Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen

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Traumabedingte Spätfolgen



Eine von extremen Entbehrungen und körperlichen wie psychischen Gefahren geprägte Kindheit prädestiniert aus leicht vorstellbaren Gründen also für eine Reihe von Folgeschäden, die im Jugend- oder Erwachsenenalter als dissoziative Persönlichkeitsstörung, Borderline-Störung mit selbstverletzendem Verhalten, erhöhte Suchtgefährdung und Drogenabhängigkeit, Depression und Suizidalität bis hin zur psychotischen Vulnerabilität imponieren. Tatsächlich sind solche Erscheinungsformen möglicherweise aber nicht primär genuine psychiatrische Störungsbilder (obwohl sie es im Laufe der Zeit werden können), sondern Ausdruck einer tiefgreifenden, sequenziell in der frühen Kindheit angelegten posttraumatischen Belastungsstörung, die nicht zuletzt auch auf epigenetische Veränderungen der Genexpression und eine veränderte Herstellung von Proteinen, insbesondere Neurotransmittern und Hormonen, zurückzuführen ist.



Begleitung traumatisierter Menschen



Was bedeutet dies nun für Pädagogik, Therapie und soziale Begleitung traumatisierter Menschen?



Das Wissen um die neurobiologischen Vorgänge bei der Entstehung posttraumatischer Belastungsstörungen hat auf die Begleitung sowie Behandlung Betroffener einen großen Einfluss und ist in den letzten zwei Jahrzehnten z. T. erheblich erweitert worden. Zunächst einmal kommt es darauf an, angeblich pathologische (oder zumindest auffällige) Verhaltensweisen als normales Verhalten auf ein unnormales – möglicherweise schon lange zurückliegendes – traumatisches Ereignis zu verstehen. Allgemeine Unruhe, plötzliche aggressive Impulsdurchbrüche, das Vermeiden bestimmter Situationen u. a. m. können besser verstanden werden, wenn sie in den Kontext posttraumatischer Belastungen gesetzt werden. Das gilt selbst für Sekundärsyndrome wie selbstverletzendes Verhalten, chronisch empfundene Sinn- und Hoffnungslosigkeit oder Suizidalität als Ausdruck tiefster Verzweiflung. Auch sollte deutlich geworden sein, dass viele der zunächst unverständlich erscheinenden „emotionalen Durchbrüche“ (beispielsweise Panikattacken) verständlich werden, wenn man sie als Intrusionen nicht verarbeiteter Erlebnisse versteht. Auch Zwangsverhalten oder Phobien sowie Depersonalisationserscheinungen können besser verstanden und eingeordnet werden, wenn man sie als Schutzmechanismus vor sonst drohenden Intrusionen einordnet.



Zum anderen gelingt es erst dann, Resilienz- bzw. Schutzfaktoren zu analysieren und zu entdecken: Hierzu gehören beispielsweise erfolgreiche Bewältigungsstrategien, eine sichere Umgebung, sichere emotionale Bindungen zu Bezugspersonen, positive soziale Unterstützung etc. Deren Wichtigkeit wird erst dann deutlich, wenn man sich klar macht, welche destruktiven Potenzen eine posttraumatische Belastungsstörung hat. Das Wissen darum, dass jedes Verhalten einen „guten Grund“ (gut im Sinne von „sinnmachend“) hat, ermöglicht es, durch das Verstehen solcher Verhaltensweisen andere Alternativen zu suchen und zu finden.



Traumatherapie, Traumapädagogik



Eine der wesentlichen Erkenntnisse neurobiologischen Grundlagenwissens ist, dass vor einer Therapie die traumapädagogische Arbeit steht. Wenn wir unter Therapie das Bemühen verstehen, die traumatischen Ereignisse ins biographische Erleben und das Selbstbild des Betroffenen zu integrieren, so ist es Aufgabe traumapädagogischer Arbeit, zuvor dafür zu sorgen, dass der Betroffene trotz und mit seinen traumatischen Erfahrungen überhaupt lebens- und beziehungsfähig ist. Es hat sich seit Anfang 2000 gezeigt, dass diese traumapädagogischen Grundvoraussetzungen wesentlich wichtiger und notwendiger sind als eine therapeutisch-integrative Arbeit. Etwas überspitzt könnte man formulieren, dass man möglicherweise ohne Traumatherapie einigermaßen zurechtkommen kann, ohne eine pädagogisch begleitete Konsolidierung hingegen auf keinen Fall.



