Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen

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Kriseninterventionen in den Feldern der Pädagogik, Sozialen Arbeit und Psychologie beziehen sich auf Situationen, in denen die Alltagskrisen nicht mehr mit herkömmlichen Maßnahmen und sozialen Hilfestellungen bewältigt werden können und die unmittelbare (Lebens-) Gefährdung abgewendet wurde.

Setting

Solche psychosozialen Krisen umfassen Lebensveränderungen, Entwicklungsübergänge, schwere Verluste, Traumatisierungen oder Überforderungs- und Erschöpfungszustände. Die Atmosphäre, in der eine Krisenintervention stattfindet, spielt eine ganz wesentliche Rolle: Die Umgebung sollte so ansprechend wie möglich sein und ein würdevolles Gespräch in Augenhöhe (was beispielsweise auf Intensivstationen nicht immer ganz einfach ist) in möglichst ungestörtem Ambiente ermöglichen. Es wäre sehr hilfreich, wenn die Krisenhelferin ausreichend und exklusiv Zeit zur Verfügung stellen könnte – also Handy und Computer ausschaltet – und für einen festgelegten Zeitraum (beispielsweise eine Dreiviertelstunde) in einem ruhigen, separaten Raum allein mit dem Klienten sprechen kann. Es ist wichtig, dass der Krisenhelfer einerseits Verständnis für die (objektiv oder subjektiv) existenzielle Not seines Gegenübers hat, andererseits grundsätzlich Zuversicht ausstrahlt. Das ist naturgemäß nicht immer ganz einfach. Die notwendige Empathie des Krisenhelfers führt dazu, dass er sich der Hilflosigkeit, Verzweiflung oder Ohnmacht seines Klienten stellt.

Nähe und Distanz

Gleichzeitig gilt es, die notwendige fachliche und emotionale Distanz zu wahren oder aufzubauen, die eine Wendung der Dinge und das Entwickeln von Alternativen erst ermöglicht. Zur Regulierung von (emotionaler wie fachlicher) Nähe und Distanz gehört zudem, in Absprachen und Kontrakten nur Hilfen anzubieten, die fachlich sinnvoll und leistbar sind. Versprechen wie das, „rund um die Uhr“ erreichbar zu sein, sind dies in aller Regel nicht. Da Menschen in akuten Krisensituationen oft so verzweifelt und hilflos sind, dass sie mehr erwarten, als der Situation angemessen und möglich ist, besteht durchaus die Gefahr, dass Helfer hier überfürsorglich reagieren und – vor allem, wenn sie eine Reihe von Klienten in akuten Krisen begleiten – schnell an den Rand der eigenen emotionalen Erschöpfung bis hin zum Burnout gelangen.

Übertragungen

Schließlich können Übertragungen (also Erwartungen des Klienten an den Krisenhelfer, die sich aus eigenen biographischen Krisen speisen) sowie Gegenübertragungen (Reaktionen und Erwartungen an sich selbst, die sich aus der Biographie des Helfers speisen) zu Verstrickungen führen, die einer Klarheit schaffenden Situationsanalyse und zielgerichtetem, ressourcenorientiertem und problemlösendem Handeln abträglich sind.

Daher ist in jedem Fall nicht nur eine methodisch-fachliche Ausbildung des Pädagogen, Sozialarbeiters oder Psychologen, der Menschen in Krisen beistehen will, erforderlich. Zudem bedarf es auch gezielter und reflektierter Selbsterfahrung im Umgang mit eigenen Krisenerfahrungen. Und schließlich sollten sich Krisenhelfer auch nicht scheuen, selbst regelmäßig professionelle Hilfen im Sinne von Supervision oder Intervision (also kollegialer Beratung) in Anspruch zu nehmen.

2.2.3 Durchführung einer Krisenintervention

Im Folgenden soll eine Übersicht über mögliche Explorationen und Interventionen im Rahmen einer Krisenintervention gegeben werden.

