank. Haben Sie gehört, dass Mr. Lancaster sich verabschiedete und fortging?«

»Nein. Zu dieser Zeit schlief ich bereits.«

»Wer ist dieser Herr überhaupt? In welchem Verhältnis steht er zu Ihnen und Ihrem Gatten?«

»Blake ist ein Freund meines Mannes aus seiner Collegezeit. Er ist Besitzer eines Departement Stores in der ›Chancery Lane‹ und Junggeselle. Ich lernte ihn bereits vor meiner Heirat durch meinen Mann kennen. Er kommt jeden Donnerstag zum Dinner und ging auch manchmal mit uns aus. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Kam es öfters vor, dass er lange mit Ihrem Gatten zusammensaß, nachdem Sie zu Bett gegangen waren?«

»Öfters wäre zuviel gesagt, aber es kam vor.«

»Aus Ihren Antworten glaube ich schließen zu dürfen, dass Mr. Lancaster Ihnen nicht gerade sympathisch ist.«

»Einspruch!«, fuhr der Kronanwalt dazwischen. »Die Frage gehört nicht zur Sache und ist belanglos.«

»Einspruch stattgegeben.«

»Ich möchte dennoch antworten«, erklärte Mrs. Harris. »Ich hatte niemals das Geringste gegen Mr. Lancaster und muss besonders betonen, dass er mir nach dem Tod meines Mannes eine große Hilfe war. Er hat mir alles Unangenehme und Peinliche fernzuhalten versucht. Er ist ein wirklicher Freund.«

»Besaß Mr. Lancaster einen Schlüssel zu Ihrem Haus?«, fragte Tyler.

»Keineswegs. Dazu lag keine Veranlassung vor.«

»Besaß Mr. Livingstone einen Schlüssel?«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Und dessen Frau?«

»Meines Wissens nicht.«

»Danke schön.« Der Verteidiger setzte sich wieder.

Sichtlich erleichtert verließ Charlotte Harris den Zeugenstand und den Gerichtssaal.

»Mrs. Laura Livingstone!«, rief der leitende ›Usher‹, und ein Flüstern und Raunen erhob sich.

Das also war die Frau, die indirekt Schuld an dem Verbrechen trug. Der Anwalt der Krone saß da wie ein Boxer vor der entscheidenden Runde. Sir Reginald hob den Blick von den Akten. Die Geschworenen versuchten ihre Neugier und Spannung hinter wichtigen Mienen zu verstecken. Nur die drei Frauen unter ihnen schossen verachtungsvolle Blicke auf Laura Livingstone, die von einem Gerichtsdiener geleitet, zum Zeugenstand ging. Der Verteidiger machte ein gleichmütiges Gesicht. Er tat so, als interessiere ihn die Zeugin überhaupt nicht.

Dabei war Laura Livingstone wirklich des Anschauens wert. Sie mochte in demselben Alter sein, wie Charlotte Harris, aber welcher Unterschied. Ihr tadellos frisiertes Haar war von einem brennenden Rot, das in den Augen schmerzte, ihr Gesicht oval, glatt, mit dem weißen Teint, den man nur bei rothaarigen Frauen findet. Ihr Mund war voll und so stark geschminkt, dass er die Farbe ihrer Locken noch übertrumpfte. Mit einem Blick aus ihren meergrünen Augen würde sie jeden Mann einfangen können. Sie trug ein einfaches, graublaues Kleid, aber das was sie darunter hatte, hätte jeder Schönheitskönigin zur Ehre gereicht.

»Donnerwetter!«, flüsterte Hewitt seinem Freund zu. »Sie hat alles, was nötig ist, um ein Unglück heraufzubeschwören.«

»Ja«, stimmte ihm Davenport ebenso leise zu. »Allein ihre Erscheinung ist ein überzeugender Beweis für die Theorie des Kronanwaltes.«

Farrell schien derselben Ansicht zu sein. Er verzog seine dünnen Lippen zu einem zufriedenen Lächeln.

Richter Cromwell räusperte sich.

»Als Ehefrau des Angeklagten haben Sie das Recht, die Aussage zu verweigern.«

»Ich werde aussagen«, entgegnete sie mit heller Stimme und blickte zu ihrem Mann hinüber, der endlich wieder aus seiner Lethargie erwacht war.

Sie lächelte ihm zu und nickte, als wollte sie sagen: ›Lass‘ mich nur machen. Ich werde das schon schaukeln.‹

Sie zog den hellen Wildlederhandschuh von der rechten Hand, hob diese, legte sie auf die Bibel und sprach dem Gerichtsdiener die Eidesformel nach. Ihre langen, spitz gefeilten Nägel waren so rot wie ihr Mund.