Grundlage allen pädagogischen Handelns ist das Herstellen von Sicherheit, die Reduktion und das Vermeiden von Stress, die Unterstützung von Entwicklung von Bindung und von positiven Selbsthilfen sowie die Orientierung an den Ressourcen des Einzelnen.



Safety first



„Safety first“ meint, dass die atmosphärischen Bedingungen sowie die strukturelle Klarheit unabdingbare Voraussetzungen zu einem Sicherheit gebenden Verhalten sind. Dies gilt insbesondere für sequenziell politraumatisierte Kinder und Jugendliche. Am wichtigsten ist es, sicherzustellen, dass sie keinerlei Sorgen vor erneuter Gewaltanwendung und Retraumatisierung haben müssen. Konkret heißt das, dass sie eindeutig und sicher vor Tätern geschützt werden müssen, dass das Kindeswohl vor allem andern, ggf. auch vor den Wünschen der Eltern steht, wenn Retraumatisierungen (wiederholte Vergewaltigung etc.) zu befürchten sind und dass die Entwicklung in Kindheit und Jugend unter geschützten Maßnahmen in einer wertschätzenden und Geborgenheit vermittelnden Atmosphäre verlaufen soll. Dabei reicht es nicht aus, dass eine Retraumatisierung vermieden wird – genauso wichtig sind feste und belastbare Beziehungen, die selbst dann greifen, wenn es beispielsweise intrusionsbedingt zu erheblichem eigen- oder fremdgefährdenden Verhalten kommt. Dazu gehört eine intensive Begleitung gerade auch in rezidivierenden Krisen, was einen hohen Personalschlüssel sowie eine qualifizierte Ausbildung der Pädagogen (einschließlich Supervision) erfordert. Traumapädagogik setzt Feinfühligkeit, Präsenz, angemessene Beantwortung von Signalen, Unterstützung bei der Stressregulation, sprachliche Interaktion und Resonanz, die Fähigkeit, Empathie zu empfinden und angemessen zu zeigen sowie Geduld und Selbstreflexion voraus. Der Umgang mit Krisensituationen, ein Aufflackern von traumatisierten Inhalten im Sinne von Flashbacks usw., erfordert zudem ein hohes Maß methodischer Kompetenz – wenn es beispielsweise darum geht, autoaggressiven Verhaltensweisen oder Depersonalisationsphänomenen durch Musik oder andere sensorische Reize (scharfe Gewürze, Massagen mit Duftöl, habituierte, Sicherheit gebenden Verhaltensweisen etc.) zu begegnen.



Distanzierung und Selbstberuhigung



Es gibt zahlreiche Strategien zur Distanzierung und Selbstberuhigung wie beispielsweise Atemübungen, Körperübungen, Techniken zur Ablenkung usw., deren Anwendung allerdings eine intensive pädagogische Ausbildung und vor allem die angemessene Berücksichtigung des situativen Kontextes sowie der biographischen Vorerfahrung der Jugendlichen bedarf. Dies gilt auch für das Einüben bestimmter Ressourcen bzw. Skills, die es dem Jugendlichen ermöglichen, trotz und mit seiner immer wieder auftretenden Schwierigkeiten eine angemessene kognitive, emotionale und insbesondere soziale Entwicklung zu nehmen.



Alltags-Skills



Alltags-Skills (Geschirr abwaschen, Körperpflege, Ernährung, Auseinandersetzung in Gruppen) sind Aufgaben aller Jugendlichen, können aber beim Vorliegen eines posttraumatischen Belastungssyndroms erheblich erschwert sein. So kommt dem Krisenmanagement und der Unterstützung von Stressregulation eine besondere Bedeutung zu. Hierbei ist es notwendig, komplexe Flashback-Situationen mit Dissoziation, körperlicher Erregung, Erstarrung etc. zunächst einmal überhaupt zu erkennen und sodann durch eine gezielte Kontaktaufnahme, Aktivierung der Reorientierungskräfte, gezielte Aufklärung und Kontaktregulation dem Betroffenen zu helfen, diese schockähnliche Flashback-Situation zu bewältigen. Hierzu gibt es inzwischen gut elaborierte, sehr praxisnahe Handlungsanweisungen.