Ablauf einer Krisenintervention

1. Abklärung, ob ein akuter Notfall mit unmittelbarer Gefährdung oder Lebensgefahr vorliegt

2. Herstellen einer emotional entlastenden, tragfähigen Beziehung

3. Exploration und Klärung der akuten Krisensituation, bisheriger Lösungsversuche und möglicher Alternativen

4. Situationsbeurteilung, Identifikation und Definition der dringlichsten Probleme und Kontrakt

5. Umgang mit Gefühlen und Emotionen

6. Konkretisierung und Durchführung eines Handlungsplans zur Problembewältigung

7. Soziale und direkte Unterstützung

8. Abschluss der Krisenintervention

9. Folgegespräch und Abklärung weiterführender Maßnahmen

Abklärung unmittelbarer Gefährdung

Zunächst geht es darum, abzuklären, ob ein akuter Notfall mit unmittelbarer Gefährdung oder Lebensgefahr vorliegt. Ist der Betroffene ansprechbar, klar verständlich, und kann man seiner Argumentation folgen? Gibt es Anzeichen einer akuten körperlichen Schädigung oder Beeinträchtigung? Ist der Betroffene (eventuell zunehmend) verwirrt oder hochgradig / zunehmend erregt? Gibt es Anzeichen von Aggressivität, Fremdgefährdung oder Eigengefährdung (im Sinne selbstverletzenden Verhaltens)? Besteht Suizidgefahr? Gibt es Hinweise auf Verletzungen, Vergiftungen, Wasserverlust (Dehydratation), lebensbedrohliche Erkrankungen?

Je nach Arbeitsfeld, Situation und spezifischer Problematik können die Gefährdungen sehr unterschiedlicher Art sein, wenn es sich beispielsweise um Kindesmisshandlung, Drogenintoxikation, häusliche Gewalt oder eine psychotische Krise handelt. Daher wird in den jeweiligen thematischen Kapiteln konkret auf spezifische Notfallsituationen und Gefährdungen eingegangen. Liegt eine Notfallsituation in diesem Sinne vor, muss unmittelbar spezifische Hilfe organisiert werden – je nach Notfall sind also Polizei, Rettungsdienst, Notfallpsychiater etc. zu informieren. Bis dahin obliegt dem Krisenhelfer die Aufgabe, bei Notwendigkeit lebensrettende bzw. lebenserhaltende Maßnahmen durchzuführen, in Situationen, die von Panik oder Erregung gekennzeichnet sind, so gut wie möglich beruhigend und deeskalierend zu agieren und für größtmögliche Sicherheit – für alle Betroffenen, auch für sich selbst! – zu sorgen.

Herstellung einer tragfähigen Beziehung

Ist abgeklärt, dass kein lebensbedrohlicher Notfall vorliegt, geht es im Weiteren zunächst und primär um das Herstellen einer emotional entlastenden, tragfähigen Beziehung. Der aufgewühlte, verzweifelte oder verwirrte Klient in der Krise sollte erfahren, dass er ernstgenommen, als Person respektiert und mit seinen existenziellen Sorgen nicht alleingelassen wird. Ein ausreichender Zeitrahmen, eine geschützte Atmosphäre, eine angemessene Begrüßung und die Information darüber, was man vom Krisenhelfer erwarten kann, sind hierfür wichtige Voraussetzungen. Empathisches, anteilnehmendes Zuhören, gleichzeitig angemessene strukturierende Fragen halten einander die Waage und führen zu einer ersten Klärung der dringlichsten Anliegen und dem Gefühl des Klienten, in seinen Sorgen verstanden zu werden. Besonders wichtig ist es, dass widersprüchliche Gefühle, unterschiedliche und zum Teil divergierende Aspekte bzw. Ansichten über die Problematik und mitunter fast chaotisch wirkenden Reaktionen von Klienten geäußert werden können und vom Krisenhelfer ausgehalten werden. Mitunter ist das Zuhören in einer Phase, in der (noch) keine konkrete Hilfe möglich ist, dennoch und gerade deswegen ein essenzieller Bestandteil der Krisenintervention. Auch stellvertretende Zuversicht und Hoffnung des Krisenhelfers, der zu verstehen gibt, dass er Vertrauen auf eine positive Entwicklung hat, auch wenn er akzeptiert, dass sie der Klient momentan nicht haben kann, ist hilfreich. Dabei müssen die Erwartungen des Klienten und die Angebote des Helfers realitätsbezogen bleiben. Eine vertrauensvolle Beziehung kann nur entstehen, wenn der Krisenhelfer keine Versprechen gibt, die er nicht einhalten kann, oder Klient und Helfer sich Ziele setzen, die unrealistisch sind.