»Mrs. Livingstone«, die Stimme des Kronanwalts war im Gegensatz zu vorher messerscharf. »Ich brauche Sie wohl kaum darauf aufmerksam zu machen, dass Sie unter Eid stehen und die Wahrheit, nichts als die Wahrheit sagen müssen.« Er pausierte einen Augenblick, aber die beabsichtigte Wirkung blieb aus.

»Das ist mir bekannt, …« Obwohl sie den Namen des Anklägers bestimmt wusste, gab sie sich den Anschein, ihn nicht zu kennen. »Es war nicht nötig, mich darauf aufmerksam zu machen. Bitte kommen Sie zur Sache.«

Das Publikum im Saal wurde unruhig. Jemand kicherte leise. Der Adamsapfel des Kronanwalts begann wieder zu hüpfen, und seine etwas abstehenden Ohren röteten sich.

Der Verteidiger drehte wieder Daumen. Dieses Daumendrehen schien seine Lieblingsbeschäftigung zu sein.

»Hatten Sie ein intimes Verhältnis mit Mr. Harris und wusste Ihr Mann davon?«, eröffnete Farrell das Gefecht mit dem schwersten Geschütz.

Die Zeugin ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie hatte wohl vorher gewusst, was sie erwartete.

»Von einem intimen Verhältnis, wie Sie sich auszudrücken erlauben, kann gar keine Rede sein. Ich bestreite durchaus nicht, dass wir uns einmal in sehr vorgerückter Stunde vergessen haben.«

»Also doch!«, grinste der Anwalt der Krone höhnisch.

»Ich weiß, dass ich jetzt zerknirscht und voller Reue in Tränen ausbrechen müsste. Wenigstens setzen Sie und alle anderen Spießer das voraus, aber …«

Richter Cromwell machte ein bitterböses Gesicht und klopfte mit dem Fingerknöchel auf die Tischplatte.

»Zeugin, ich muss Sie bitten, die Würde des Gerichts Ihrer Majestät zu respektieren. Der Ausdruck ›Spießer‹ in Verbindung mit dem Ankläger war fehl am Platz.«

Die Unruhe im Publikum wuchs. Selbst zwei der männlichen Geschworenen grinsten versteckt, während die drei Frauen ob so viel Verderbtheit die Nasen rümpften.

»Ich bitte um Verzeihung«, flötete Mrs. Livingstone. »Ich habe den Anwalt der Krone nicht beleidigen wollen. Ich wollte damit nur ausdrücken, dass ich aus diesem Zwischenfall kein ›cause célèbre‹ machen kann. Ich kann nicht einmal wirkliche Reue aufbringen. Ich nahm den Vorfall nicht tragisch, und mein Mann, dem ich freiwillig beichtete, verzieh mir. Es ist das einzige Mal in unserer fünfjährigen Ehe, dass etwas Derartiges passierte, und ich hätte wirklich schon tausendmal Gelegenheit dazu gehabt. Ich kann nun einmal nichts dafür, dass die Männer mir nachlaufen, und wenn ich wirklich einmal schwach geworden …« Sie hob die Schultern, als wollte sie sagen: ›Warum eine Staatsaffäre daraus machen?‹

»Sie behaupten also, Ihr Gatte habe Ihnen den Ehebruch ohne weiteres verziehen«, höhnte der Kronanwalt. »Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen das nicht abnehme.«

»Fragen Sie ihn doch«, war ihre Antwort.

»Das werde ich zu gegebener Zeit tun. Jetzt frage ich Sie.«

»Sie haben meine Antwort gehört, Herr Kronanwalt!«

»Gut … Es blieb also bei diesem, wie Sie es nennen, einmaligem Vergessen. War denn Mr. Harris damit zufrieden?«

»Durchaus. Im Gegensatz zu mir, bereute er den Vorfall. Er sagte mir wiederholt, er wünschte, er hätte sich beherrscht. Umsonst versuchte ich ihm klarzumachen, dass die Schuld allein auf meine Seite liege. Er machte sich Vorwürfe und sprach von Folgen, die er nicht habe vorhersehen können.«

»Wissen Sie, was er damit meinte?«

»Nein. Er weigerte sich, mir das zu sagen.«

»Sie wussten also auch nicht, dass Ihr Mann Mr. Harris erpresste? Und Sie wussten ebenfalls nicht, dass er ihm drohte, er werde seine Frau davon unterrichten.«

