Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen

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Ressourcen und Resilienzfaktoren

Und schließlich sind eigene Ressourcen von Bedeutung. In Kapitel 1.2 (Stress) wird noch gezielt auf Resilienzfaktoren einzugehen sein – Faktoren also, die dem Individuum Schutz vor und Widerstand gegen stresserzeugende und belastende Situationen geben. Das von Antonovsky beschriebene Kohärenzgefühl ermöglicht beispielsweise, ein (belastendes) Ereignis vorherzusehen, zu handhaben und sinnhaft einzuordnen. Andere Faktoren wie Belastbarkeit oder Widerstandskraft (eine hohe innere Überzeugung, Vieles kontrollieren zu können) oder der von Bandura geprägte Begriff der „self-efficacy“, also der Selbstwirksamkeit, werden als weitere Resilienz-Kräfte gesehen.

Coping

Auch Bewältigungsstrategien (Coping-Strategien) gehören hierzu, beispielsweise die Fähigkeit, Probleme detailliert zu analysieren und durch zielgerichtetes Handeln zu lösen (situationsbezogenes Coping), ebenso wie die Fähigkeit, Dinge, die nicht zu ändern sind, mit Gelassenheit zu tragen und mit den dadurch entstehenden Gefühlen umzugehen (emotionsregulierendes Coping).

Aber auch äußere Gegebenheiten, materielle und soziale Ressourcen spielen eine große Rolle, wenn es um die Chance der Krisenüberwindung geht. Es macht schon einen großen Unterschied, ob jemand mit gutem finanziellen Einkommen, einem stabilen sozialen Netz, in einem funktionierenden Gesundheitssystem und mit ausreichender finanzieller Ausstattung den Belastungen einer plötzlichen Krebserkrankung ausgesetzt ist, oder ob er zusätzlich zu der krankheitsbedingten Krise auch noch mit finanziellen, existenziellen Nöten, einem unzureichenden Gesundheitssystem, mangelnder ärztlicher Versorgung u. a. m. zu tun hat.

1.1.6 Krise als Chance

Krise: Gefahr und Chance

Das Wort „Krise“ besteht im Chinesischen aus zwei Zeichen, wobei das „Wey“ Gefahr und das „Ji“ Chance bedeutet. Die möglichen Gefahren (vom Entwicklungsstillstand bis hin zum lebensbedrohlichen Notfall) sind unmittelbar einsichtig – auf sie wurde bereits ausführlich Bezug genommen. Es gilt aber auch, einen Blick auf die einer Krise möglicherweise innewohnenden Chancen zu werfen. Ein Wendepunkt im Leben kann auch bedeuten, dass die Dinge sich zum Besseren wenden. Eine als krisenhaft empfundene Trennung von einem gewalttäti-gen Ehemann kann möglicherweise neue Lebenskräfte freisetzen und Lebenserfahrung ermöglichen. Die Erfahrung, eine kritische Situation, eine schwere Krankheit oder eine besondere Herausforderung überstanden bzw. gemeistert zu haben, verweist auf innere Stärken und führt zu Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Der Eintritt in eine neue Lebensphase – so kritisch diese möglicherweise erlebt wird – bedeutet in der Regel, auf einem neuen, höheren oder zumindest anderen Niveau zu sein, was oft mit neuen Freiheitsgraden und Handlungsmöglichkeiten einhergeht. Erwachsene können eigenständiger, selbständiger, verantwortungsvoller leben und agieren als beispielsweise Kinder. So liegt „jedem Abschied stets ein neuer Anfang inne“ (so formuliert es Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“), und in jeder Krise liegt auch der Keim für eine weiterführende Entwicklung. So geht es beispielsweise nach einer Krisenbehandlung zum einen darum, zu untersuchen, was sich in der aktuellen, neuen Situation geändert hat – auch zum Positiven. Zum anderen geht es aber auch darum, dem Betroffenen zu verdeutlichen, welchen Anteil er selbst an der Lösung der krisenhaften Situation gehabt hat, und welche neuen Ansätze und Coping-Strategien ihm nun zur Verfügung stehen, und schließlich geht es darum, sich Gedanken darum zu machen, wie man in zukünftigen, möglicherweise ähnlichen Krisen vorgeht.