Diese und andere Überlegungen der pädagogischen Begleitung (oft über viele Jahre) ermöglichen es, dass das Gehirn unter diesen Sicherheit gebenden strukturellen und beziehungsdynamischen Gegebenheiten neue und dauerhafte Erfahrungen macht, die letztlich zu einer neuen Vernetzung neuronaler Bahnen führt. Dies geschieht top down, d. h., die präfrontale Kortex analysiert, dass Stressoren nicht unbedingt die gleiche potenzielle Gefährdung wie das damalige Trauma haben müssen und dass es andere, abgestufte und komplexere Möglichkeiten der Problembewältigung als die damals im akuten Stress gelernten gibt. Erst nach langjähriger Habituation werden die archaischen Reaktionen (völliges Überrollt-Werden von Gefühlen, Bearbeitung durch Stamm- und Zwischenhirn mit Flight-, Fight- and Freeze-Reaktion, Flashbacks und Intrusion) an Frequenz und Intensität zugunsten adäquaterer Reaktionsmuster und Problemlösungsstrategien abnehmen. Dies wiederum ermöglicht es, von Vermeidungsverhalten (Avoidance) Abstand zu nehmen – es ist nun nicht mehr nötig, panisch, phobisch oder depressiv bzw. durch Rückzug und Isolation möglichen Gefahren eines Wiedererlebens traumatischer Ereignisse auszuweichen.



Mitunter mag dies reichen. Es ist auf alle Fälle die Basis einer gelungenen Begleitung und absolut notwendig, um Menschen vor den destruktiven Folgeerscheinungen des posttraumatischen Belastungssyndroms zu schützen.



Psychoedukation und Psychotherapie



Darüber hinaus kann, wenn der Betroffene es wünscht und der fürihn subjektiv richtige Zeitpunkt gekommen ist, entweder durch Psychoedukation oder durch therapeutische Maßnahmen im eigentlichen Sinne versucht werden, die traumatischen Ereignisse ins bewusste Erleben zu reintegrieren. Dies kann aber erst geschehen, wenn genügend emotionale Sicherheit, Vertrauen in die Selbstwirksamkeit des eigenen Tuns sowie die Beziehung zu anderen Menschen (u. a. den Therapeuten) sowie die Erfahrung, in tatsächlicher Sicherheit vor weiteren Traumen zu sein, vorliegt. (Jemand, der permanent damit rechnen muss, wieder verfolgt, gefoltert, vergewaltigt oder körperlich missbraucht zu werden, kann und sollte sich also nicht auf eine Therapie einlassen, bevor diese äußeren Gefährdungen ausgeschlossen sind).



Traumatherapeutische Ansätze



Bei einer weiterführenden, letztlich auf Integration des traumatischen Erlebens ausgerichteten Psychotherapie stehen vor allem die traumafokussierte kognitiv-behaviorale Therapie (Tf-KBT,

Landolt 2008

), das Eye-Movement-Desensitization-and-Reprocessing (EMDR;

Hensel 2007

), die Narrative Expositionstherapie für Kinder (Kidnet,

Ruf et al. 2008

), die Traumazentrierte Spieltherapie (

Weinberg / Hensel 2008

) sowie Psychodynamisch-Imaginative-Traumatherapie (PITT;

Appel-Ramp 2008

) zur Verfügung. Sie alle sind inzwischen recht gut evaluiert, haben einige Spezifika, gleichzeitig aber einige Grundprämissen, die am Beispiel der trauma-fokussierten kognitiv-behavioralen Therapie kurz erläutert werden sollen.

 