»Ich glaube, ich erkläre Ihnen schon wiederholt, dass diese Behauptung himmelschreiender Unsinn ist. Mein Mann hat nichts Derartiges getan.«

»Sie wollen damit zum Ausdruck bringen, dass Sie darüber nicht orientiert waren. Dass er es getan hat, steht fest. Wir haben den Beweis dafür, dass Mr. Harris Ihren Mann bei der Anwaltschaft der Krone wegen Erpressung anzeigen wollte. Kennen Sie die Schrift des Ermordeten?«

»Selbstverständlich.«

»Selbstverständlich?« Der Kronanwalt lächelte. »Hat er Ihnen Liebesbriefe geschrieben?«

Für einen Augenblick schien es, als wollte die Frau im Zeugenstand wütend auffahren, aber der vorsitzende Richter kam ihr zuvor.

»Das Gericht hält diese Frage für abwegig und ungehörig. Hat der Kronanwalt einen Anhaltspunkt dafür, dass derartige Briefe geschrieben worden sind?«

»Nach Sachlage wäre es anzunehmen, Eure Lordschaft«, entgegnete Farrell.

»Ich bitte die Anklage, bei der Sache zu bleiben. Das Gericht wünscht Beweise und keine Unterstellungen.«

Der Verteidiger schien sehr zufrieden zu sein. Er gönnte dem Anwalt der Krone jede Zurechtweisung. Zwar gehörte er derselben Bridgerunde an, wie dieser und würde in drei Tagen in aller Freundschaft mit ihm Karten spielen, aber vor Gericht hörte die Freundschaft auf.

»Eines muss man dem alten Cromwell lassen«, raunte Hewitt seinem Freund zu: »Korrekt ist er.«

Inzwischen hatte Farrell seinen Ärger hinunter geschluckt.

»Sie kennen also Mr. Harris‘ Schrift. Wollen Sie bitte Kenntnis von dem Brief nehmen, den er, kurz bevor er ermordet wurde, geschrieben hat?«

 

Er blickte den Richter an. Der winkte dem ›Usher‹, der seinerseits der Zeugin das Beweisstück reichte. Diese überflog die Zeilen und gab das Papier zurück.

»Eine Fälschung«, kommentierte sie, nachdem sie den Brief zurückgegeben hatte, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Die Schrift wurde von Sachverständigen geprüft. Es ist einwandfrei erwiesen, dass nur Mr. Harris diese Zeilen geschrieben haben kann.«

»Und doch muss es eine Fälschung sein«, beharrte Laura Livingstone. »Wenn nicht, so gibt es zwei Möglichkeiten. Harris war nicht bei Sinnen oder er wurde gezwungen, diese Zeilen zu schreiben.«

»Beides scheidet aus. Wir haben aber noch weitere Zeugenaussagen, die beweisen, dass es mit diesem Brief seine Richtigkeit hat. Darf ich das Hohe Gericht bitten, der Zeugin die Aussage der Abigail Ward zur Kenntnis zu geben?«

Sir Reginald nickte, und der Gerichtsschreiber trat in Aktion. Mrs. Livingstone hörte ihn mit unbewegtem Gesicht an. Dann sagte sie kalt:

»Die Kleine lügt. Sie ist ein Flittchen, verdorben, durch und durch, trotz ihrer Jugend. Sie läuft doch jedem Mann nach. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn …«

»Wenn was?«, hakte Farrell nach.

»Nichts. Eure Lordschaft hat vorhin darauf hingewiesen, dass er keine Vermutungen zu hören wünscht.«

»Ein verdammt gescheites Weibsstück!«, brummte Hewitt. »Sie hat nichts gesagt, und dennoch weiß jeder, was sie meint.«

Sein Freund nickte.

»Nun zu etwas anderem«, nahm Farrell den Faden wieder auf. »Sie waren also an dem bewussten Abend mit dem Angeklagten, Ihrem Mann, bei Familie Harris zum Dinner. Außer Ihnen war Mr. Lancaster eingeladen. Wie verlief der Abend?«

»Wir fuhren nach dem Essen um ungefähr neun Uhr zum ›Covent Garden‹ und dann ins ›Hunter‹, einem Pub am ›Red Lion Square‹. Von dort gingen wir kurz vor ein Uhr weg. Mrs. Harris lud uns alle zu einem Kaffee und einem Drink ein, aber ich war müde, und mein Mann hatte für den nächsten Morgen eine wichtige, geschäftliche Verabredung, bei der er frisch sein musste. Darum lehnten wir ab und fuhren nach Hause.«