Psychose

Dies ist beispielsweise bei psychosebelasteten Menschen ein besonders wichtiger Punkt: Sie müssen leider damit rechnen, von Zeit zu Zeit einen psychotischen Schub zu erleiden, der im Erleben des Betroffenen und in seiner konkreten Auswirkung oft sehr krisenhaft verläuft. Es ist wichtig, sich beizeiten auf künftige Krisen vorzubereiten und beispielsweise festzulegen, welche Hilfen man von Angehörigen, Ärzten und Psychotherapeuten in einer Zeit braucht, in der man diese Bedürfnisse psychosebedingt nicht mehr klar äußern kann.

Erweiterung von Kompetenzen

Selbst unter so schwierigen Bedingungen wie den wiederkehrenden kritischen Situationen im Rahmen einer Psychose kann es also zur Erweiterung von Kompetenzen und Coping-Strategien, die sich in einem solchen Antizipieren zukünftiger Krisen äußern, kommen, womit sich den Betroffenen mehr Handlungsspielräume eröffnen. Analoges ließe sich für den Umgang mit Rückfällen bei Alkoholkrankheit, Flashbacks bei posttraumatischer Belastung und vielen anderen Gegebenheiten zeigen.

1.1.7 Ausblick

Schnelles, zielgerichtetes Handeln

In vielen Arbeitsfeldern und Aufgabenbereichen von sozialer Arbeit, Pädagogik und Psychologie kann es – gelegentlich – zu Notfällen oder akuten Krisen sehr unterschiedlicher Art kommen: Entwicklungskrisen, wie z. B. akuten Pubertätskrisen, Verlustkrisen, wie beispielsweise in Scheidungssituationen oder bei schwerer Erkrankung, akuten oder chronischen Traumatisierungen (z. B. nach Flucht, Kindesmisshandlung oder sexuellem Missbrauch), akuten lebensgefährlichen Situationen, wie beispielsweise Suizidalität usw., die mitunter schnelles und zielgerichtetes Entscheiden und Handeln erfordern. Dabei gilt es, weiterführende, meist interdisziplinäre Hilfe nicht aus den Augen zu verlieren – was im Falle einer unmittelbaren bedrohlichen Gefährdung des Kindeswohls oder akuter Suizidgefährdung eines depressiven Menschen nach schweren Verlusterlebnissen unmittelbar einsichtig ist.

Thematik und Aufbau des Buches

Hier möchte das vorliegende Buch ansetzen. Es thematisiert die – m. E. häufigsten und wichtigsten – Krisen- und Notfallsituationen, mit denen Sozialarbeiterinnen, Pädagogen und Psychologinnen im Laufe ihres Berufslebens mutmaßlich konfrontiert werden, wie z. B. traumatische Belastungen, Suizidalität, Gewaltsituationen in Familie und Schule, drogenbezogene Krisen (Vergiftung, Entzug, Rückfall) u. a. m. Jedes dieser Themen wird systematisch wie folgt behandelt:

Zunächst wird kurz auf den Kontext und den Bezug zur Sozialarbeit, Pädagogik und Psychologie bzw. Psychotherapie eingegangen: Wann und wo hat man mit dieser Form von Krisen zu tun?

Allgemeine Grundlagen (beispielsweise über Alkoholkrankheit oder Suizidalität) sollen das Verstehen der Situation ermöglichen, werden aber relativ kurzgehalten. Gezielter und ausführlicher wird sodann auf spezifische Notfall- und Krisensituationen eingegangen, im Fall von drogenbezogenen Krisen beispielsweise auf Vergiftung, Entzugskrisen, Rückfallsituationen oder Erregungszustände.

Ein Kernstück der Ausführungen ist jeweils ein Überblick über Notfallmaßnahmen und Kriseninterventionen in diesen spezifischen Situationen. Dieser Teil ist sehr pragmatisch gehalten und reicht vom Abschätzen der akuten Gefährdung (drohender Atemstillstand) über schutzgebende Kontaktaufnahme, Erfassen des Kontextes und der Problematik bis zur Setzung von Prioritäten und einem Krisenplan zur Lösung der – aus Klientensicht – dringendsten Probleme.

Dieser Teil soll Sozialarbeiterinnen, Pädagogen und Psychologinnen helfen, sich eine schnelle Übersicht zu verschaffen, Prioritäten zu setzen und begründbare Entscheidungen, auch unter Zeitdruck, zu fällen. Danach werden weiterführende, nachhaltigere Maßnahmen pädagogischer, sozialer und psychotherapeutischer Art in Folgeabschnitten kurz skizziert.