Ansatz einer jeden Therapie ist der Aufbau stabiler Beziehungen, der absolute Schutz vor Retraumatisierungen (auch durch fehlgeschlagene oder inadäquate Therapien!) und die emotionale, soziale und körperliche Stabilisierung. Erst dann kann im Rahmen von Psychoedukation auf einige generelle Aspekte eines traumatischen Geschehens eingegangen werden. Die hierbei auftretenden Affekte sollten erkannt und benannt sowie im Rahmen von Entspannungsverfahren und anderen, in der pädagogischen Arbeit bereits kennen gelernten Skills, effektiv reguliert werden können. Konkret heißt dies, dass bei der Begegnung traumatischer Erinnerungen die damit verbundenen Gefühle immer wieder bearbeitet werden sollten, damit die Konfrontation mit dem Trauma nicht wieder übermächtig wird oder gar zu erneuten Intrusionen führt (dies würde, wie im biologisch orientierten Teil dieses Kapitels gezeigt, zu einer Retraumatisierung und zu einer Festigung der dysfunktionalen neuronal-strukturellen Verbindungen führen). Traumaexposition (die Konfrontation mit traumatischem Erleben oder beispielsweise mit Orten, an denen das Trauma stattgefunden hat, das Ansehen von Fotos etc.), aber auch das Traumanarrativ (also Erzählungen vom traumatischen Erleben) sollten also sehr vorsichtig und unter Berücksichtigung dessen, was der Betroffene verkraften kann, stattfinden. Bei der Screen-Technik werden Betroffene beispielsweise aufgefordert, Teile ihres traumatischen Erlebens wie in einem Film zu erzählen, wobei sie den Film anhalten und damit das szenische Geschehen verlassen können und sollen, wenn sie beispielsweise Gefühle wieder zu übermannen drohen. Neben der Identifikation und Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken (beispielsweise des Gedankens, dass von allen Männern sexuelle Gefahr ausgeht) liegt das Ziel der Traumatherapie auch in dem Einüben alternativer Verhaltensweisen und Copingstrategien sowie der langsamen Integration des traumatischen Geschehens in das bewusste Erleben. Aber der entscheidende Punkt ist sicherlich, dass ein solches Prozedere letztlich zur emotionalen Stabilisierung beitragen muss. Tut es das nicht, ist die biographische Konfrontation mit den ursprünglichen Traumen also zu belastend, droht die Gefahr einer weiteren, jetzt iatrogenen (durch den Therapeuten verursachten) Traumatisierung.



Zusammenfassend können wir also festhalten, dass das Wissen um die neurobiologischen Vorgänge im Gehirn im Gefolge eines schweren Traumas bzw. schwerer sich wiederholender Traumata notwendig und hilfreich ist, um Symptome und dysfunktionale Entwicklungen über lange Phasen des Lebens besser zu verstehen und einzuordnen. Darüber hinaus verhilft uns dieses Wissen zu der Erkenntnis, dass es im Wesentlichen um eine Stabilisierung vertrauenswürdiger Beziehungen, eine klare Strukturierung, das Schaffen von Vertrauen in die eigenen Kräfte und insbesondere den bleibenden, nachhaltigen und absolut verlässlichen Schutz vor weiteren (Re-)Traumatisierungen geht. Weiterhin wird verständlich, dass dies die Voraussetzungen für weitergehende, integrative psychotherapeutische Verfahren sind – die bei Monotraumen möglicherweise relativ schnell, bei tiefgreifenden, frühkindlichen und sequenziellen politraumatischen Verletzungen hingegen möglicherweise erst nach langer Zeit psychischer Stabilisierung zur Anwendung kommen sollten.





Auf einen Blick



■ Existenzielle, lebensbedrohliche Stressoren können zu Traumen führen, bei denen die Reaktionen des Individuums über die üblichen Stressreaktionen (flight-and-fight-reaction, freezing) hinausgehen. Traumatische Reaktionen sind als lebenserhaltende und somit normale Reaktionen in unnormalen (nämlich extrem bedrohlichen) Situationen anzusehen.



■ Vor allem frühkindliche Traumen sowie sequenzielle Traumatisierungen können tiefe neurobiologische und seelische Spuren hinterlassen.



■ Ein posttraumatisches Belastungssyndrom ist durch Übererregung (hyperarousal), Intrusionen und Flashbacks, Vermeidungsverhalten (Konstriktion) und Veränderungen von Kognition und Emotion gekennzeichnet. Dissoziative Symp tome können hinzukommen.



■ Safety first: Am Anfang aller Kriseninterventionen bei Traumatisierungen steht die Sicherheit: Verlässlicher und dauerhafter Schutz vor weiterer Traumatisierung.



■ Traumabedingte Spätfolgen können – neben der posttraumatischen Belastungsstörung – auch als dissoziative Persön - lichkeitsstörungen, Borderline-Störungen mit selbstverletzendem Verhalten, erhöhte Suchtgefährdung, Angststörungen, Depression, Suizidalität oder erhöhte Psychosegefährdung auftreten.








