Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kohärenz

Im Zentrum von Antonovskys (1997) Untersuchungen steht der „Sinn für Kohärenz“ (sense of coherence) bzw. ein „Kohärenzgefühl“. Darunter versteht man ein durchdringendes und andauerndes, gleichzeitig dynamisches Gefühl des Vertrauens darauf, dass

■ Stimuli und Stressoren aus der inneren und äußeren Umgebung strukturiert, voraussehbar und erklärbar sind,

■ Ressourcen zur Verfügung stehen, um diesen Anforderungen zu begegnen,

■ es sich bei diesen Herausforderungen um solche handelt, die Anstrengung und Engagement lohnen.

Nach Antonovsky (1997) speist sich das Kohärenzgefühl aus drei Empfindungen:

1. der Verstehbarkeit der Situation,

2. der Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit der anstehenden Herausforderung und

3. dem Gefühl von Sinnhaftigkeit des Geschehens.

Sowohl in Stress-Situationen als auch bei Krisen unterschiedlichster Formen, nicht nur bei Krankheit, kann die Beachtung dieser Empfindungen sehr hilfreich sein: Wer z. B. bei der Diagnose einer Krebserkrankung versteht, um was es bei Erkrankung und Therapie geht, wer davon überzeugt ist, dass er die nun anstehenden Herausforderungen handhaben und bewältigen kann, und wem es schließlich gelingt, das Krankheitsgeschehen in die eigene Biographie sinnhaft einzubetten, wird wesentlich besser mit der Krisensituation und dem damit verbundenen Stress umgehen können. Psychoedukative Schulungen, Selbsthilfegruppen und Maßnahmen, die weitgehend als „Empowerment“ bezeichnet werden, setzten hier mit unterschiedlichen Methoden an, was in den jeweiligen Kapiteln konkret zu zeigen sein wird.

Stressbewältigung

Zur Stressbewältigung stehen sehr unterschiedliche Ansatzpunkte zur Verfügung. Zum einen können unnötige Stressoren beseitigt, zum anderen die individuelle Stressanfälligkeit vermindert werden. Medizinische und therapeutische Behandlungen stehen ebenso wie Maßnahmen im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe zur Verfügung, und neben der humaneren Gestaltung der materiellen und sozialen Lebensbedingungen, beispielsweise am Arbeitsplatz, liegen entscheidende Aspekte zur Stresskontrolle auf der somatischen Ebene in körperlichem Training, ausreichendem Schlaf und gesunder Ernährung, auf der psychischen Ebene in der Veränderung inadäquater Bewertungsmuster im Sinne einer realitätsangemessenen Neuorientierung, und schließlich auf der Verhaltensebene beispielsweise im Abbau von Risikoverhalten und dem Erlernen geeigneter Freizeitverhaltensweisen. Ziel solcher Maßnahmen ist es nicht, den Stress an sich abzuschaffen, da Stress ein konstituierendes Moment der Conditio Humana ist, sondern Dysstress zu reduzieren und zu kontrollieren.

Stressvermeidung

Stress kann auf unterschiedlichen Ebenen bewältigt werden. Zu nennen sind hier u. a. Stressvermeidung, Stressabbau, Coping- bzw. Bewältigungsmechanismen, soziale Unterstützung sowie spezifische Stressinterventionen bzw. therapeutische Ansätze.

Bei der Stressvermeidung gilt es zunächst festzustellen, welche Belastungen als besonders stresserzeugend erlebt werden. Generell sind eine Reihe von Faktoren und Lebensbedingungen der Moderne in besonderem Maße und überdurchschnittlich häufig stresserzeugend, beispielsweise die zunehmend erwartete Flexibilität und Mobilität im Berufsleben, permanente soziale Rollenveränderungen, physikalische Belastungen wie Lärm, Allergen- oder Umweltbelastungen, vor allem aber Arbeitslosigkeit und drohende Arbeitslosigkeit. Die aktive Vermeidung krankmachenden Stresses auch mithilfe professioneller Problemlösungen erfordert letztlich strukturelle Veränderungen. Das Arbeitsschutzgesetz, das Kündigungsschutzgesetz und eine Reihe anderer Maßnahmen auf struktureller und insbesondere gesellschaftspolitischer Ebene sind hier unerlässlich. Nur zum Teil kann auf der persönlichen Ebene hierauf Einfluss genommen werden. Immerhin kann man sich Stressoren bewusst machen, eine Reihe von Störreizen reduzieren (beispielsweise E-Mail-Benachrichtigungen deaktivieren), realistische Tagespläne erstellen, regelmäßige Arbeitspausen einlegen, in denen man auch sportliche oder entspannende Aktivitäten einplant, den Arbeitstag abschließen und die Arbeit nicht „mit nach Hause nehmen“, Aufgaben nach Wichtigkeit und Dringlichkeit kategorisieren, den eigenen Anspruch (Perfektionismus) herabsetzen, Aufgaben delegieren, sich ausgewogen ernähren und sich genügend Zeit beim Essen (außerhalb des Arbeitsplatzes) nehmen. All diese – und einige andere – Maßnahmen werden uns in Kapitel 2.4 (Burnout) noch einmal begegnen, wenn es darum geht, auch bei Krisenhelfern übermäßigen Stress und konsekutiven Burnout zu vermeiden.