Belastung, Stress, Krise und Traumatisierung

Eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte dient der schnellen Orientierung und beendet das jeweilige Kapitel.

Um die Zusammenhänge zwischen Belastung, Stress, Krisensitu-ation und Traumatisierung zu verstehen, scheint es mir sinnvoll, sich zum einen mit den biologisch-physiologischen sowie den psychologisch-sozialen Aspekten des Stressgeschehens und der Stressreaktion zu befassen, zum anderen die biologischen sowie psychodynamischen Grundlagen der Traumatisierung und der Entstehung der posttraumatischen Belastungsstörung zu fokussieren. Dies geschieht in den beiden folgenden Kapiteln.

Auf einen Blick

■ Krisen entstehen in der Konfrontation mit neuen Herausforderungen, die als überfordernd erlebt werden, und gehen häufig mit Ohnmachtsgefühlen, Hilflosigkeit und Verlust der Selbstwirksamkeitserwartung einher.

■ In einer Notfallsituation hat sich die Situation so zugespitzt, dass die Gefahr einer schweren seelischen oder körperlichen, möglicherweise irreversiblen oder lebensbedrohlichen Gefährdung besteht.

■ Man kann Verlustkrisen, Krisen bei lebensverändernden Ereignissen, Entwicklungskrisen, Krisen bei Traumatisierungen, narzisstische Krisen und psychiatrische Notfälle unterscheiden

■ Krisen beinhalten sowohl die Gefahr des Scheiterns oder des Entwicklungsstillstandes als auch die Chance, ein neues Entwicklungsniveau zu erreichen, Kompetenzen zu erweitern und neue Handlungsspielräume zu erlangen.

■ Neben der Krisenintervention gehört auch die Begleitung der Klienten an den Schnittstellen von Krise und Notfallsituation zu den Aufgaben in den Arbeitsfeldern der Pädagogik, sozialen Arbeit und Psychologie.


Multiple-Choice-Fragen zu diesem Kapitel finden Sie unter testfragen. reinhardt-verlag.de

1.2 Belastung, Stress und Stressbewältigung: Biologische, psychische und soziale Aspekte

 

Sympathikus-Nebennierenmark-Achse

Unter Stress verstehen wir im weitesten Sinne ein Ereignis, in dem durch spezifische äußere oder innere Reize (Stressoren) die Anpassungsfähigkeit eines Individuums beansprucht (oder überbeansprucht) wird und das mit psychischen und physischen Reaktionen dieses Individuums einhergeht, die es zur Bewältigung dieser besonderen Anforderungen befähigen. Die auslösenden Ereignisse werden als Stressoren, die sich hieraus ergebenden Reaktionen des Körpers als „Stress“ bezeichnet.

Eustress und Dysstress

Stress ist durch das Leben an sich bedingt ein notwendiger Anpassungsmechanismus an außergewöhnliche Leistungen. Handelt es sich um eine Reaktion auf Stressoren, die den Organismus zwar beanspruchen, aber nicht zu einer Überforderung führen, so wird dies als Eustress bezeichnet. Dieser wirkt sich positiv aus, da er die Aufmerksamkeit erhöht und die maximale Leistungsfähigkeit des Individuums gewährleistet. Unter Dysstress hingegen versteht man einen als negativ empfundenen Stress, der häufig oder dauerhaft auftritt und psychisch wie körperlich nicht kompensiert werden kann, wodurch er als bedrohlich bzw. überfordernd erlebt wird und bei längerer Andauer zu chronischen Anspannungen des Körpers und auf die Dauer zur Abnahme der Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit, schließlich auch zu Fehlfunktionen, Krankheit oder Tod führen kann.

Zwei Stressreaktionen

Es gibt zwei unterschiedliche Wege des Organismus, auf ein stressendes Ereignis zu reagieren. Zunächst wird ein von einem Stressor ausgehender Reiz von Sinneszellen aufgenommen und an den Thalamus im limbischen System weitergeleitet. Hier entsteht ein noch ungenaues, vorbewusstes, wenngleich sehr wirkmächtiges Bild der Situation. Einerseits wird die Information an die Großhirnrinde weitergeleitet, die mithilfe von Erinnerungen ähnlicher Situationen ein konkretes Bild generiert, wobei die Situation differenzierter beurteilt werden kann. Dieses Prozedere dauert allerdings länger als der direkte Weg vom Thalamus zur Amygdala, bei dem neben einer emotionalen Reaktion auf die Situation vor allen Dingen die eigentliche körperliche Stressreaktion ausgelöst wird.