Multiple-Choice-Fragen zu diesem Kapitel finden Sie unter testfragen. reinhardt-verlag.de








Weiterführende Literatur



Courtois, C. A., Ford, J. D. (eds.) (2009): Treating Complex Traumatic Stress Disorders. An Evidence-Based Guide. Guilford Press, New York



Ehring, T., Ehlers, A. (2012): Ratgeber Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung. Informationen für Betroffene und Angehörige. Hofgrefe, Göttingen



Friedman, M. J., Keane, T. M., Resick, A. P. (2014): Handbook of PTSD. Science and Practice. 2nd ed. Guilford Press, New York



Poijula, S., Williams, M. B. (2013): The PTSD Workbook. Simple, Effective Techniques for Overcoming Traumatic Stress Symptoms. New Harbinger Publications, Inc., Oakland



Raja, S. (2012): Overcoming Trauma and PTSD: A Workbook Integrating Skills from ACT, DBT and CBT. New Harbinger Publications, Inc., Oakland



Shapiro, F., (2001): Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR): Basic Principles, Protocols, and Procedures, 2nd ed. Guilford Press, New York





2 Interventionen



2.1 Erste Hilfe und lebensrettende Maßnahmen



2.1.1 Kontext



Lebensbedrohliche Situationen



In unterschiedlichen Situationen können Sozialarbeiterinnen, Pädagogen oder Psychologinnen mit lebensbedrohlichen Situationen von Klienten konfrontiert werden, in denen es gilt, lebensrettende Maßnahmen und Erste-Hilfe-Maßnahmen durchzuführen. Dies gilt beispielsweise für Vergiftungen (Intoxikationen), aber auch für schwere Entzugserscheinungen bei Alkohol oder anderen Drogen. Vergiftungen finden sich möglicherweise auch bei suizidalen Klienten. Bewusstlosigkeit, Atemprobleme bis hin zum Atemstillstand sowie Störungen der Herz-Kreislauf-Funktionen bis zum Herz-Kreislauf-Stillstand erfordern unmittelbare lebensrettende Maßnahmen und sind beispielsweise nach Unfällen, Schocksituationen, Schädel-Hirn-Traumen u. a. m. zu gewärtigen.



Lebensbedrohliche Situationen bei Kindern



Bei bewusstlosen Kindern ist zusätzlich an Gewaltanwendung, beispielsweise im Rahmen einer Kindesmisshandlung, zu denken.



Während Hyperventilation im Wesentlichen in Stress-, Krisen- und Paniksituationen auftaucht, können andere Störungen der Atemfunktion auf Allergien und Asthma, infektiöse Erkrankungen wie Pseudokrupp sowie das Verschlucken / die Aspiration von Fremdkörpern hinweisen, insbesondere im Kindesalter. Sie alle bedürfen der sofortigen Intervention.



All diese Notfälle sollten von Sozialarbeitern, Pädagogen und Psychologen als solche erkannt werden. Die weitere Aufgabe besteht darin, fachgerechte Erste Hilfe zu leisten und vor allem das Überleben zu sichern, bis weitere Hilfe durch den Rettungsdienst kommt.



Aufgaben des Ersthelfers



Die Aufgabe des Krisenhelfers ist in akuten Notfallsituationen die eines Ersthelfers. Zunächst gilt es, sich einen Überblick zu verschaffen und Sicherheit für sich und alle Beteiligten zu erreichen – beispielsweise einen Unfallort abzusichern. Es ist wichtig, sich selbst nicht in akute Gefahr zu begeben. So sollte man sich einen Überblick darüber verschaffen, ob noch weitere Gefahren (Auffahrunfälle, ausströmendes Gas, drohende Gewalteinwirkungen etc.) drohen, und wie man sich und andere davor schützen kann. Sodann gilt es, frühzeitig Hilfe anzufordern (Notruf 112). Sich selbst und den Betroffenen kann man vor gegenseitigen Infektionen schützen, indem man Einmalhandschuhe und (bei Mund-zu-Mund-Beatmung) ggf. eine Beatmungsfolie benutzt. Hilfreich ist auch, ein Alkoholgel zur Reinigung der Hände mit sich zu führen. Ansprechbare Betroffene sollten beruhigt und getröstet werden, in klaren und verständlichen Worten sollten Sie ihnen mitteilen, dass Hilfe angefordert ist und welche Erste-Hilfe-Maßnahmen Sie anwenden. Soweit möglich, können die Ursachen für Verletzung oder Erkrankung kurz erfragt werden. Ansonsten geht es um eine schnelle, adäquate Hilfe, wobei insbesondere lebensbedrohliche Zustände erkannt und behoben werden müssen.



Ersthelfer sollten ihre Reaktionen und Emotionen unter Kontrolle haben und nicht in Panik geraten. Es gilt, ruhig und logisch zu handeln und dabei freundlich und klar mit dem Betroffenen zu reden. Bis zum Eintreffen des Rettungsteams sollte der Klient nicht verlassen werden.