Stressabbau

Beim Stressabbau ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Sport oder kontinuierliche, moderate körperliche Aktivität einen essenziellen Beitrag zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden leisten kann. Eine halbe Stunde Bewegung in angenehmer Umgebung bessert die Laune und das Selbstwertgefühl signifikant und kann Stress lindern. Die eigenen Handlungsmöglichkeiten werden optimistischer wahrgenommen, im Sport können positive Emotionen und soziales Gemeinschaftsgefühl erlebt werden, die Konzentrationsfähigkeit wird verbessert, angestaute Energie abgebaut und das Immunsystem gestärkt. Zudem kann man sich von anderen Problemen distanzieren. Auf der physiologischen Ebene kann die Herz-Kreislauf-Situation verbessert, der Abbau von Catecholaminen sowie Cholesterin gefördert und die Durchblutung von Muskulatur und Organen verbessert werden. Hilft dem einen die Bewegung und (sportliche) Aktivität, bevorzugen andere eher ruhige Entspannungsmethoden, bei denen angestaute Energien frei und muskuläre Spannungen gelöst werden. Einige werden in Kapitel 2.3 (Komplementäre Ansätze in und nach Krisensituationen) vorgestellt.

Coping- und Bewältigungsstrategien

Coping- oder Bewältigungsstrategien können, wie bereits aufgezeigt, in problemlösende sowie emotionsregulierende Coping-Strategien eingeteilt werden. Im ersten Fall versucht man, die Verhältnisse und damit die Stressursachen zu meiden, zu verändern oder zu eliminieren. Im zweiten Fall kann nicht die Situation bzw. können nicht die Stressoren geändert werden, jedoch die emotionale Reaktion darauf.

Eine Veränderung der Einstellung und damit eine Neubewertung stellt eine dritte Form des Copings dar. So kann man sich fragen, wie man selbst eine Situation sieht und wie andere sie sehen, und in einem gezielten Training, evtl. auch in Gruppenübungen, stressreduzierende Neubewertungen und Einstellungen einüben: Aus dem Postulat, alles allein bewältigen zu müssen, kann die Einstellung, um Rat zu bitten und etwas dazuzulernen, werden. Der Wunsch, von allen gemocht zu werden, kann umgewandelt werden in die Erkenntnis, es nicht allen recht machen zu können. Das Verbot, Fehler zu machen, kann zur Erkenntnis werden, dass Fehler menschlich sind. Das Vorurteil, andere seien besser oder intelligenter, kann abgelöst werden von der Erkenntnis, selbst liebenswert und tüchtig zu sein. Und anstatt bei sich oder bei anderen die Schuld für ein Problem zu suchen, kann man sich auf die Lösung des Problems konzentrieren.

Soziale Unterstützung

Dem sozialen Rückhalt und der sozialen Unterstützung kommt eine außerordentlich große Rolle bei der Stressbewältigung und Stressreduktion zu. Dabei kann soziale Unterstützung auf vier Ebenen stattfinden: Zum einen als emotionale Unterstützung (Zuneigung, Vertrauen, Zuspruch), zum anderen durch instrumentelle Unterstützung (konkrete Hilfen wie beispielsweise Hilfe im Haushalt, finanzielle Unterstützung etc.). Drittens können ihre Informationen hilfreich sein, ein Problem zu bewältigen, und zum Vierten sind bewertende Unterstützungen zu nennen, in denen Personen Wertschätzung oder Anerkennung entgegengebracht wird.