Der Botenstoff Noradrenalin setzt die Stressreaktion über die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse fort, indem er den unbewusst arbeitenden Nervus sympathicus des vegetativen Nervensystems aktiviert. Diese sympathikotone Reaktion des vegetativen Nervensystems bereitet die Fight-and-Flight-Reaktion des Körpers vor.


Abb. 1.2.1: Die Stressreaktion (Hülshoff 2012, 268)

Flight-or-Fight-Reaktion

Wie in Abbildung 1.2.1 zu sehen ist, wird über diese Reaktionsschiene zum einen das Nebennierenmark veranlasst, Adrenalin auszuschütten, ein zweites Stresshormon aus der Gruppe der Catecholamine. Zum anderen beeinflussen Noradrenalin und Adrenalin synchron eine ganze Reihe von Organen so, dass Kampf oder Flucht ermöglicht werden. Beispielsweise wird der Kreislauf aktiviert (Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck), die Atemfrequenz wird erhöht, Muskeln werden vermehrt mit Energie versorgt, um kräftiger, koordinierter und schneller reagieren zu können, das Gehirn erhält mehr Sauerstoff und Zucker, um passende Lösungsstrategien zu finden, die Pupillen erweitern sich, was einer gezielten Gefahrenerkenntnis förderlich ist, die Blutgerinnungsfähigkeit steigt, um im Verletzungsfall nicht zu viel Blut zu verlieren, die Schmerzempfindlichkeit sinkt (was u. a. durch eine vermehrte Ausschüttung von körpereigenen Opiaten, sog. Endorphinen, bewerkstelligt wird), Fett- und Zuckerreserven aus Leber und Fetteinlagerungen werden abgebaut und als Energielieferanten benutzt, und der entstehenden Körperwärme mit entsprechender Überhitzungsgefahr wird durch eine vermehrte Schweißproduktion (Verdunstung) begegnet. All dies führt dazu, dass der Körper für die Flight-or-Fight-Reaktion gerüstet ist. Gelingt die Bewältigung des drohenden Ereignisses, so wird die Glutamatproduktion gestoppt, was zu einem Abbau von Noradrenalin und Adrenalin, einer Senkung der sympathischen Aktivität und einem Sistieren der Stressreaktion führt.

Nebennierenrinden-Kortisol-Achse

Gelingt die Anpassung nicht, so wird diese Aktivierung beibehalten (Dauerstress), es werden also vermehrt und verlängert Noradrenalin und Adrenalin ausgeschüttet, und zudem setzt das Glutamat eine erweiterte Stressreaktion über die zweite Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Kortisol-Achse) in Gang, auf die die rechte Seite der Abbildung 1.2.1 hinweist. Dabei produziert die Nebennierenrinde verstärkt Kortisol. Dieses dritte Stresshormon ist wesentlich daran beteiligt, Glukose aus Fettspeichern zu mobilisieren und dem Körper Energien für die Stressreaktion zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig sorgt es dafür, dass – wenigstens im Moment – zweitrangige Körperfunktionen reduziert werden. Dies gilt vor allem für das Immun- bzw. Abwehrsystem: Kortison hat eine das Immunsystem schwächende Wirkung. Mit anderen Worten: Ein akutes, stressendes Ereignis kann durch die von den Catecholaminen Adrenalin und Noradrenalin vermittelte Reaktion der ersten Stressachse im Sinne der Fight-and-Flight-Reaktion adäquat und schnell gelöst werden, so dass der hier aufgetretene Stress als „Herausforderung“ erlebt und schnell überwunden wird.

In einer verlängerten Stressreaktion – beispielsweise aufgrund anhaltender gefährdender Situationen – kommt die zweite Achse (Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde-Kortisol) zum Tragen, weil hier über längere Zeit ein erhöhter Stressbewältigungslevel aufrechterhalten werden muss. Dies wird in der Regel nicht als Herausforderung (challenge), sondern als ernstzunehmende und bedrohliche Krise (crisis) erlebt. Dennoch handelt es sich in beiden Szenarien um Stress, für den unser Körper prinzipiell angelegt ist. Erst in einer dritten Phase, bei der der gefahrenbedingte Stress als entweder grundsätzlich nicht zu lösen oder auf Dauer nicht zu beenden erlebt wird, kommt es zum Kontrollverlust (loss) und im Gefolge zu Panik und Trauma bzw. Erschöpfung. Mit anderen Worten: Chronischer Dysstress kann krank machen.