Um zielgerichtet und effektiv auch in Notsituationen zu handeln, ist es unbedingt notwendig, einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert zu haben und die Ausbildung regelmäßig aufzufrischen. Je nach Arbeitsplatz (Streetwork in der Drogenszene, Beratung suizidaler Menschen, Arbeit in der stationären oder ambulanten Psychiatrie etc.) sind darüber hinaus noch Kompetenzen und Wissen über spezielle Notfälle nötig – beispielsweise das Erkennen von Vergiftungserscheinungen bei Drogen, das Beurteilen von Erregungszuständen bei Psychosen oder Hinweise auf selbstverletzendes Verhalten im Rahmen von Jugendkrisen (hierauf wird in den einzelnen thematischen Kapiteln dieses Buches ausführlicher eingegangen).



Beachtung eigener Bedürfnisse



Auch die eigenen Bedürfnisse sollten beachtet werden. So gilt es, sich auch der eigenen Ängste, Krisen und Interventionstabus frühzeitig bewusst zu werden. Das Durchspielen von Gefahrensituationen und der Erste-Hilfe-Kurs können durch das Einüben von praktischen Fähigkeiten, das Sich-bewusst-Machen von Hemmungen und Ängsten, die Reflexion mit Trainern, Anleitern und Peers sowie das fundierte Faktenwissen erheblich zu einem gezielten und sicheren Krisenmanagement beitragen.



2.1.2 Grundlagen



Egal, welche psychosozialen, physikalischen oder biologischen Traumen eine lebensgefährliche Situation herbeiführen – im Endeffekt sind es stets drei Systeme, die angegriffen werden und deren Funktionsausfall das Leben bedrohen: Das Herz mit dem Herz-Kreislauf-System, die Lunge und das Atemsystem sowie das Gehirn mit dem zentralen Nervensystem. Daher soll zunächst kurz auf alle drei Systeme und ihre möglicherweise lebensbedrohlichen Funktionsausfälle eingegangen werden.



Atmungssystem



Das Atmungssystem besteht aus den Atemwegen (Mund und Nase, Rachen, Kehlkopf, Luftröhre sowie die Bronchien und ihre kleinen Verzweigungen, die Bronchiolen in der Lunge). Innerhalb der Lunge befinden sich die Alveolen (Lungenbläschen), in denen der Gasaustausch stattfindet. Gesteuert wird die Atmung über das vegetative Nervensystem vom Stammhirn. Etwa 12- bis 15-mal pro Minute atmet ein gesunder Erwachsener, die Frequenz bei Kindern beträgt etwa 20 bis 40 Atemzüge pro Minute. Die Atemfrequenz kann bei Atemnot oder Stress, also auch in Krisen, erhöht sein.



Atemnot



Atemnot kann sich durch Schwierigkeiten beim Ausatmen (Exspiration) äußern, was beispielsweise bei Asthma der Fall ist. Schwierigkeiten bei der Einatmung weisen häufig auf Erstickungssyndrome bzw. Verlegen der Atemwege hin. Störungen der Atmung können bei akuten und chronischen infektiösen Atemwegserkrankungen (als Notfall im Kindesalter ist vor allem an den Pseudokrupp zu denken), als allergische Reaktionen (Asthma Bronchiale), als Verlegung der Atemwege (beispielsweise bei Bewusstlosigkeit, Rückfall der Zunge, Erlöschen des Husten- und Atemreflexes), Aspiration von Erbrochenem sowie Erstickung (beispielsweise durch Gaseinwirkung, Erdrosselung) oder Vergiftung (beispielsweise im Rahmen von Drogennotfällen oder in suizidaler Absicht) vorliegen. Häufig treten Notfälle der Atmung in Kombination mit Bewusstlosigkeit und Herz-Kreislauf-Störungen auf und können zu Atem- sowie Herz-Kreislauf-Stillstand führen.

 



Herz-Kreislauf-System



Im Mittelpunkt des Herz-Kreislauf-Systems steht das Herz. Zieht sich dieser aus speziellen Muskelfasern bestehende Hohlmuskel zusammen, so wird das Blut in den Körper gepumpt. In der Ruhephase strömt das Blut zum Herz zurück, wobei dieser Vorgang durch Venenklappen unterstützt wird, während Ventilfunktionen den Rückfluss nur in eine Richtung ermöglichen. Die Herzfrequenz beträgt beim gesunden Erwachsenen in relativer Ruhe zwischen 60 bis 100 Schlägen pro Minute, bei Kindern liegt die Herzfrequenz etwa bei 120 Schlägen pro Minute. Unter Belastung kann die Herzfrequenz erheblich ansteigen.