Soziale Unterstützung kann auf mehreren Ebenen ansetzen. Im einfachsten Fall kann die soziale Unterstützung einen direkten Effekt auf das Stressgeschehen haben, wenn beispielsweise ein in seiner Arbeit überforderter Mensch konkret entlastet wird. Zum Zweiten kann soziale Unterstützung auch als eine Art Puffer verstanden werden, der in allgemeinerer Hinsicht stressreduzierend wirkt. Die Möglichkeit, mit Freunden gemeinsam zu wandern, zu singen, sich auszusprechen u. a. m. kann also ein Milieu bzw. einen Puffer schaffen, der mich andere Stressoren besser ertragen lässt.

Zum Dritten kann man zwischen lebensbereichsinternen und lebensbereichsfremden Unterstützungsmodi unterscheiden. Lebensbereichsfremde Unterstützung (beispielsweise familiäre Hilfe bei arbeitsbedingtem Stress) wirkt in der Regel weniger stark als lebensbereichsinterne Unterstützung durch Arbeitskollegen.

Neben den bisher genannten Krisen und Stressreaktionen gibt es aber auch schädigende Ereignisse, die als Traumen bezeichnet werden, die so massiv sind, dass sie zu einem sofortigen Zusammenbruch aller körperlichen und seelischen Instanzen führen, die zu einer Lösung beitragen könnten. Hiermit befasst sich das folgende Kapitel.

Auf einen Blick

■ Während Eustress den Organismus zwar beansprucht, aber nicht überfordert, führt Dysstress aufgrund seiner Dauer, seines Ausmaßes sowie mangelnder Kompensationsmöglichkeiten zu emotionalen und körperlichen Überforderungen, Erschöpfung und ggf. zum Zusammenbruch.

■ Die Stadien des Dysstressgeschehens können in eine Alarm-, Anpassungs-(Adaptations-) und Erschöpfungsphase eingeteilt werden.

■ Auf der Sympathikus-Nebennierenmark-Achse der Stressreaktion kommt es unter Einwirkung von Adrenalin zur Flight-and-Fight-Reaktion.

 

■ Insbesondere bei chronischem Dauerstress kommt es unter Cortisol-Mitwirkung auf der Nebennierenrinden-Cortisol- Achse der Stressreaktion zunächst zur Anpassung an das Belastungsniveau, schließlich zur Erschöpfung.

■ Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell bildet die Grundlage zum Verständnis vieler, insbesondere psychischer und psychosomatischer Erkrankungen.

■ Man kann von problemorientierten, emotionsregulierenden und bewertungsorientierten Bewältigungs-(Coping-)Strategien sprechen.

■ Neben der Qualität und dem Ausmaß des Stressors spielen auch erlebte Bedeutung der Belastung (Herausforderung / challenge, Bedrohung / threat und Schädigung-Verlust / harmloss) sowie Selbstwirksamkeitserwartungen des Individuums eine Rolle bei Stressauswirkung und Stressbewältigung.

■ Selbstwirksamkeit, Resilienzfaktoren und Kohärenzgefühl sind zentrale Begriffe des Konzeptes der Salutogenese.


Multiple-Choice-Fragen zu diesem Kapitel finden Sie unter testfragen. reinhardt-verlag.de


Weiterführende Literatur

Hildenbrand, B., Welter-Enderlin, R. (2012): Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. 4. Aufl. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Hülshoff, Th. (2015): Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik. 3. überarbeitete Aufl. UTB / Reinhardt, München, Basel

Hülshoff, Th. (2008): Das Gehirn. Funktionen und Funktionseinbußen. Eine Einführung für pflegende, soziale, pädagogische und Gesundheitsberufe. 3., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl. Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle

Hüther, G. (2011): Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. 10. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Meichenbaum, D. H. (1991): Intervention bei Anwendung und Wirkung des Stressimpfungstrainings. Huber, Bern

1.3 Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung

Posttraumatisches Belastungssyndrom

Man spricht von einem posttraumatischen Belastungssyndrom, wenn es aufgrund eines Stressors zu Phänomenen der Intrusion, des Vermeidungsverhaltens, negativer Veränderungen von Kognition und Emotion sowie einer allgemeinen Übererregung kommt. Dissoziative Symptome können hinzukommen.