»Sie wohnen in der ›Newman Row‹, nicht weit von der ›Stanhope Street‹?«

»Ja, auf der anderen Seite des ›Lincoln’s Inn Field‹. Auch das war ein Grund, warum wir die Einladung von Mrs. Harris ablehnten. Von da wo wir uns befanden, waren wir in fünfzehn Minuten zu Hause, während wir von der ›Stanhope Street‹ weit über eine halbe Stunde gebraucht hätten.«

»Wann kamen Sie nun zu Hause an?«

»Ungefähr um Viertel nach eins. Wir gingen sofort zu Bett.«

»Haben Sie ein gemeinsames Schlafzimmer?«

»Ich weiß zwar nicht, was Sie mit dieser indiskreten Frage bezwecken, aber … Wie haben ein gemeinsames Schlafzimmer. Wir haben sogar ein gemeinsames, wenn auch außerordentlich breites Bett.« Aus ihrer Stimme klang Zorn und unmissverständlicher Hohn.

»Ich bezweifle nicht, dass Sie selbst sofort zu Bett gingen und da Sie müde waren, unmittelbar danach einschliefen«, meinte Kronanwalt Farrell ungerührt. »Wie war es aber mit Ihrem Mann? Schlief der auch sofort?«

»Ich bedaure, das nicht unter Eid erhärten zu können. Jedenfalls lag er im Bett und atmete. Zu der Zeit, zu der ich einschlief, war es dunkel, und darum wusste ich nicht, ob er vielleicht noch wach war.«

»Es wäre also durchaus möglich, dass der Angeklagte, nachdem Sie eingeschlafen waren, aufstand und nochmals wegging.«

»Das halte ich für ausgeschlossen. Ich wache sofort auf, wenn mein Mann das Bett verlässt. Ich hätte auch gehört, wenn er die Pferde angespannt und die Kutsche aus der Remise geholt hätte.«

»Sie hatten aber doch an diesem Abend ziemlich viel getrunken. Sicherlich schliefen Sie besonders fest.«

»Ich hatte getrunken – genauso viel wie die anderen – aber ich kann sehr viel vertragen. Zur Erläuterung möchte ich feststellen, dass ich vor meiner Ehe in einem Pub in ›Kintbury‹ gearbeitet habe und an Alkohol gewöhnt bin.«

»Sehr interessant«, meinte Farrell, so als wollte er damit zum Ausdruck bringen: ›Da können Sie sehen, wessen Geistes Kind diese Zeugin ist‹. Für zwei Minuten studierte er seine Fingernägel und nickte dann dem Verteidiger zu.

»Kreuzverhör.«

»Ich habe nur wenige Fragen, Mrs. Livingstone, auf deren genaue Beantwortung es aber ankommt. Trug Ihr Gatte an jenem Abend einen Mantel?«

»Ja. Es war recht kühl, und so holte ich ihm den bereits weggehängten Wintermantel aus dem Schrank.«

»Aha«, knurrte Tyler unzufrieden. Die Antwort war nicht so ausgefallen, wie er gehofft hatte. »Hatte er auch Handschuhe an und wenn, was für welche?«

»Nein. Ich erinnere mich noch daran, dass er eine unwillige Bemerkung machte, weil er sie vergessen hatte.«

»Ich bin übrigens der Ansicht, dass der Herr Kronanwalt etwas übersehen hat. Hat man Ihnen die Mordwaffe gezeigt?«

»Nein.«

»Einspruch! Es ist dem Anwalt der Krone bekannt, woher diese stammt. Die Feststellung ist unnötig.«

»Ich lege größten Wert darauf, die Zeugin darüber zu befragen«, widersprach der Verteidiger.

»Einspruch abgelehnt. Der ›Usher‹ wird angewiesen, der Zeugin den Dolch zeigen.«

Laura Livingstone wurde blass, als sie die Waffe mit dem Elfenbeingriff und der blutbefleckten Klinge ansah.

»Der Dolch gehörte Mr. Harris. Er lag in einer Vitrine im Salon zusammen mit anderen exotischen Dingen, aber er steckte in einer Scheide, die ebenfalls aus geschnitztem Elfenbein bestand.«

»Hat der Kronanwalt sich um die Scheide gekümmert?«, fragte Lawrence Tyler über den Kopf der Zeugin hinweg.

Farrell schien von dieser Frage nicht entzückt zu sein.