Herz-Kreislauf-Stillstand



Kommt es aufgrund einer Herzfunktionsstörung zu einem Herz- Kreislauf-Stillstand, so ist die Sauerstoffversorgung lebenswichtiger Organe nicht mehr gewährleistet. Innerhalb weniger Minuten kommt es so zu einem beginnenden Absterben von Hirnzellen, so dass bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand unmittelbar eine Herz-Kreislauf-Wiederbelebung eingeleitet werden muss.





Gehirn und zentrales Nervensystem



Das dritte Organ, das im Rahmen unserer Betrachtungen erwähnt werden muss, ist das Gehirn als wesentlicher Bestandteil des zentralen Nervensystems. Eingebettet in drei Hirnhäute und umgeben von der Schädelkalotte, ist das Gehirn unser oberstes Steuerorgan und ist für vielfältige Funktionen der Wahrnehmung, der Informationsverarbeitung und Informationsübertragung, der Steuerung vielfältiger bewusster und unbewusster Körperprozesse, die Motorik und Feinmotorik, das Gedächtnis und viele andere kognitive Fähigkeiten zuständig.



Schädigungen des Gehirns



Schädigungen des Gehirns können durch Gewalteinwirkungen (beispielsweise als Folge von Misshandlungen), durch Vergiftungen (beispielsweise durch eine Drogenintoxikation), durch Sauerstoffmangel (z. B. durch Ersticken oder Herz-Kreislauf-Stillstand), durch Tumore und Infektionen sowie durch intrakranielle Schädigungen entstehen. Im Zusammenhang mit Notfällen sind vor allem Kopfverletzungen mit Gehirnerschütterung, Formen der Bewusstlosigkeit, Hirnblutungen (bei Babys beispielsweise nach Schütteltraumen), Krampfanfälle (bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen) sowie Schlaganfälle (vorwiegend – wenn auch nicht nur – im Alter) von besonderer Bedeutung.





Überblick verschaffen



Im Falle eines Notfalls gilt es, Prioritäten zu setzen. Wird man mit einem Notfall, Unfall oder einer Vergiftung konfrontiert, gilt es zunächst, sich und den Klienten zu sichern und vor weiteren Gefahren zu schützen. Dabei kommt es darauf an, die Ruhe zu bewahren, sich einen Überblick zu verschaffen und weitere Gefahrenquellen auszuschließen.



Lebensrettende Sofortmaßnahmen



Der nächste Schritt besteht in lebensrettenden Sofortmaßnahmen, falls diese erforderlich sind. Hierzu zählt die Notfalldiagnostik, der Notruf sowie, falls notwendig, die Herz-Lungen-Wiederbelebung. Erst dann – nach Behebung bzw. Ausschluss lebensbedrohlicher Situationen – sind weitere Schritte der Ersten Hilfe angesagt, beispielsweise eine richtige Lagerung, das Verbinden von Wunden, die Wärmeerhaltung, das Ruhigstellen von Brüchen oder die seelische Betreuung.



Nach Ankunft des Rettungsdienstes übernimmt dieser die Fortführung der Notfallbehandlung und bereitet den schonenden und zügigen Transport vor. Am Ende der Rettungskette stehen die diagnostische und therapeutische Versorgung und die Rehabilitation im Krankenhaus.



Findet man einen Menschen in einer akuten, möglicherweise lebensbedrohlichen Notfallsituation, gilt es, gezielt nach folgendem Schema vorzugehen:



Zunächst wird festgestellt, ob der Patient bei Bewusstsein ist oder nicht. Ist er ansprechbar, so wird zunächst nach bedrohenden Blutungen (im positiven Fall Blutstillung!) und Anzeichen für einen Schock (Schockbekämpfung!) gesucht. Nach dem Notruf folgen weitere Erste-Hilfe-Maßnahmen, soweit nötig.



Ist der Patient nicht ansprechbar, gilt es, den Atem zu kontrollieren. Ist die Atmung vorhanden, bringt man den Patienten in die stabile Seitenlage, verständigt den Notdienst und kontrolliert die Atmung regelmäßig. Bei nicht vorhandener Atmung ist unverzüglich (nach der Veranlassung des Notrufs) die Herz-Lungen-Wiederbelebung einzuleiten. Nach dieser Übersicht wollen wir uns nun den lebensrettenden Maßnahmen und der Ersten Hilfe im akuten Notfall im Detail zuwenden.