Exploration

Erst, nachdem eine tragfähige Beziehung entstanden ist, kann durch gezielte Befragung die akute Krisensituation näher untersucht werden. Hierbei geht es auch darum, bisherige (und vermutlich nicht ausreichend erfolgreiche) Lösungsversuche und mögliche Alternativen zu erörtern. Zum einen geht es darum, das bisher Erfahrene in eine gewisse Struktur zu bringen und sich zu vergewissern, dass man wesentliche Probleme und Anliegen des Hilfesuchenden verstanden hat. Zum anderen können jetzt fehlende Informationen erfragt werden. So geht es beispielsweise nicht nur um die akute Krise und das Ereignis, das in den Augen des Klienten mutmaßlich diese Krise ausgelöst hat, sondern möglicherweise auch um Vorgänge und Prozesse, die im Vorfeld zu einer solchen Zuspitzung geführt haben. Auch können Folgen der Krisensituationen für das weitere Leben des Klienten (seinen Arbeitsplatz, die Familienbeziehungen, seine Gesundheit usw.) zur Sprache kommen. Vor allem aber ist die ganz konkrete Krisen- und Lebenssituation von Interesse: Wie sieht der Tagesablauf aus, wo ergeben sich konkrete Schwierigkeiten, wie gestaltet sich die unmittelbare Lebenssituation, welche kurzfristigen Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen hat der Klient? Neben der Frage, welche Unterstützung er durch Familie, Freunde oder Nachbarn bekommen kann, stehen vor allem bisherige Anstrengungen und Versuche, das Problem zu lösen, im Vordergrund. Zum einen wird sich erfahrungsgemäß herausstellen, dass der Klient eine Menge von Fähigkeiten zur Lösung anstehender Probleme (sog. Coping-Strategien) mitbringt, was positiv zu konnotieren ist. Andererseits wird in vielen Krisensituationen deutlich, dass bisherige Coping-Strategien aktuell nicht mehr ausreichen oder sogar zur Problemlösung ungeeignet sind.


Hat ein Jugendlicher bisher gelernt, vor allem durch Leistung (oder durch Imponierverhalten) Beziehungen zu gestalten oder sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren, so wird er möglicherweise im Trennungsschmerz von seiner Freundin erleben, dass er mit genau diesen Strategien die Beziehung nicht aufrechterhalten und die Krise nicht lösen kann. Andere Fähigkeiten, wie beispielsweise fürsorgliches Verhalten, Hingabefähigkeit, Humor und dergleichen, sind ihm vielleicht nicht im Bewusstsein oder müssen erst weiterentwickelt werden.

 

Situationsbeurteilung und Kontrakt

Die Untersuchung und Klärung der akuten Krisensituation führt schlussendlich zur Situationsbeurteilung, Identifikation und Definition der dringlichsten Probleme sowie einer Arbeitsabsprache, dem Kontrakt. In der Regel versucht die Krisenhelferin, die Situation zu beurteilen. Die Problemdefinition und insbesondere die Gewichtung der Probleme wird hingegen von Klientin und Krisenhelferin gemeinsam vorgenommen. Bei der Beurteilung der Gesamtsituation geht es u. a. darum, die aktuell im Vordergrund stehende Problematik mit Hintergrundproblemen in Verbindung zu bringen – der akute Liebeskummer am Ende einer Beziehung mag überschattet sein von der grundlegenden Befürchtung, nicht liebens- oder beziehungsfähig zu sein, da man vielleicht des Öfteren Ähnliches erlebt hat.