Existenzielle Stressoren

Solche existenziellen Stressoren liegen vor, wenn jemand Todesgefahr, Todesdrohung, akuter Bedrohung durch ernsthafte Verletzungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt war bzw. unmittelbarer Zeuge solcher Gewalt an anderen Menschen wurde.

Dabei kann man zwischen natürlichen und menschengemachten Stressoren bzw. Katastrophen unterscheiden. Zum Ersteren gehören beispielsweise Erdbeben oder Flutkatastrophen, zu Zweiterem Krieg, Folter, sexueller Missbrauch etc. Zudem kann man einmalige, stressende Katastrophen, von denen viele Menschen betroffen sind, von solchen Stressoren unterscheiden, die gezielt eine einzige Person betreffen. Völkermord, Flucht und Vertreibung usw. sind menschengemachte Katastrophen, von denen aber tausende Menschen betroffen sind. Anders ist dies bei schweren Verkehrsunfällen, bei sexuellem Missbrauch, Kindesmisshandlung oder existenzieller Bedrohung durch individuelle Krankheiten, beispielsweise metastasierendem Krebs.

Hyperarousal

Die drei Kardinalsymptome der posttraumatischen Belastung, die sich über Jahre (mitunter sogar Jahrzehnte) zeigen können, sind die der Intrusion, der Übererregung, der emotionalen und kognitiven Belastung sowie der Vermeidung (Konstriktion). Die Übererregung (Hyperarousal) zeigt sich in allgemeiner Unruhe, Konzentrations- und Leistungsschwäche, plötzlichen und aggressiven Impulsdurchbrüchen sowie Übersprungshandlungen und temporärer Orientierungslosigkeit, all dies ohne einen unmittelbaren und einsichtigen Anlass und in deutlichem zeitlichen Abstand vom stressenden Ereignis. Die Betroffenen erschrecken häufig in unangemessener Weise, haben Schlafstörungen, zeigen sich häufig in für die Umwelt unverständlicher Weise besorgt und hypersensitiv, irritierbar oder von einer gereizten Grundstimmung. Selbst destruktives Verhalten kann hinzukommen.

Intrusion

Zusätzlich zu diesen Zeichen der Übererregung, die häufig die Grundhaltung und das Grundverhalten betroffener Menschen prägen, kommt es von Zeit zu Zeit, oft für die Betroffenen unvorhersehbar, zu Intrusionen, dem Wiedererleben des stressenden Ereignisses / der Katastrophe oder meistens Teilen dieser Katastrophe. Bestimmte Gerüche, Orte, Bilder, Worte oder Berührungen, Verhaltensweisen oder archetypische Bewegungen können an das Trauma erinnern und die gesamte traumatische Situation wieder heraufbeschwören.

Flashback

Diese unfreiwilligen vorübergehenden Erinnerungen können im Rahmen von Albträumen, aber auch in der Phase der Wachheit auftreten und werden als „Flashbacks“ bezeichnet. Sie führen in der Regel zu Panikattacken, Hilflosigkeit, allen Zeichen extremen körperlichen Stresses (wie z. B. erhöhtem Herzschlag und Blutdruck, Angstschweiß, Engegefühl, Hyperventilation und Luftnot etc.). Darüber hinaus zeigen sich manchmal dissoziative Reaktionen (die Betroffenen haben den Eindruck, nicht sie selbst zu sein, fühlen sich wie in einer traumhaften Situation, sind subjektiv ihren Ängsten und dem Stress sowie der aktuellen Situation scheinbar völlig hilflos ausgeliefert und haben keinen oder nur verminderten Zugang zu ihren kognitiven, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten, die sie ansonsten bei der Lösung von Problemen einsetzen könnten).

Konstriktion

Das dritte Kriterium, die Vermeidung oder Konstriktion auslösender Trigger, ist als Versuch des Körpers und der Psyche zu verstehen, diese als extrem belastenden und existenzgefährdenden Situationen möglichst zu vermeiden. Psychische Abwehr, Verleugnung und Verdrängung können ebenso Zeichen eines Konstriktionsverhaltens sein wie Rückzug und Isolation, was zur sozialen Einsamkeit führt. Hinzukommen können zwanghaftes Verhalten (mitunter gepaart mit diffusen oder konkreten Ängsten), was die Lebensqualität und den sozialen Wirkungskreis erheblich einschränken kann, die eben schon beschriebene Dissoziation und vor allem Verhaltensweisen, die mit Betäubung oder Erstarrung einhergehen. Nicht zuletzt sind eine Reihe von Suchterkrankungen bei näherem Hinsehen durchaus auch als Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung zu identifizieren.