2.1.3 Akute Notfallsituationen, Erste Hilfe und lebensrettende Maßnahmen



Allgemein werden Notfallmaßnahmen in Basismaßnahmen (Basic Life Support, BLS) und erweiterte Maßnahmen (Advance Life Support, ALS) eingeteilt. Letztere werden von Spezialisten (Rettungssanitätern, Notfallärztinnen) durchgeführt, erstere sind die Aufgabe einer jeden Ersthelferin, also auch Sozialarbeiterinnen oder Pädagoginnen, die mit einem Notfall konfrontiert werden. Auf sie soll folglich näher eingegangen werden (vgl. auch Malteser Hilfsdienst 2012).



Überprüfung von Bewusstsein und Atmung



Beim Auffinden eines bewusstlosen Patienten geht es nach dem Absichern der Notfallstelle darum, sich einen kurzen Überblick zu verschaffen und auf lebensbedrohliche Zustände aufmerksam zu werden. Zunächst muss das Bewusstsein überprüft werden, indem der Patient angesprochen wird und, wenn dies erfolglos ist, vorsichtig an den Schultern bewegt wird. Reagiert er nicht, ist er bewusstlos. In diesem Fall wird die Atmung überprüft, indem man sich neben den Patienten kniet, mit der einen Hand den Unterkiefer nach vorne zieht, mit der anderen Hand die Stirn festhält, sich über den Kopf des Patienten beugt und durch Sehen, Hören und Fühlen beurteilt, ob Atmung vorhanden ist.



Stabile Seitenlage



Ist der Patient bewusstlos, atmet jedoch, so wird er in die stabile Seitenlage gebracht, wobei es besonders wichtig ist, dass der Mund die unterste Stelle des Körpers einnimmt, damit Erbrochenes ablaufen kann, vor allem aber die Zunge in eine Position kommt, bei der sie die Atemwege nicht länger verlegt. Ist der Patient bewusstlos und atmet nicht, so wird zunächst versucht, die Atemwege freizulegen (insbesondere die Zunge in eine die Atemwege nicht verlegende Position zu bringen). Mit dem sog. „Essmarch-Handgriff“ wird der Kopf überstreckt, der Unterkiefer nach vorne geschoben und der Mund geöffnet. Kommt die Atmung in Gang, bringt man den Patienten in die stabile Seitenlage. Ist dies nicht der Fall, muss die Herz-Lungen-Wiederbelebung unmittelbar eingeleitet werden. Prinzipiell besteht diese Maßnahme aus der Mund-zu-Mund- (oder Mund-zu-Nase-) Beatmung, der Herzdruckmassage sowie der Defibrillation (falls möglich).



Atemspende



Bei der Mund-zu-Mund-Beatmung wird der Kopf überstreckt, wobei eine Hand unter dem Nacken, eine andere an der Stirn liegt, gleichzeitig die Nase verschlossen und der Mund geöffnet wird. Die Lippen des Atemspenders müssen die Lippen des Patienten fest umschließen, und nach normalem Einatmen wird die Luft langsam in den Mund des Patienten geblasen, wobei sich der Brustkorb des Patienten deutlich heben soll. Nach kurzer Kontrolle erfolgt die zweite Atemspende, bevor man zur Herzdruckmassage übergeht.



Herzdruckmassage



Bei dieser ist es wichtig, dass der am Oberkörper entblößte Patient auf einer harten Unterlage bzw. dem Boden liegt. Aus seitlich kniender Position wird der Handballen auf das untere Drittel des Brustbeins des Patienten gesetzt und der nun auszuübende Druck durch den Handballen der zweiten Hand, die darüber liegt, verstärkt. Mit durchgedrückten Ellenbogen und Schultern in senkrechter Stellung wird das Brustbein etwa fünf Zentimeter tief eingedrückt, wobei der Brustkorb nach jedem Herzdruck vollständig entlastet wird, ohne dass man den Körper des Patienten loslässt. Dreißig Mal wird der Brustkorb mit einer Frequenz von hundert Kompressionen pro Minute gedrückt (man kann beispielsweise das Lied „Staying Alive“ als etwaigen Taktgeber nehmen), wobei Druck- und Entlastungsphase etwa gleich lang sein sollen. Nach dreißig Herzkompressionen wird eine erneute Mund-zu-Mund-Beatmung durchgeführt. Dies geschieht so lange, bis der Patient wieder atmet, eine