Stress und Krankheit

Beim Stressgeschehen kommt es nicht nur zu einer physischen Belastung, sondern auch zu einer starken psychischen Anspannung, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird. Diese emotionalen Erregungszustände, hervorgerufen durch unterschiedliche Auslöser, verursachen die relativ einheitlichen somatischen Stressreaktionen. Als Stress assoziierte Emotionen werden oft Angst, Wut, Aggression sowie Trauer und Niedergeschlagenheit genannt. Ein zu starker, pausenloser Stress, der nicht adäquat abgearbeitet werden kann, führt anders als Eustress zu einem körperlichen Erschöpfungssyndrom, oft einhergehend mit einem psychischen Erleben einer Depression. Insgesamt werden wir nun krankheitsanfälliger und sind unter Umständen ernsthaft gesundheitsgefährdet. Dabei ist Stress nie alleiniger pathogener Faktor, kann aber einen ausschlaggebenden Beitrag leisten.


Abb. 1.2.2: Das Stress-Vulnerabilitätsmodell, dargestellt am Beispiel der Depression (Hülshoff 2011, 313)

Vulnerabilitäts-Stress-Hypothese

Die sog. Vulnerabilitäts-Stress-Hypothese, die sich einem bio-psychosozialen Krankheitsmodell verpflichtet fühlt, geht beispielsweise davon aus, dass eine Reihe von körperlichen, aber auch psychischen Erkrankungen auf ein interaktionales Geschehen von frühen Verletzungen und damit einhergehender Verletzbarkeit / Vulnerabilität und hinzukommenden Stressoren zurückzuführen ist.

Darüber hinaus gibt es offensichtlich Zusammenhänge zwischen Hormonen, Neurotransmittern, Nervenaktionen und psychischem Erleben, die sich im Stressgeschehen unheilvoll ergänzen und verdichten können.

So gibt es enge Wechselwirkungen zwischen psychischen Phänomenen (also Gefühlen, Vorstellungen und kognitiven Prozessen, die in unserem Gehirn repräsentiert werden), neurologischen Phänomenen, die sich als Aktivität unseres Nervensystems beschreiben lassen, endokrinen Prozessen, die durch Hormonausschüttungen charakterisiert sind, und immunologischen Prozessen, die maßgeblich von den Zellen unseres Abwehrsystems abhängen und dafür sorgen, dass wir uns vor pathogenen Keimen schützen können. Nach neueren Erkenntnissen gibt es zwischen diesen Systemen zahlreiche Verbindungen und Zusammenhänge. Nicht nur das Gehirn lernt, sondern auch das Immunsystem, und über die Kopplung von Transmittern und Hormonen sind beide Systeme miteinander verbunden. So sind z. B. Hormone, auch Stresshormone, wichtige Bindeglieder zwischen psychischem Erleben, neuronalen Aktivitäten und Organfunktionen. Dazu gehören die Catecholamine Adrenalin und Noradrenalin sowie Kortisol und die Opiate Endorphin und Enkephalin (die zur Schmerzabwehr im Stressgeschehen beitragen), die sich alle stark auf das Immunsystem auswirken. Noradrenalin tritt im Gehirn als Neurotransmitter, in der Peripherie als Hormon auf.

Erschöpfung und Depression

Kortisol wirkt nicht nur suppressiv auf das Immunsystem, sondern ändert auch das psychische Erleben (in Richtung Depressivität). Auch die Funktion, ja sogar die Feinstruktur bestimmter Hirnareale kann sich unter langjährigem Einfluss von Hormonen und Neurotransmittern verändern.