Depersonalisation

Und schließlich können kognitive und emotionale Veränderungen Ausdruck eines posttraumatischen Belastungsgeschehens sein. Dies gilt insbesondere für die Depersonalisationen, bei denen die Betroffenen sich als z. T. außerhalb befindliche Beobachter sehen, die abgelöst vom eigentlichen inneren Geschehen sind („Mir passiert das gerade nicht“, „Das ist ein Traum“).

Derealisation

Die Erfahrung der Unwirklichkeit des Geschehens oder einer gewissen Distanz („Das ist alles nicht real“) wird als Derealisation bezeichnet. Schwere Konzentrationsstörungen, scheinbar unkontrollierbare aggressive Durchbrüche, die eben schon beschriebene Isolation oder Depression tun ein Übriges, um die soziale Adaptationsfähigkeit, das adäquate emotionale Mitschwingen oder das Ausschöpfen der intellektuellen Leistungsfähigkeit der Betroffenen zu erschweren und teilweise erheblich (vorübergehend) zu vermindern.

Ursachen

Im Folgenden soll auf mögliche Ursachen dieses dramatischen Geschehens eingegangen werden.

Dabei gilt es, sich zunächst einmal grundsätzlich klarzumachen, dass eine ganz wesentliche Leistung unseres Gehirns darin besteht, auf gefährdende und mitunter lebensbedrohliche Situationen schnell und adäquat zu reagieren. Die synaptische Verschaltung unserer Hirnzellen erfolgt ein Leben lang in Reaktion und Interaktion mit äußeren, umweltbedingten Gegebenheiten, die das Gehirn über die Sinne registriert, interpretiert und – mehr oder weniger erfolgreich – so verarbeitet, dass das Individuum keinen oder möglichst geringen Schaden nimmt. Die so entstehende Verschaltung führt ihrerseits dazu, dass in ähnlichen Krisen- oder Gefahrenmomenten „schon eingefahrene Leitungsbahnen“ bereitstehen und damit Problemlösungsmodi oder Copingverhalten präjudiziert sind. Sie werden erst modifiziert oder umgeändert, wenn sie sich bei weiteren stressenden Ereignissen oder Traumen als unwirksam erweisen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass das Gehirn sich im Laufe eines Menschenlebens durch die Interaktion mit Geschehnissen in der Umwelt – insbesondere sozialen Situationen – fortwährend weiter strukturiert, wobei es sich als grundlegend plastisch erweist und uns lebenslanges Lernen und auch Umlernen ermöglicht. Andererseits hinterlassen eindrückliche Erlebnisse – und lebensbedrohliche Traumen gehören zu den eindrücklichsten Erlebnissen, die wir kennen – tiefe neuronale Spuren, was die synaptische Verschaltung und die Reaktion durch Hormone und Neurotransmitter angeht.

An der entwicklungsgeschichtlich jüngsten, hierarchisch gesehen obersten Stelle unseres Gehirns, der Präfrontal- und insbesondere periokulären Kortex, sind wir in der Lage, auf einen extremen Stressor – beispielsweise eine wütende und von drohender Gewalt gekennzeichnete Auseinandersetzung – logisch, argumentativ und bis zu gewissen Grenzen auch deeskalierend zu begegnen. Dies geschieht in der Regel durch Worte, wenngleich Mimik, Gestik, Körperhaltung, Stimmklang und Drohgebärden eine starke emotionale Beteiligung signalisieren.

Stereotypes Verhalten

Ist die Gefahr bedrohlicher, und drohen wir erheblichen Schaden davonzutragen, so reagieren wir – zwar immer noch auf Kortexebene, aber schon „eine Ebene tiefer“ – in der Regel mit Stereotypen, also eingeschliffenen Verhaltensmustern, Vorurteilen, naheliegenden Vorwürfen, Handgreiflichkeiten u. a. m. Emotionales, fast schon reflexhaftes, jedenfalls nicht nur durch kognitive bewusste Entscheidungen geprägtes Verhalten gewinnt langsam die Oberhand.