Auslöser und Ursachen einer Krise

Auslöser einer Krise sind nicht immer identisch mit den ihr zugrundeliegenden, vielfältigen Ursachen. Mitunter ist ein akuter Verlust, eine akute Kränkung oder eine aktuelle, plötzliche Herausforderung nur der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Darüber hinaus sollte die Krisenhelferin versuchen einzuschätzen, inwieweit der Klient zu einer Kooperation in der Lage ist, ob eine ambulante Krisenhilfe ausreicht und in welcher Form dies am besten geschieht. Anschließend geht es darum, gemeinsam mit dem Klienten das wesentliche Problem bzw. die drängendsten Probleme zu identifizieren und zu benennen. Zwar werden hier auch Zusammenhänge zwischen Ereignissen und dem Prozess, der zur akuten Krise geführt hat, und der aktuellen Krisensituation sowie ihren möglichen Auswirkungen thematisiert, doch noch wichtiger ist die Erörterung der Frage, welche Probleme unmittelbar gelöst werden sollten, da sie die dringlichsten sind, und welche Probleme am ehesten erfolgreich gelöst werden können. Diese beiden Komplexe sind nicht identisch. Die für den Klienten dringlichsten Probleme können oft nicht aus eigener Kraft gelöst werden. In diesem Fall ist es hilfreich, wenn der Krisenhelfer aktiv, strukturierend und unterstützend tätig wird, handelt und Entscheidungen fällt, wenn es der Klient zurzeit nicht kann. Solche Probleme können konkreter materieller Art sein (Rechnungen müssen bezahlt, die Ernährung sichergestellt, Anträge bei Behörden eingereicht werden). Aber auch emotionale oder soziale Probleme müssen möglicherweise in Angriff genommen werden – hierzu gehören Krankmeldungen, räumliche oder emotionale Trennungen bei drohenden gewaltsamen Auseinandersetzungen, akute Streitschlichtung usw.

Anders verhält es sich bei Problemen, die der Klient vielleicht nicht für die dringlichsten hält, die er aber – zumindest ansatzweise – bereits aus eigener Kraft (wenn auch vielleicht mit Hilfe) lösen kann.


Eine suizidal gefährdete Jugendliche hatte Schulprobleme, akuten Liebeskummer und erhebliche Schwierigkeiten mit ihren gewalttätigen Eltern. Die Schulschwierigkeiten waren zwar nicht ihr drängendstes Problem, doch es gelang ihr sehr schnell, aus eigener Kraft Beziehungen zu Mitschülerinnen zu ändern und erste Leistungserfolge bei Prüfungen zu erreichen.

Bereits kleine Erfolge – und sei es nur bei eher peripheren Problemen – stärken das Selbstvertrauen und lenken den Blick, der in der akuten Krisensituation verloren gegangen war, auf vorhandene Ressourcen und Kräfte.

Äußerer und innerer Kontrakt

An die Situationsbeurteilung und die Problemdefinition schließt sich die Arbeitsabsprache, der Kontrakt, an. Dieser kann eingeteilt werden in einen inneren und einen äußeren Kontrakt. Letzterer umfasst die Struktur und den zeitlichen Ablauf der Maßnahmen – wann, wie oft und zu welchem Zeitpunkt werden Treffen vereinbart? Was geschieht, wenn Treffen nicht eingehalten werden? Kommen auf den Klienten Kosten zu, und wer ist der Kostenträger? Zu welchen Zeiten ist der Krisenhelfer in akuten Notsituationen erreichbar, zu welchen nicht, und wo kann der Klient andernfalls Hilfe bekommen?

Der innere Kontrakt befasst sich mit der Frage, was im Laufe der Krisenintervention geschehen soll. Nicht nur die Erwartungen des Klienten, sondern auch die Sichtweisen des Krisenhelfers, die in Situationsbeurteilung und Problemdefinitionsphase erarbeitet wurden, sind die Basis hierfür. Dabei sollten Teilziele formuliert und konkretisiert werden. Vor allem sollten die Ziele realistisch sein, um keine unangemessenen Erwartungen zu wecken, die Enttäuschungen geradezu herausfordern. Und schließlich geht es darum, zu verdeutlichen, dass das Ziel einer Krisenintervention „lediglich“ die Überwindung der Krise selbst ist. Der Klient soll von seiner akuten Not befreit werden, wieder handlungs- und entscheidungsfähig sein und in ähnlichen Situationen zukünftig eigenständig mit solcher Art gelagerten Problemen umgehen können. Eine Krisenintervention ist also inhaltlich-thematisch sowie zeitlich begrenzt. Sollte dies nicht ausreichen, sind möglicherweise andere, weitergehende Maßnahmen wie pädagogische Förderung, soziale Veränderungen (z. B. betreutes Wohnen, Umschulung etc.) oder eine Psychotherapie hilfreich bzw. erforderlich. Diese Begrenzung der Krisenintervention sollte im Kontrakt eindeutig thematisiert werden.