»Chief Inspector Primes und seine Mitarbeiter haben das Haus und den Garten durchsucht«, berichtete er. »Es wurde auch in der Wohnung des Ehepaares Livingstone nachgeforscht. Da die Scheide nicht gefunden wurde, so muss der Mörder sie weggeworfen haben. Vielleicht liegt sie auf dem Grund der Themse.«

»War die Vitrine verschlossen?«, erkundigte sich Tyler weiter.

»Sie war es, aber der Schlüssel steckte«, sagte Mrs. Livingstone. »Ich selbst habe vor einigen Wochen eine antike Dose herausgenommen, um mir die Malerei darauf näher anzusehen.«

»Da gerade von Schlüsseln die Rede ist. Besaßen Sie einen Schlüssel zu dem Haus des Ehepaares Harris.«

»Nein. Wozu sollte ich auch.«

»Noch eine letzte Frage. Kannten Sie jemanden, der Grund gehabt hätte, Mr. Harris zu ermorden?«

»Nein. Sie können sich denken, dass ich mir gerade darüber den Kopf zerbrochen habe. Ich habe nur einen vagen Verdacht, aber den darf ich hier nicht äußern, weil ich nicht den Schatten eines Beweises dafür erbringen kann.«

»Danke schön, das war alles.«

Der Kronanwalt hob die Hand.

»Einen Augenblick noch, Mrs. Livingstone … Es war Ihnen bekannt, dass der Dolch in der Vitrine lag, deren Schlüssel steckte. Wusste auch Ihr Mann davon?«

»Ich habe ihn nie gefragt, und er hat mit mir nicht darüber gesprochen. Ich kann Ihnen das nicht sagen.«

»War er zugegen, als Sie damals die Dose herausnahmen?«

»Ich nehme es an.«

»Aber das müssen Sie doch wissen.«

»Ich bedauere. Das liegt bereits mehrere Monate zurück. Ich wusste ja nicht, dass ich einmal danach gefragt werden würde, sonst hätte ich es mir bestimmt gemerkt.«

»Aber es ist doch eine Tatsache, dass Sie auch wiederholt ohne Ihren Mann bei Mr. Harris waren. Könnte es nicht bei dieser Gelegenheit gewesen sein?«

»Ich habe nur ein einziges Mal das Haus ohne meinen Mann betreten, und das liegt schon drei Monate zurück. Ich sagte vorhin, dass ich diesen Umstand nicht bereue. Ich muss das zurücknehmen. Ich wollte, ich hätte das nie getan. Wir waren an diesem Abend alle zusammen ausgewesen, und damals hatte ich wirklich einen Schwips. Mrs. Harris lenkte die Kutsche. Sie war die einzige, die noch halbwegs nüchtern war. Wir anderen wagten uns nicht mehr den Zweispänner zu steuern. Mein Mann saß vorn auf der Kutschbank, und ich mit Mr. Harris im Fond. Mich muss der Teufel geritten haben. Ich bot alles auf, um ihn zu verführen, und es gelang mir. Ich versprach ihm, in spätestens einer halben Stunde zurückzukommen. Wir brachten Mr. und Mrs. Harris nach Hause, ließen die Kutsche vor der Haustür stehen und nahmen uns eine Droschke. Auf dem Rückweg machte ich meinem Mann den Vorschlag, noch einen Drink zu nehmen. Absichtlich ließ ich dort halten, wo einige seiner Freunde gewohnheitsmäßig verkehren. Ich ließ die Droschke warten, ging mit ihm nach drinnen und sorgte dafür, dass er noch auf mich wartete. Ich weiß, Sie alle werden mich jetzt für schlecht halten, aber ich war betrunken, sonst hätte ich es niemals getan. Ich blieb nicht länger als eine Stunde. Als ich in den Pub zurückkam, hatte mein Mann gar nicht gemerkt, dass ich weg gewesen war … So … Nun habe ich auch das vom Herzen. Es war ein dummer Streich, nicht mehr.«

»Und Sie wollen uns wirklich weismachen, es sei bei diesem einen Mal geblieben?«, fragte der Kronanwalt ironisch. »Die Zeugin Ward hat Sie des Öfteren bei derartigen Besuchen zu später Stunde beobachtet, und da waren Sie bestimmt nicht betrunken. Zu diesem Zweck waren Sie auch im Besitz eines Schlüssels, auch wenn Sie es ableugnen.«

»Und wie hätte ich diese Besuche bei meinem Mann motivieren sollen? Schließlich konnte ich ihn ja nicht jedes Mal so betrunken machen, dass er davon nichts merkte.«