Die hier nur angedeuteten Zusammenhänge lassen erahnen, warum beispielsweise eine Erschöpfungsdepression immer ein psychisches und somatisches Geschehen ist, das sich nicht nur in Niedergeschlagenheit, Avitalität, Lustlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und anderen psychischen Erscheinungen äußert, sondern ebenso sehr auch in körperlichen Funktionsstörungen, beispielsweise Schlafstörungen, Erschöpfung, Abwehrschwäche, erhöhter Krankheitsanfälligkeit u. v. m. Wie sehr stressende Lebensereignisse die Gesundheit beeinflussen können, zeigt auch eine Untersuchung des Psychiaters Holmes aus den 1960er-Jahren, dem aufgefallen war, dass dem Ausbruch verschiedener Erkrankungen sehr häufig eine Summierung einschneidender Veränderungen in Lebenssituation der Betroffenen vorausgegangen war, z. B. ein Wechsel des Arbeitsplatzes, Änderungen der Familiensituation (Scheidung etc., Holmes / Rahe 1967). Hieraus wurde die Hypothese abgeleitet, dass die krankheitsfördernde Belastung abhängig sei von vorausgegangenen einschneidenden Lebensereignissen, die man als „life-events“ bezeichnete, und die subjektiv als stressauslösend und sehr krisenhaft erlebt wurden. Bei der Erfassung (durch Fragebögen) solcher Belastungen und ihrer Bedeutung für die Stressreaktionen schienen die Trennung von Ehepartnern besonders stressauslösend zu sein, doch wurden zahlreiche andere stressende Lebensereignisse beschrieben (Holmes / Rahe 1967). An Stressoren im Zusammenhang mit Herzkrankheiten sind beispielsweise in erster Linie Lebensunzufriedenheit, insbesondere Unzufriedenheit im Beruf, gefolgt von Situationen der Verlassenheit, dem Verlust enger Bezugspersonen sowie berufliche Unsicherheit zu nennen. Allerdings stellte sich heraus, dass nicht nur die Belastung an sich, sondern vor allem die Tatsache, ob und wie Menschen diese Belastungen bewältigen konnten, ausschlaggebend dafür war, ob und in welcher Weise sich Krankheiten einstellten.

Stress und psychische Erkrankung

Im Hinblick auf Krisensituation und Krisenbewältigung ist vor allem auf affektive Störungen bzw. Erkrankungen hinzuweisen. So geht chronischer Stress oft mit erhöhtem Angstpegel einher, wobei unter Angst ein Grundgefühl zu verstehen ist, das sich als in besonders bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und Unlust betonte Erregung äußert. Dabei kann es zu Angststörungen im Sinne einer krankhaft übersteigerten Angst, zu zunehmenden sozialen Ängsten bis hin zur Isolation und Vermeidung sozialer Kontakte und zu Leistungsängsten bis hin zu Leistungsversagen kommen. Zum anderen ist an alle Formen einer chronischen oder akut auftretenden Depression zu denken, insbesondere an eine Erschöpfungsdepression, aber auch an verschiedene Formen eines Burnout-Syndroms. Hierauf wird in Kapitel 2.4 (Burnout) vertiefend eingegangen.

 

Erlernte Hilflosigkeit (Seligman)

Vor allem das Konzept der „erlernten Hilflosigkeit“ des Psychologen Martin E. P. Seligman (1979) ist hier zu nennen. Bei erlernter Hilflosigkeit erwartet ein Individuum, bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren oder beeinflussen zu können – was insbesondere nach chronischem Dysstress die Folge ist. Das Individuum engt sein Verhaltensrepertoire ein, und eine solche Selbstbeschränkung bzw. Passivität führt in einem Circulus Vitiosus zu erneuten Erfahrungen von Hilf- und Machtlosigkeit sowie subjektivem Kontrollverlust.

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um potenzielle Zusammenhänge zwischen chronischem, überfordernden Dysstress, zunehmender Unfähigkeit, Krisen zu lösen, und erhöhter Krankheitsbereitschaft zu erläutern.