Umgang mit Emotionen

Kommen wir zum Umgang mit Gefühlen und Emotionen. Erfahrungsgemäß werden Krisensituationen von erheblichen Gefühlsschwankungen und überbordenden Gefühlen, vor allem Angst bis hin zur Panikattacke, Erregung, Ärger und Aggression, Trauer bis hin zur Depression, aber auch Scham- und Schuldgefühlen begleitet.

Zunächst einmal ist es wichtig, dass Krisenhelfer dies aushalten, ohne sofort zu versuchen, dies zu verändern. Allein die Akzeptanz der Tatsache, dass der Klient unter heftigen Gefühlsschwankungen leidet, kann zu einer erheblichen Erleichterung beitragen. Es kann und sollte ihm auch verdeutlicht werden, dass es geradezu typisch und damit normal für bestimmte Krisensituationen ist, dass sie mit Angst oder Panik, mit Erregung oder tiefer Trauer bzw. Kummer einhergehen. Gleichzeitig kann konstatiert werden, dass Menschen in Krisen oft aus dem emotionalen Gleichgewicht geraten, dass sie quasi die Balance verlieren und sich schwankenden und ambivalenten, oft heftig auftretenden Gefühlen hilflos ausgeliefert sehen. Auch dies ist normal und krisentypisch. Gleichzeitig gilt es, Menschen vor unerträglichen emotionalen Zuständen zu schützen bzw. unerträgliches Leid zu lindern.

Angst- und Panikattacken

Mitunter können Angst- und Panikattacken so dramatisch sein, dass beruhigende, meditative oder muskelentspannende Maßnahmen nicht ausreichen und kurzzeitig eine anxiolytische Pharmakotherapie erforderlich ist. Ähnliches gilt sinngemäß für Trauer, die in Depression umschlägt.

Aggressionen

Menschen in Krisen, aber auch ihr soziales Umfeld, sind vor eigen- und fremdaggressivem Verhalten zu schützen, was bedeutet, dass emotionsbedingte Erregungszustände und insbesondere in Aggressivität umschlagender Ärger unter Kontrolle gehalten werden müssen – ggf. durch äußere Intervention, wenn der Klient hierzu nicht mehr in der Lage ist.

Letztlich geht es aber in der Krisenintervention darum, dass Menschen in der Krise ihre eigenen Gefühle wahrnehmen, sich ihrer nicht schämen, sie reflektieren und als wertvolle Zeichen ihrer Situation sehen. Gefühle legen die Welt aus, und Trauer, Angst, Zorn oder Schamgefühle können wichtige Wegweiser sein, unhaltbare Zustände als solche zu erkennen und erste Schritte der Veränderung zu initiieren. Das positive Konnotieren von Gefühlen durch den Krisenhelfer spielt hier eine recht wichtige Rolle.

Handlungsplan

Kommen wir nun zur Konkretisierung und Durchführung eines Handlungsplans zur Problembewältigung. Im Fallbeispiel wurden bereits in den ersten Krisensitzungen einige der drängenden Probleme mit Hilfe des Krisenhelfers gelöst, was zur akuten situativen und emotionalen Entlastung des Klienten und zu einer ersten Stabilisierung führte. Sollte es dem Klienten bereits gelungen sein, andere, vielleicht nicht ganz so drängende, aber leichter zu bewältigende Probleme mehr oder weniger eigenständig zu lösen, gilt es, auf diese hier aufgezeigten Fähigkeiten hinzuweisen und vorhandene Kräfte und Lösungsstrategien positiv zu konnotieren. Dies ist die Ausgangsbasis dafür, Schritt für Schritt andere Facetten der Krise in Angriff zu nehmen. Diese werden zuvor nach Dringlichkeit sowie nach Lösbarkeit gewichtet. In konkretem Tun werden nun einzelne Lösungsstrategien ausprobiert. Dies kann sich sowohl auf konkrete, materielle Belange (Renovierung eines Zimmers, Begleichen von Schulden) wie auf psychosoziale Herausforderungen (Klärung einer Beziehung, Inangriffnahme einer anstehenden Aufgabe) beziehen. Manchmal ist es hilfreich, solche Schritte zunächst als „Trockenübung“, beispielsweise in der inneren Vorstellung / Imagination oder im Rollenspiel einzuüben und sich erst schrittweise in die Realität zu begeben.