»Sie mussten sich ihm gegenüber nicht erklären«, behauptete Terry Farrell kalt, »schließlich wusste Ihr Mann davon.«

»Einspruch!«, protestierte der Verteidiger. »Der Ankläger versucht, die Zeugin durch unbewiesene Behauptungen einzuschüchtern.«

»Einspruch stattgegeben.«

»Danke, Mrs. Livingstone, das ist alles.«

Als sie den Zeugenstand verließ und sich auf die Bank vor dem ›Dock‹ setzte, grüßte sie ihren Mann wieder. Dann erhob sich plötzlich, drehte sich ihm zu und reichte ihm durch die Gitterstäbe demonstrativ die Hand. Es war das erste Mal, dass der Angeklagte lächelte. Es war ein gequältes Lächeln, aber der Vorgang blieb nicht ohne Eindruck auf die Geschworenen, soweit es Männer waren. Die drei Frauen ließen jedoch keinen Zweifel darüber, dass sie dasselbe dachten, was die Dicke unter ihnen vor sich hinbrummte:

»Schmierentheater!«

Für eine Minute blieb es still. Dann ertönte die Stimme des ›Usher‹.

»Blake Lancaster in den Zeugenstand.«

Mr. Lancaster war das, was man einen seriösen Herrn nennt. Er hatte leicht angegraute Schläfen und trug eine Hornbrille. Seine Schultern waren breit, und seine Haltung aufrecht und selbstbewusst. Hewitt gewann den Eindruck, dass dieser Mann seine Geschäfte vorbildlich führte.

»Sie kannten das Ehepaar Harris schon lange?«, eröffnete Farrell die Einvernahme.

»Harris und ich waren zusammen auf dem College. Wie spielten in derselben Kricket-Mannschaft. Mrs. Harris lernte ich vor ungefähr sieben Jahren kennen, das heißt kurz vor ihrer Verlobung.«

»Ich kann also voraussetzen, dass Sie über beide gut unterrichtet sind.«

»Das ist richtig.«

»Was war Mr. Harris für ein Charakter?«

»Einspruch!«, unterbrach der Verteidiger. »Der Ankläger verlangt ein Werturteil an Stelle von Tatsachen.«

»Gerade auf ein Werturteil von berufener Seite kommt es mir an«, widersprach der Kronanwalt. »Die Wurzeln dieses Verbrechens liegen vielleicht tiefer, als es den Anschein hat. Sie sind zum großen Teil im Charakter der Beteiligten begründet. Und wer sollte zu einem Urteil berufener sein, als ein alter Freund des Ermordeten?«

Richter Cromwell zögerte einige Sekunden.

»Einspruch abgelehnt. Antworten Sie, Zeuge.«

»Harris war das, was man einen guten Kameraden nennt«, antwortete Lancaster. »Man konnte sozusagen Pferde mit ihm stehlen. Er machte jeden Streich mit, besonders … nun ja, das gehört wohl nicht hierher.«

»Was wollten Sie sagen?«, setzte Farrell nach.

»Nun … Besonders was Mädchen anging. Wir hatten des Öfteren gemeinsame Freundinnen. Wir gingen gemeinsam mit ihnen aus und hatten eine vergnügte Zeit.«

»Wie kam es dann zu Harris‘ Verlobung?«

»Das war erst viel später. Wir waren beide ungefähr gleich alt. Ich hatte bereits mein Geschäft und er das seine. Aber wir sahen uns noch oft. Wie wir Charlotte, Verzeihung, Mrs. Harris kennenlernten, kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Wir kannten sie eben, und eines Tages vertraute mir mein Freund an, er habe sich mit ihr verlobt und werde sie in Kürze ehelichen.«

 

»Gab Mr. Harris danach seine amourösen Abenteuer mit anderen Damen auf?«

»Ich nehme es an«, antwortete Lancaster ausweichend. »Ich kann es nicht sagen … Ich habe mich nicht wirklich dafür interessiert.«

»Es ist gewiss sehr lobenswert, Mr. Lancaster, dass Sie den Ruf des Toten schützen wollen«, stellte der Kronanwalt fest. »Berücksichtigen Sie aber, dass Sie unter Eid stehen und es sich um die Aufklärung eines Mordes handelt.«

Lancaster war offensichtlich unsicher und gedrückt. Dann gab er sich einen Ruck und antwortete.