Transaktionales Stressmodell nach Lazarus

Die gesamte Diskussion zur Stressentstehung und -verarbeitung sollte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bis heute im Wesentlichen durch den Psychologen Richard Lazarus geprägt werden, der 1974 das von ihm entwickelte transaktionale Stressmodell vorstellte. Er war der erste, der eindeutig postulierte, dass nicht nur die objektive Beschaffenheit einer stressauslösenden Situation für eine Stressreaktion von Bedeutung ist, sondern vor allem auch deren subjektive Bewertung durch den Betroffenen. Dabei unterschied er mehrere Stufen der Bewertung. Bei der primären Bewertung (primary appraisal) können Situationen als positiv, unbedeutend / irrelevant oder potenziell gefährlich und damit stressend bewertet werden, wobei die Bewertung drei Stufen erkennen lässt: Eine Herausforderung (challenge) liegt in Situationen vor, die als bewältigbar erscheinen, bei einem zu erwartenden Schaden spricht man von Bedrohung (threat) und von einer Schädigung / Verlust (harm / loss) spricht man, wenn der Schaden bereits eingetreten ist (Lazarus 1974). Mit anderen Worten: Wie sehr etwas belastet, hängt davon ab, wie einschneidend und wie wichtig die Belastung für das weitere Leben des Betroffenen ist. Außerdem wird subjektiv bewertet, welche Bewältigungsmöglichkeiten den Menschen zur Verfügung stehen. Als stressend wird ein Ereignis erst dann erlebt, wenn der Betroffene keine adäquate Möglichkeit mehr sieht, mit der Belastung fertig zu werden. In einer sekundären Bewertung (secundary appraisal) wird also überprüft, ob die Situation mit den verfügbaren Ressourcen zu bewältigen ist (Lazarus / Folkmann 1984).

Der Umgang mit einer Bedrohung und der Versuch, selbige zu bewältigen, werden als Coping bezeichnet. Hierbei unterscheidet man problemorientiertes, emotionsorientiertes sowie bewertungsorientiertes Coping.

Problemorientiertes Coping

Problemorientiertes Coping liegt vor, wenn ein Mensch in einer extremen Belastung das Problem direkt angeht. In diesem Fall wird er versuchen, die belastenden Faktoren auszuschalten, sie zu umgehen oder durch persönliche gezielte Problemlösungen die Ursache des Stresses zu bewältigen. Dabei kann die Situation sowohl allein durch persönliche als auch durch kollektive Bewältigungsmöglichkeiten (soziale Unterstützung, soziales Netzwerk, soziale Integration) gemeistert werden.

Emotionsregulierendes Coping

Eine andere Form der Stressbewältigung wird als „emotionsregulierendes Coping“ bezeichnet, das sich vorwiegend darauf beschränkt, mit der emotionalen Erregung fertig zu werden, die eine Stress-Situation ausgelöst hat. Wenn – vereinfacht gesagt – die Stress-Situation nicht zu ändern ist, kann zumindest versucht werden, mit den sie begleitenden Gefühlen wie Ärger, Wut oder Trauer besser umzugehen und sie zu verarbeiten. Auch Entspannungsübungen und andere Methoden (s. u.) dienen zumindest zum Teil diesem Zweck.

Bewertungsorientiertes Coping

Schließlich spricht man vom bewertungsorientierten Coping, wennes zu einer Neubewertung („reappraisal“ nach Lazarus) der Situation kommt. Wenn beispielsweise eine gestresste Person ihr Verhältnis zur Umwelt neu bewertet – eventuell auch nach schon erfolgten Veränderungen –, kann eine zuvor als aussichtslos gesehene Krise nun möglicherweise als eine eher belastende Herausforderung, also positiver gesehen und gewertet werden, was seinerseits neue Ressourcen freisetzt.

Die Arbeiten von Lazarus haben die Stressforschung grundlegend verändert, neu interpretiert und bis heute geprägt. Von nun an ging es nicht mehr primär um die Analyse physiologischer und biochemischer Vorgänge, sondern vor allem um die Untersuchung psychologischer sowie psychosozialer Parameter. So ging es beispielsweise bei dem Konzept der Selbstaufmerksamkeit darum, die Aufmerksamkeit auf sich selbst, das Selbstkonzept oder das Selbstwertgefühl zu lenken. Private Selbstaufmerksamkeit meint die Erfahrung des eigenen Zustandes, den niemand anders letztlich beurteilen kann (Körperempfindung, Stimmungen, Einstellungen, Phantasien etc.). Aber auch die öffentliche Selbstaufmerksamkeit, also die beobachtbare äußere Erscheinung oder das Verhalten, Umgangsformen etc. können von Bedeutung sein. Zwischen Selbstaufmerksamkeit und sozialer Angst sowie Stresserleben bestehen große Zusammenhänge, und eine realitätsnahe Selbsteinschätzung kann durchaus zum Stressabbau beitragen.