Soziale Unterstützung

Neben der Hilfe zur individuellen Problemlösung gilt es auch, soziale und konkrete Unterstützung anzubieten. Zum einen sollten durchaus auch Familienangehörige, Freunde und das weitere soziale Umfeld einbezogen werden, sofern der Klient damit einverstanden ist. Vor allem nach der akuten Phase der Krise ist ein stützendes soziales Netz sehr hilfreich, um mit den Nachwehen und Auswirkungen dieser labilen Phase besser umzugehen. Allein die Möglichkeit, wiederholt über das Geschehen zu sprechen und es zu reflektieren oder auch Sorgen und Ängste in einem vertrauten Rahmen aussprechen zu können, kann erleichternd sein. Zudem können Vorboten einer neuen Krisensituation möglicherweise frühzeitig erkannt und mit Hilfe von Freunden und Familienangehörigen in einem solchen frühen Stadium gemeinsam erfolgreich bewältig werden.

Praktische und materielle Hilfen

Und schließlich soll nicht vergessen werden, dass es neben den emotionalen und sozialen Aspekten von Krisensituationen durchaus auch ganz konkrete, materielle Herausforderungen und mitunter bittere Not gibt. Vor allem in der amerikanischen Fachliteratur, beispielsweise bei Roberts (2009, 49), wird darauf hingewiesen, dass es in der Krisenhilfe häufig auch um sehr handfeste Hilfe geht. Zu nennen wären beispielsweise das Schaffen neuen und sicheren Wohnraums, die Sicherstellung von Ernährung (beispielsweise durch Bargeld oder Gutscheine), medizinische Hilfen einschließlich physikalischer Therapie und zahnärztlicher Behandlung, Schuldnerberatung und Schuldenregulierung, Hilfen bei der Pflege, Beaufsichtigung oder Betreuung von Kindern oder gebrechlichen Menschen, unkonventionelle Hilfen, wenn Auto, Waschmaschine, Kommunikationsgeräte u. a. nicht mehr funktionieren, und dergleichen mehr. Anders als in einem Prozess der Psychotherapie, bei dem Psychotherapeuten ganz bewusst darauf verzichten, hier einzugreifen, kann es eine akute Krisensituation durchaus erfordern, dass der Krisenhelfer kurzfristig auch auf diesen Ebenen eingreift, wenn der Klient damit überfordert ist.

Abschluss der Krisenintervention

Ist der Klient emotional stabil, sein Leidenszustand auf ein für ihn erträgliches Maß reduziert, sind einige wesentliche und existenzielle Probleme erfolgreich überwunden, hat sich seine Lebenssituation spürbar zum Positiven verändert, und ist sein Selbstvertrauen gestiegen, so ist es an der Zeit, den Prozess der Krisenintervention abzuschließen.

Zum Abschluss einer Krisenbehandlung, die ja immer kurzfristig ist und nicht mit einer langfristigen Therapie verwechselt werden darf, geht es zum einen darum, die aktuelle Situation zu analysieren und zu untersuchen, was sich geändert hat. Zum anderen geht es darum, dem Betroffenen zu verdeutlichen, welchen Anteil er selbst an der Lösung der krisenhaften Situation gehabt hat, und welche neuen Ansätze und Coping-Strategien ihm nun zur Verfügung stehen. Schließlich geht es darum, sich Gedanken darum zu machen, wie man in zukünftigen, möglicherweise ähnlichen Krisen vorgeht. Der Abschied von Betroffenen und Krisenhelfen sollte bewusst gestaltet und von gegenseitiger Wertschätzung geprägt sein.