Fight-and-Flight-Reaktion

Bei einer noch größeren, existenziellen Bedrohung werden Gefühle massiver Angst bis hin zur Panik sowie massiver Wut bis hin zur Aggressionsbereitschaft im limbischen System, insbesondere in der Amygdala, zum Teil durch hippocampale Strukturen generiert. Der Hippocampus wird auch als „die Pforte zum Gedächtnis“ bezeichnet, in dem alte Erfahrungen von Kampf oder Flucht erinnert und reaktiviert werden. Unter Zuhilfenahme aller Ressourcen unseres vegetativen Systems (erhöhter Blutdruck und erhöhter Pulsschlag, die die Blutversorgung fördern, maximal erweiterter Pupille, die noch den letzten Lichtquant analysieren kann, Schweißreaktion, die das Abstrahlen von energiebedingter Hitze ermöglicht, Anspannung der Muskulatur, Aufrichtung der Haarbälge u.v.a. Parameter der akuten Stressreaktion) gehen wir körperlich, aber auch emotional in den Kampfmodus oder den Fluchtmodus (Fight-and-Flight-Reaktion). Je nach Möglichkeit, gilt es also, sich so schnell wie möglich der Gefahr durch Flucht zu entziehen, oder aber durch Kampf die bedrohliche Situation zu überwinden. Ersteres geht mit massiven Angstgefühlen, zweiteres mit den Gefühlen von Wut, Zorn oder Ärger einher.

Freeze

Ist die bedrohliche Situation völlig aussichtslos, da sie weder durch Kampf oder Flucht zu bewältigen ist, kommt es zum Stadium des Freeze, der Erstarrung, die als ein biologisch verankertes, letztes verzweifeltes Bemühen, durch Nicht-Auffallen oder eine Art Totstellreflex noch einmal davonzukommen, evolutionär erklärt werden kann. Hier stellt sich ein Gefühl der völligen Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, nicht selten mit maximaler Panik, ein. In einer solchen Situation ist man häufig desorientiert, mitunter verwirrt, man verliert wichtige emotionale und kognitive Ressourcen. Teile des Geschehens werden nicht oder nur unzusammenhängend wahrgenommen, es überwiegen die panikverstärkenden und unmittelbar bedrohlichen Eindrücke. Der Zugang zu Ressourcen und Problemlösungsstrategien ist häufig versperrt. Die Amygdala sorgt für ein maximales Erleben von Panik, während hippocampale Funktionen eingeschränkt sind, so dass wir uns später an Einzelheiten des Traumas gar nicht oder nur sehr partiell und bruchstückhaft erinnern. Die Integration des Geschehens ins Bewusstsein sowie ins Langzeitgedächtnis ist also gestört. Das gilt auch für die Integration des emotionalen Erlebens. Schlussendlich können Teile des Erlebten noch nicht einmal mehr sprachlich erfasst werden, da Wege zu den Sprachzentren in der Großhirnrinde nicht mehr in adäquater Weise zur Verfügung stehen.

 

In einer letzten Stufe der Verarbeitung werden nur noch die vegetativen Überlebensfunktionen gewährleistet.

In einer Situation, in der letztlich Zwischenhirnstrukturen oder die noch darunter liegenden vegetativen Funktionen die Führung übernehmen und die darüber liegenden, reiferen und komplexeren Hirnstrukturen völlig überfordert sind, führt dies zu den bereits beschriebenen Phänomenen der Derealisation und der Dissoziation, so dass – beispielsweise bei einer Vergewaltigung – bestimmte Aspekte des Geschehens nicht als real oder als Bedrohung des eigenen Ichs wahrgenommen oder später detailgetreu erinnert werden. Auch eine emotionale Abspaltung und relative Gefühlslosigkeit ist hier einzuordnen.

Es muss betont werden, dass diese Reaktionen und stufenweise vereinfachenden Maßnahmen unterschiedlicher Hirnareale kein pathologisches Phänomen sind. Sie sind vielmehr die normale Reaktion auf ein unnormales, lebensbedrohliches Geschehen.