Attributionstheorien

Dies führt uns zu Attributionstheorien, also allgemeine Ansätze der Psychologie, die beschreiben, wie Individuen Informationen nutzen, um kausale Erklärungen für menschliche Verhaltensweisen vorzunehmen. Mit dem Konzept Seligmans zur erlernten Hilflosigkeit haben wir bereits eine solche Attributionstheorie kennen gelernt und gesehen, wie ein Circulus Vitiosus im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung ein gestresstes Individuum noch hilfloser und im Gefolge noch gestresster werden lässt.

Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura)

In den 1970er-Jahren entwickelte der kanadische Psychologe Albert Bandura, ein Pionier der kognitiven Lerntheorie, das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung, also einer Erwartung, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich selbst ausführen zu können – fast spiegelbildlich das Gegenteil der erlernten Hilflosigkeit. Bandura (1977) stellte fest, dass Personen mit starkem Glauben an die eigene Kompetenz größere Ausdauer bei der Bewältigung von Aufgaben haben und außerdem eine niedrigere Anfälligkeit für Angststörungen und Depressionen zeigen.

Auch hier wirken sich Selbstwirksamkeitserwartungen und Handlungsergebnisse zirkulär aus, allerdings im Sinne eines „high performance cycle“, also einer positiven Rückkopplung. Er benannte vier Quellen von Selbstwirksamkeitserwartung, nämlich eigene Erfolgserlebnisse, stellvertretende Erfahrungen, verbale Ermutigungen sowie emotionale Erregung. Dabei handelt es sich bei der emotionalen Erregung um positive Erregung im Sinne von Belohnungs- und Flow-Erlebnissen, die nicht selten durch Dopaminausschüttung getriggert werden. Bei der „stellvertretenden Erfahrung“ (vicarious experience) traut man sich selbst mehr zu, wenn man andere Menschen bei der Meisterung von Problemen beobachtet hat: Man wird also durch Vorbilder beeinflusst. Die Kompetenzerwartung beeinflusst und verändert das Verhalten: Eine hohe Selbstwirksamkeit beflügelt die Inangriffnahme schwieriger Aufgaben, man investiert mehr Anstrengung, erträgt mehr Schmerzen und bewältigt schlussendlich besser anstehende, durch Stress gekennzeichnete Aufgaben.

Salutogenese (Antonovsky)

Bisher haben wir uns damit beschäftigt, dass dysfunktionaler Stress zu Krankheiten führen kann. Insbesondere im Vulnerabilitäts-Stress-Konzept kommt zum Ausdruck, dass ungünstige biographische Faktoren wie beispielsweise Traumen zu einer erhöhten Verletzlichkeit führen, die bei zusätzlicher massiver Stressexposition in eine akute Krankheit umschlagen kann. Dieses Modell fußt, wie bereits erwähnt, auf einem biopsychosozialen Krankheitsverstehen. Der Paradigmenwechsel vom rein naturwissenschaftlichen zum biopsychosozialen Krankheitsmodell führte seit den 1980er-Jahren aber auch zu dem Modell der „Salutogenese“, das 1979 vom Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eingeführt wurde. Nach dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen. Gleichzeitig geht es um die Stärkung von gesundheitserhaltenden Faktoren. Antonovsky, der sich intensiv mit Lebensläufen und Gesundheit und Krankheit von Überlebenden des Holocaust befasst hatte, fragte sich, warum gleiche Stressoren bei einer Person zu chronischer Belastung oder Krankheit führen, bei anderen hingegen nur zu einer kurzen Krise oder sogar zu einer späteren Verbesserung des Allgemeinzustandes, warum also Menschen trotz großer psychischer oder physischer Belastung gesund bleiben können. Solche zur Salutogenese (lat. salus: Heil, gr. genesis: Entstehung) beitragenden, gesundheitsfördernden Faktoren werden heute als „Resilienzfaktoren“ (Schutzfaktoren) bezeichnet. Sie können u. a. in einer genetisch bedingten, geringeren Vulnerabilität (beispielsweise hinsichtlich Serotoninverschiebung und Depression), Temperamentsunterschieden, Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, einem positiven Selbstwertgefühl, einer inneren Kontrollüberzeugung oder dem Vertrauen auf Selbsthilfemöglichkeiten bestehen. Auch soziale Faktoren wie Gesprächsmöglichkeiten auf der Meta-Ebene (beispielsweise bei schicksalsbedingten Lebenskrisen) oder familiärer Schutz können sich gesundheitsfördernd auswirken.