Follow-up-Gespräch

Manchmal ist die Ablösung von Klient und Krisenhelfer nicht ganz einfach, insbesondere, wenn noch nicht alle Probleme für den Klienten zufriedenstellend gelöst sind, eine starke emotionale Beziehung besteht und möglicherweise die Angst vor einem Wiederaufflackern der Krise groß ist. Daher empfiehlt es sich, ganz bewusst ein Folgegespräch (Englisch: Follow-up) festzusetzen, in dem auch abgeklärt wird, ob weiterführende Maßnahmen sinnvoll oder nötig sind. In einem solchen Gespräch, das beispielsweise einen Monat nach der Beendigung der Krisenintervention stattfinden kann, kann noch einmal erörtert werden, wie es dem Klienten aktuell geht, wie die Krise aus einem zeitlichen Abstand heraus interpretiert wird, und welche Veränderungen sich bisher ergeben haben und für die nähere Zukunft zu erwarten sind. Stellt sich heraus, dass der Klient nach wie vor in großen Schwierigkeiten ist, die er auch mit Hilfe seines sozialen Umfeldes nicht zufriedenstellend lösen kann, oder dass biographische Faktoren, tiefgreifende Belastungen, Persönlichkeitsstörungen oder psychische Grunderkrankungen zu chronischen Leidenszuständen beitragen, sollte überlegt werden, welche langfristigen und weiterführenden Maßnahmen sinnvoll und erfolgversprechend sind. Dies sind z. B. medikamentöse Hilfen, Psychotherapie (beispielsweise Verhaltenstherapie oder psychodynamisch orientierte Therapieformen), längerfristige pädagogische Maßnahmen (beispielsweise pädagogische Gruppen oder Fördermaßnahmen) und nicht zuletzt eine Veränderung der sozialen Bedingungen (beispielsweise des sozialen Umfeldes, der Wohnform oder des Arbeitsplatzes). Hier greifen also Ansätze aus Pädagogik, Psychologie und Sozialarbeit, die über die Krisenintervention hinausgehen. Diese können – je nach Krisenform und aktueller Thematik – sehr unterschiedlich sein. Die Veränderung der Lebensform nach häuslicher Gewalterfahrung gestaltet sich sicherlich anders als ein Ausstieg aus der Drogenszene, und Maßnahmen zur Förderung traumatisierter Kinder sehen anders aus als das betreute Wohnen eines Menschen, der im Rahmen einer rezidivierenden Psychose immer wieder krisenhafte Wahnvorstellungen erlebt. In den einzelnen Kapiteln zu unterschiedlichen Themen wird hierzu im Einzelnen Bezug genommen.

 

2.2.4 Methodik

Eine gezielte und erfolgversprechende Krisenintervention erfordert ein geplantes, gut vorbereitetes und reflektiertes Vorgehen sowie das Einhalten bestimmter Standards und Leitlinien. Dazu gehören u. a. interdisziplinäres Arbeiten, die Differenzierung zwischen Notfall und Krisensituation, situative und emotionale Entlastung, strukturiertes Arbeiten, Halt und Sicherheit gebende Maßnahmen, klare und dabei empathische Kommunikation u. a. m.

Darüber hinaus kann man sich gezielter Techniken oder Methoden bedienen, die mitunter nicht spezifisch für die Krisenintervention entwickelt wurden, sondern aus anderen Bereichen der Beratung, Gesprächsführung oder Psychotherapie stammen, nichtsdestotrotz unter bestimmten Bedingungen in den Rahmen einer Krisenintervention transferiert werden können.

Stabilisierende Interventionen

Stein (2009, 187 ff.) teilt spezielle Interventionsmethoden u. a. ein in solche, die der Stützung und Stabilisierung dienen, andere, die zur Distanzierung geeignet sind, sowie solche, die hilfreich zur Klärung, Konfrontation und Problemlösung sind. Supportiv (unterstützend) und stabilisierend sind alle Maßnahmen, die zunächst keine akute Veränderung des Klienten und seines Verhaltens verlangen. Die bisherigen Lösungsmöglichkeiten werden, ebenso wie andere Anteile der Krise, gewürdigt und in ihrer Bedeutung anerkannt. Die Krise wird als Chance gesehen, die Anstrengungen des Klienten als wichtiger – wenn auch offensichtlich subjektiv als nicht hinreichender – Beitrag gesehen.