»Harris war ein Mann, dem die Frauen nur so zuflogen. Ich habe ihn oft um diese Eigenschaft beneidet. Vielleicht viel es ihm am Anfang schwer, seinen Gewohnheiten zu entsagen, aber eine präzise Aussage kann ich nicht machen. Ich habe mich, wie ich schon ausführte, nicht dafür interessiert.«

»Wie standen Sie zu Mrs. Harris?«

»Wie man eben zur Gattin eines guten Freundes steht. Ich schätzte sie. Sie liebte ihren Mann. Ich habe niemals Anzeichen vom Gegenteil bemerkt. Nach seinem Tod war sie verzweifelt. Da sie keine Angehörigen hat, habe ich mich nach besten Kräften um sie bemüht.«

»Sie kennen auch das Ehepaar Livingstone.«

»Selbstverständlich. Allerdings muss ich einschränkend erklären, dass die beiden nicht zu meinem Freundeskreis gehören, wie die Harris‘.«

»Wie ist Ihr Verhältnis zu Mrs. Livingstone?«

»Nun …« Er lächelte vielsagend. »Ich glaube, wir können uns nicht so recht leiden. Das mag an mir liegen. Es gibt eben Sympathien und Antipathien, über die man sich keine Rechenschaft ablegen kann.«

»Sie hatten also keinen besonderen Grund.«

»Nein.«

»Und wie verhielt sich das mit Mr. Livingstone?«

Lancaster sah zu dem Angeklagten hinüber.

»Er war mir eigentlich recht sympathisch … bis zu jenem Abend, an dem mir Harris sein Herz ausschüttete. Ich hätte ihm etwas Derartiges niemals zugetraut.«

»Wir kommen jetzt zu diesem Abend. Bitte berichten Sie, ohne etwas auszulassen.«

»Mrs. Harris hatte mir eine Einladung zum Dinner zukommen lassen. Ich kam kurz nach sieben Uhr. Die anderen waren schon beim Cocktail. Wie speisten in bester Stimmung, und dann wurde der Vorschlag gemacht noch das ›Covent Garden‹ aufzusuchen.«

»Wer machte diesen Vorschlag?«

»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Lancaster schulterzuckend. »Ich war es jedenfalls nicht.«

»Und danach?«

»Wir machten noch einen Abstecher in einen Pub, und dann lud uns Mrs. Harris zu einem abschließenden Kaffee ein …, aber das Ehepaar Livingstone wollte nicht. Er sprach von wichtigen Geschäften am nächsten Morgen, und so verabschiedeten wir uns. Beim Aussteigen bat mich Harris leise doch dazubleiben, wenn seine Frau schlafen ginge. Er erklärte, mit mir noch etwas besprechen zu wollen. Um zehn Minuten vor halb zwei zog sich sie sich zurück. Kaum war sie verschwunden, als er mir in großer Erregung berichtete. Er ließ mich wissen, dass er sich mit Mrs. Livingstone eingelassen habe. Der Beginn läge schon drei Monate zurück. Die zweifellos sehr schöne Frau habe ihn überrumpelt, und er sei für einige Wochen leidenschaftlich in sie verliebt gewesen.

Eines Tages kam der kalte Guss. Mr. Livingstone erklärte, seine Frau habe ihm alles gebeichtet. Er werde die Ehe annullieren lassen und ihn als Scheidungsgrund angeben. Harris fiel aus allen Wolken. Er bat und flehte, aber Livingstone blieb unerbittlich. Zuletzt bot Harris ihm Geld an. Wieviel weiß ich nicht. Nach langem Hin und Her ging Livingstone darauf ein. Er erklärte sich auch damit einverstanden, die Bekanntschaft nicht abzubrechen, da Harris‘ Frau sonst etwas bemerkt hätte.

Nach ein paar Wochen kam Livingstone mit einer neuen, höheren Forderung und dann noch einmal. Harris zahlte um des Friedens seiner Ehe willen, als der Erpresser aber zum Schluss einen Betrag forderte, die selbst für ihn zu groß war, beschloss er, reinen Tisch zu machen. Er drohte mit einer Anzeige, worauf Livingstone ihn auslachte. Aber Harris ließ sich nicht bluffen. Er drehte den Spieß um und bestand darauf, dass er es sogar auf einen Skandal ankommen lassen werde. Er legte mir den Brief vor, den er an die Anwaltschaft der Krone geschrieben hatte. Er wollte vor allem sicher gehen, dass die Angelegenheit diskret behandelt werde und erst dann mit seiner Frau sprechen. Ich war bestürzt. Wir überlegten vielleicht eine halbe Stunde lang …, aber es gab keinen anderen Ausweg.