Die Reize, die über unsere Sinne und verarbeitet vom limbischen System das Gehirn überfluten, signalisieren höchste Gefahr und Todesbedrohung. Mit diesen Impulsen fertig zu werden, sind die höheren kortikalen Strukturen nur bedingt in der Lage. Sind sie damit überfordert, wird der Impuls an die „nächste Etage darunter“ weitergegeben, die ein Überleben (wenn auch auf Kosten von Komplexität und zielgerichtetem Handeln) noch ermöglicht. Selbst die unterste, rein vegetative Reaktion ist also sinnvoll, stellt es doch die einzige und letzte Möglichkeit dar, trotz auswegloser und unmittelbar lebensbedrohlicher Situation eventuell doch noch zu überleben.

Reaktionen bei akutem Trauma

So sinnvoll und möglicherweise überlebensfördernd eine solche Reaktion auf ein akutes Trauma ist – sie hat allerdings zur Folge, dass sich Nervenbahnen und synaptische Verschaltungen ändern. Dies führt in der akuten Krisensituation beispielsweise dazu, dass die Betroffenen nur mit dem akuten Überleben beschäftigt sind, hingegen nicht nach gezielter Hilfe Ausschau halten können, Schwierigkeiten mit der Orientierung haben etc. In den folgenden Stunden, Tagen und Wochen (erfahrungsgemäß bis zu einem halben Jahr) werden die Schrecksituationen immer wieder erlebt und reaktiviert. Gelingt es, möglicherweise bereits in oder kurz nach der Katastrophensituation externe Hilfe bei diesem Prozess anzubieten, oder kann man wenigstens innerhalb des ersten halben Jahres auf solche Hilfe zählen, so kann ein solches Trauma bearbeitet, ins bewusste Erleben integriert und somit überwunden werden. Dies setzt allerdings voraus, dass es sich um ein einmaliges Trauma (beispielsweise ein Erdbeben oder ein Autounfall) und nicht um ein fortgesetztes Trauma (sequenzielle permanente Wiedervergewaltigung, Kriegsgefangenschaft, systematische Folter etc.) handelt und dass externe Helfer zur Verfügung stehen.

Direkt in oder nach einem Trauma ist es beispielsweise hilfreich, nach Abwendung der unmittelbaren Lebensgefahr, der Zufuhr von Atemluft (wo dies nötig ist) und Flüssigkeit, für Wärme und Ruhe zu sorgen (Schutz, Decken). Gleichzeitig ist es hilfreich, in kurzen und eindeutigen Sätzen Realität herzustellen („Sie sind jetzt in Sicherheit. Die Gefahr ist gebannt. Folgende Hilfe ist zu erwarten: […]“). Dies muss möglicherweise immer wieder, in einfacher Form, wiederholt werden, weil auf den Verwirrtheitszustand des Betroffenen Rücksicht genommen werden sollte. Aber auch Flashbacks und Intrusionen in der Folgezeit kann durch Sicherheit gebendes, erklärendes Verhalten bzw. gezielte posttraumatische therapeutische Hilfe begegnet werden.

Schwieriger ist es, wenn eine solche Hilfe auf Dauer ausbleibt und / oder es zu einer permanenten, andauernden und wiederholten Traumatisierung kommt, wie das beispielsweise in Kriegssituationen, aber auch in sozialen Situationen, die durch rezidivierende Vergewaltigungen, gewaltanwendende Familienmitglieder o.ä. geprägt sind, der Fall ist.