Distanzierende Interventionen

Zur Distanzierung von überwältigenden Gefühlen, überbordenden Eindrücken oder anderweitig nicht abzuwendenden quälenden Gedanken können Lebens- und Erfahrungsbereiche, die dem Klienten wichtig sind, visualisiert werden. So können z. B. Gesundheit und körperliches Befinden, Familie und Freunde, Arbeit und Leistung, Freizeit und Hobby, Finanzen und materielle Sicherheit sowie moralische Werte je nach der subjektiven Bedeutung, die ihnen der Klient zumisst, als Tortendiagramm dargestellt werden. Ein anderes Diagramm kann verdeutlichen, wo der Klient subjektive Stärken oder Schwächen sieht. Dies führt zu der Erkenntnis, dass sich die Krisensituation nicht auf alle wichtigen Lebensbereiche gleichermaßen negativ ausgewirkt hat und es durchaus Bereiche und Kräfte gibt, die als Ausgangspunkt für weitere Entwicklungsschritte angesehen werden können. Die „Filmvorführung“ ist ebenfalls eine Technik, die der Distanzierung dienen kann.


Die 15-jährige Ayshe, die wegen politischer Unruhen plötzlich ihr Heimatland verlassen musste, was sie als sehr traumatisierend erlebte, stellt sich wie in einem Film Abschiedsszenen am Flughafen und traumatische Erfahrungen im Aufnahmelager vor. Dabei kann sie den Film anhalten, zurückspulen, Szenen überspringen, die Intensität der Lautstärke regeln – kurz, sie entscheidet, mit welchen Aspekten der Belastung sie sich auseinandersetzen will.

Krisentagebuch

Zur Distanzierung von Erlebnissen kann auch das Führen eines Krisentagebuchs hilfreich sein.

Dieselbe Klientin, die unter extremen Ängsten und zeitweiligen Panikattacken litt, trug in ein nur ihr zugängliches Krisentagebuch alles ein, was sie bewegte, insbesondere kritische Situationen sowie Erfolge, die sie tagsüber erlebte. In den Krisensitzungen las sie nur das vor, was sie bewusst dem Krisenhelfer offenbaren wollte. Damit hatte sie zumindest über diesen Teil des Geschehens Kontrolle gewonnen.

Rollenspiele

Rollenspiele sind ein typisches Beispiel für Interventionen, die eine Problemlösung anbahnen und vorbereiten können. Es sind sozusagen „Trockenübungen“ in einem noch geschützten Rahmen, mit denen sukzessive Verhaltensweisen und Verhaltensveränderungen eingeübt werden, bevor sie in der Realität erprobt werden. Gezielte Reflektionen, positive und verstärkende Konnotationen und zunehmend realistischere Übungen führen schlussendlich dazu, dass der Klient seine Probleme aktiv löst.

Wunderfrage

Auch die Technik der Wunderfrage, bei der beispielsweise gefragt wird, was wohl geschähe, wenn wie durch ein Wunder über Nacht alle Probleme verschwunden seien, eignet sich dazu, problemlösende Veränderungen anzubahnen. U. a. wird deutlich, dass die als krisenhaft erlebte Situation durchaus eine Funktion haben kann, dass andererseits Veränderungen, so beängstigend sie sein mögen, auch große Chancen in sich tragen.


So gab ein 15-jähriger Junge, der plötzlich an Diabetes erkrankt war und dies als Krise mit erheblichen Selbstwertproblemen erlebte, an, dass er ohne Diabetes attraktiv und leistungsfähig sei. Dann habe er eine Freundin, sei ein guter Sportler und könne jeden Beruf wählen, den er wolle Noch während er dies sagte, stutzte er und überlegte, dass er unter bestimmten Bedingungen durchaus weiter (und sehr erfolgreich) Sport treiben könne, und dass seine Beziehung zu seiner Freundin bereits vor der Erkrankung in die Brüche gegangen sei.

Eine Reihe anderer Techniken und Methoden werden in den jeweiligen thematischen Kapiteln, beispielsweise zum Thema Traumapädagogik, Familientherapie oder Krisenintervention bei selbstverletzendem Verhalten, meist verbunden mit Fallbeispielen, erläutert.

Schließlich soll betont werden, dass Techniken, Methoden oder Konzepte nur Mittel zum Zweck sind. Entscheidend ist die Beziehung zwischen Klient und Krisenhelfer sowie die respektvolle, akzeptierende, auf Autonomie und Menschenwürde ausgerichtete Grundhaltung des Krisenhelfers. So wichtig methodisches Handwerkszeug ist – entscheidend sind Offenheit, Wertschätzung und humanistische Grundüberzeugungen in der Begegnung, auch in einer akuten Krisensituation.

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