Dann verließ ich das Haus und ging. Ich war zu aufgeregt, als dass ich schon hätte schlafen können. So saß ich noch annähernd eine Stunde in einem Pub am Hafen. Ich glaube, er hieß ›Sailors Inn‹ oder so ähnlich.

Gerade als ich nach Hause kam, klingelte das Telefon. Das Hausmädchen der Harris‘ erzählte mir, was geschehen war. Sie sagte, das ganze Haus sei voller Polizei, Harris tot und dessen Frau schwer verletzt. Es war nur natürlich, dass ich mich sofort aufmachte, um der unglücklichen Frau beizustehen.«

»Ich danke Ihnen für Ihre so anschauliche Darstellung«, meinte Farrell. »Es scheint mir aber, dass Sie etwas vergessen haben, etwas, das im Protokoll des Yards steht.« Er sah den Zeugen eindringlich an. »Was beobachteten Sie das Haus der Harris‘ verließen?«

»Ich habe das nicht vergessen«, entgegnete Lancaster sichtlich bedrückt, »und ich bereue es, damals eine Wahrnehmung zu Protokoll gegeben zu haben, deren ich nicht absolut sicher war. Ich möchte das heute lieber auslassen.«

»Dann werde ich das Protokoll verlesen«, drohte der Kronanwalt.

Sofort war der Verteidiger auf den Beinen.

»Einspruch!«, rief Tyler. »Die Verwendung von Polizeiprotokollen als Beweismittel ist verboten.«

»Einspruch stattgegeben«, entschied Sir Reginald umgehend.

»Dann machen wir es eben anders«, reagierte Farrell ärgerlich. »Als Sie gegen zwei Uhr das Haus Nummer 69 in der ›Stanhope Street‹ verließen, war da die Straße leer?«

»Nein.«

»Was haben Sie gesehen?«

»Mehrere Gespanne.«

»Wo befanden sich die?«

»Zwei davon ungefähr fünfzig Yards entfernt auf der gleichen Straßenseite und eines ungefähr zehn Yards von dem Haus gegenüber.«

»Also nicht weit von Nummer 69.«

»Ja.«

»Was war das für ein Gespann?«

»Ein dunkelgrüner Einachser … ein Pferd.«

»War die Kutsche leer?«

Es war offensichtlich, dass Lancaster nichts aussagen würde, zu dem er durch den Kronanwalt genötigt wurde.

»Nein.«

»Wer saß auf dem Kutschbock?«

»Ein Mann.«

»Kannten Sie den Mann?«

»Es war zu dunkel, um jemanden zu erkennen.«

»Was tat dieser Mann?«

»Er sah sich um.«

»Und als er Sie erblickte?«

»Sah er sofort in eine andere Richtung.«

»Und Sie hatten den Eindruck, dass der Mann auf dem Einachser entweder Sie oder das Haus der Harris‘ beobachtete?«

»Einspruch!«, kam es prompt von Lawrence Tyler. »Die Frage ist unzulässig.«

»Einspruch stattgegeben.«

Der Kronanwalt beugte sich jetzt weit vor.

»Und was für eine Kutsche fährt Mr. Livingstone?«

»Einen Einachser.«

»Welche Farbe?«

»Dunkelgrün.«

»Danke. Das ist vorläufig alles. Ihr Zeuge, Verteidiger.«

Tyler strich sich über seine weiße Pferdehaarperücke.

»Ich glaube Ihrer Aussage entnehmen zu können, dass Mr. Harris und Sie die jetzige Mrs. Harris gleichzeitig kennenlernten. Stimmt das?«

»Ja, das ist richtig.«

»Sie haben angedeutet, dass Mr. Harris auch nach seiner Verlobung mit anderen Frauen flirtete.«

»Ich habe ausdrücklich betont, dass ich darüber nichts Genaues weiß.«

»Aber etwas Ungenaues.«

»Nun ja, man macht sich so seine Gedanken, wenn man jemanden mit einer hübschen Frau auf der Straße sieht.«

»Sie können mich gelegentlich auch mit einer attraktiven Frau spazieren gehen sehen, ohne dass ich ein Verhältnis mit ihr habe.«

Im Publikum wurde gekichert. Lancaster reagierte verlegen.

»Sie selbst sind Junggeselle?«

»Ja.«

»Wir kommen nun zu dem Abend, an dem Mr. Harris Ihnen, wie Sie sagten, sein Herz ausschüttete. Sind Sie Ihrer Sache, was die Person der Frau angeht, ganz sicher?«

»Unbedingt«, beteuerte Lancaster. »Harris nannte ja ihren Namen.«

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