Sequenzielle Traumatisierung

Im Gegensatz zu einem Monotrauma sind solche politraumatischen, ja sogar sequenziellen, also aufeinanderfolgenden Traumatisierungen dadurch gekennzeichnet, dass immer wieder ähnliche oder sogar gleiche Erfahrungen gemacht werden. Dies führt schließlich dazu, dass sich die neuronalen Verschaltungen, die in der Extremsituation vielleicht lebensrettend waren, verfestigen und stabilisieren. Jedes weitere als Trauma identifizierte Ereignis verfestigt die neuronalen Synapsen, und schließlich kann bei geeigneten Triggern jedes Ereignis, jeder Geruch, jeder Anblick, jede Emotion u. U. mit dem lebensbedrohlichen Trauma assoziiert werden. Das führt dann automatisch dazu, dass das Ereignis nicht in der obersten Etage, also im frontalen Großhirn oder der weiteren Großhirnrinde, sondern direkt von den tiefsten Schichten unseres Gehirns, dem Zwischenhirn, Stammhirn und dem Vegetativum, bearbeitet wird. Der renommierte Neurobiologe Hüther (2017) benutzt das Bild eines Schachtes oder eines Aufzugs, um darzustellen, dass bei einer Verfestigung der nun dysfunktionalen zerebralen Krisenverarbeitungsprozesse bei jeder erneuten Schwierigkeit automatisch der posttraumatische Bearbeitungsmodus ausgelöst wird. Dies erklärt die Intrusionen und Flashbacks, also das permanente Wiedererleben traumatischer Ereignisse, auch in Situationen, bei denen objektiv keine oder nur sehr geringe Gefahr vorliegt, aggressive oder depressive Impulsdurchbrüche, die sich der Kontrolle entziehen, massive Ängste bis hin zu Panikattacken, Verwirrtheitszustände, dissoziative Bilder, Albträume usw. Mit jedem neuen Flashback, mit jedem neuen inadäquat verarbeiteten Trauma, erst recht aber mit jedem weiteren schweren lebensbedrohlichen Trauma, jeder weiteren Gewaltanwendung oder Vergewaltigung verschlimmern und verfestigen sich diese neuronalen Verschaltungen und Bahnen oder, um im Bild von Hüther zu bleiben, die Aufzugsschächte. Umso schwerer wird es auch, andere und neuere, angemessenere Verarbeitungsmodi zu implementieren.

Frühkindliche Traumatisierung

Neben Einzeltraumen und politraumatischen, sequenziellen seelischen Verletzungen ist drittens noch auf frühkindliche (häufig ebenfalls sequenzielle) Traumatisierung einzugehen. Frühkindliche Gewalt, Vernachlässigung / Deprivation oder sexueller Missbrauch, frühkindlicher Hunger, das Erdulden schwerster krankheits- oder kriegsbedingter Traumen am Ende der Schwangerschaft sowie vor allem im ersten, z. T. auch noch im zweiten und dritten Lebensjahr betreffen das Gehirn, das gerade erst im Aufbau ist. Fertig sind bei der Geburt lediglich die Stammhirnfunktion und zu einem gewissen Teil die Zwischenhirnfunktionen des limbischen Systems. Die darüberliegenden Schichten, insbesondere die Hirnrinde und ganz besonders der präfrontale Kortex, die u. a. für differenziertes Bearbeiten sozialer Erfahrungen und das Anbahnen adäquater Lösungsmodi im sozialen Kontext zuständig sind, bilden sich erst in den ersten Lebensjahren im interaktiven Prozess mit der Umwelt, beispielsweise den Eltern, heraus.

Trauma und Bindung

Hierbei entstehen Urvertrauen, das Gefühl der emotionalen Geborgenheit, der Selbstwirksamkeit (also der Fähigkeit, auch schwierige Situationen meistern und kontrollieren zu können), der emotionalen Regulation und der Gewissheit, seinen Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, und vor allem ein sicheres und stabiles Bindungsverhalten zu wichtigen, haltgebenden Bezugspersonen. Sind diese Bezugspersonen aber auf Dauer und wiederholt nicht in der Lage, für Sicherheit gebendes Verhalten zu sorgen oder sind sie, schlimmer noch, diejenigen, die die eigentliche Gefährdung darstellen (beispielsweise bei elterlichem sexuellen Missbrauch oder extremer Kindesmisshandlung), so werden in diesem wichtigen Entwicklungszeitraum von vornherein nur die extrem stressbelasteten Erfahrungen gemacht und die damit korrelierenden, subkortikalen Strukturen gefestigt und aufgebaut. Die betroffene Person hat gelernt, auf fast alle wesentlichen, spannungsgeladenen oder bedrohlichen Situationen im Sinne einer extremen Belastungsreaktion zu reagieren. Schlimmer noch: Auch die zerebralen Strukturen, die synaptischen Verschaltungen der entsprechenden Hirnmodule, sind erfahrungsbedingt so strukturiert, dass sich das Gehirn permanent im Ausnahmezustand der Abwehr lebensbedrohlicher traumatischer Ereignisse befindet. Dies äußert sich auch in einer veränderten und häufig erhöhten Stoffwechsellage, insbesondere was Adrenalin und Glutamat sowie einige andere aktivierende Hormone und Neurotransmitter angeht – dies oft auf Kosten beruhigender Neurotransmitter wie beispielsweise der Gamma-Aminobuttersäure.