Buch lesen: «Zweimal Wachtel, einmal Lachs», Seite 5

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9

Rudi, der die Haare inzwischen lang trug und seitlich über seine Segelohren kämmte, war die ganze Zeit über bei der Drückerkolonne geblieben, obwohl die Schikanen gegen ihn kein Ende nahmen. Niemand half ihm, wenn Lobo ihn wieder einmal fertig machte. Im Gegenteil, einige der Kollegen beteiligten sich an den Schmähungen und Sanktionen gegen ihn, und sei es nur, weil sie selber Angst hatten vor dem als gewalttätig gefürchteten Anführer. Der konnte auch zuschlagen, wenn man ihn zu sehr reizte, war der Anlass auch noch so nichtig. Rudi hatte das bereits schmerzhaft erfahren müssen. Schlimmer als die Schläge empfand er die Brüllerei und die Beschimpfungen. Die Demütigungen schlugen ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf den Magen, er bekam jetzt immer öfter Durchfall oder musste sich übergeben. Am meisten Angst jedoch hatte er davor, nach Hause zurückzukehren und gestehen zu müssen, dass der angeblich so tolle Verlagsjob nichts als ein Märchen gewesen war.

„Nächsten Monat ziehen wir um“, sagte Lobo beim gemeinsamen Abendessen, „dann geht’s ab in den Süden.“

Rudi fuhr der Schreck in die Glieder.

„Wieso… wohin denn da?“ stammelte er.

„Dumbo fliegt zu den Lederhosen“, grinste Heike, die mit Lobo ein Verhältnis angefangen hatte. Lobo sah ihn verächtlich an: „Das solltest du eigentlich wissen, wo Süden ist, du Penner. Oder woher kommst du?“

„Aus München“, sagte er leise.

„Na also. Da kannst du wieder dein blödes Bayrisch reden.“

Seinen Münchner Dialekt hatten ihm Lobo und die anderen nicht austreiben können. Versucht hatten sie es, aber zu recht viel mehr als „Guten Tag“ statt „Grüß Gott“ und „Brötchen“ statt „Semmel“ hatte es bei Rudi nicht gereicht.

„Unser Standort ist Dachau“, verkündete Lobo. „Wir machen Oberbayern und die Region bis zum Bodensee runter.“

Rudi war der Appetit gründlich vergangen. Wenn sie von Dachau aus starteten, würden sie auch nach München gehen, daran gab es keinen Zweifel. Die Vorstellung, er könne beim Drücken auf Bekannte oder gar auf seine Familie stoßen, schnürte ihm die Kehle zu. Er brachte keinen Bissen mehr hinunter und ging bald auf sein Zimmer. Fieberhaft überlegte er, wie er aus dem Dilemma herauskäme. Die halbe Nacht lag er wach und schmiedete Fluchtpläne.

Am anderen Morgen wurde er mit einem fotokopierten Stadtplan von Schwerin losgeschickt, um „Scheine zu machen“, wie die Abschlüsse von Abonnements in der Drückersprache genannt wurden. Sein Revier war mit Filzstift markiert und umfasste ein Gebiet in der Altstadt. Er lief zunächst ziellos durch die Straßen, dann warf er den Stadtplan zusammen mit seinen Vertragsformularen entschlossen in einen Papierkorb. Er hatte keine konkrete Idee, was er als Nächstes tun würde, aber er nahm sich fest vor, keine Scheine mehr zu machen, heute nicht, morgen nicht, nie mehr, und auf keinen Fall würde er zu der Drückerkolonne zurückkehren und mit ihr nach Bayern umsiedeln, so viel war klar. Auf seinen Personalausweis, den Lobo gleich am Anfang einkassiert hatte, konnte er verzichten, dafür gäbe es Ersatz.

Um der Gefahr zu entgehen, anderen Mitgliedern der Drückerkolonne über den Weg zu laufen, folgte er dem Hinweisschild „Zum Schloss“ und stand schließlich vor dem prächtigen Schloss, das von Wasser und einem gepflegten Park umgeben war. Er setzte sich unter einen mächtigen Baum, dessen Äste sich wie eine Kuppel ausladend bis zum Boden wölbten. Touristenströme zogen vorbei. Er zählte seine Barschaft, ungefähr 40 Mark. Bei Lobo hatte er noch Außenstände von rund dreihundert Mark, aber die behielt Lobo ein, „bis du in der Spur bist“, wie er das nannte. Dieses Geld würde er natürlich abschreiben müssen.

Er zermarterte sein Hirn, was er jetzt machen sollte. Schließlich verließ er den Schlossplatz und fand in der Nähe eine Kneipe, die bereits geöffnet hatte. Er trank drei Bier so schnell hintereinander, dass er den Alkohol spürte. Am liebsten hätte er alles versoffen, was er noch in der Tasche hatte. Aber was dann? Er zahlte und ging hinaus. Unschlüssig blieb er am Marienplatz stehen und zündete sich eine Zigarette an. Immer noch rauchte er seine Selbstgedrehten.

Plötzlich entdeckte er Lobo, der quer über den Platz direkt auf ihn zukam. Rudi zog hastig zwei Mal hintereinander an seiner Zigarette, bevor er sie auf dem Boden austrat und das Weite suchte. Er wusste zwar nicht, wo er hinlief, aber er wusste, dass Lobo ihn auf gar keinen Fall finden durfte, denn dann würde es Ärger ohne Ende geben. Kein Stadtplan, keine Vertragsformulare, dafür mit einer Alkoholfahne, da wüsste Lobo doch sofort, woher der Wind pfiff. Er kam rasch außer Atem, was mehr der Aufregung über Lobos unverhofftes Auftauchen geschuldet war als dem Tempo, das er vorlegte. Gerade wollte er den Dom umrunden, als der Chef der Drückerkolonne um die Ecke kam, wie ein Bluthund, der die Spur seiner Beute aufgenommen hatte und sich nicht abschütteln ließ. Noch schien er ihn nicht gesehen zu haben. Rudi überlegte keine Sekunde. Er drückte sich mit den Besuchern des Doms in den Eingang, der zur Turmbesteigung führte. Während er die Stufen nach oben stieg, beschlich ihn der Verdacht, dass Lobo ihn vielleicht doch gesehen haben könnte und einfach unten auf ihn wartete. Er merkte, wie ihm kalt wurde und seine Hände zu zittern begannen. Er saß in der Falle, denn irgendwann musste er den Dom verlassen und dann würde er seinem Peiniger in die Arme laufen. Es sei denn…

Er erschrak bei dem Gedanken, der ihn wie ein Blitz durchzuckt hatte. Aber der Gedanke hatte Besitz von ihm ergriffen und ließ ihn nicht mehr los. War die Besteigung des Turms am Ende gar eine Fügung, ein Wink des Schicksals? Ihn befiel eine heftige Erregung. Sein tränenumflorter Blick fiel auf die mit Gitterstäben bewehrten Sichtluken in der Turmmauer. Könnte er sich, spindeldürr wie er nun einmal war, vielleicht durch sie hindurch zwängen?

Das ist eine günstige Gelegenheit, deinem Leben, das so wenig wert ist, ein Ende zu bereiten, sagte ihm eine innere Stimme. Spring, forderte ihn die Stimme auf, spring, und du hast alles hinter dir. Es dauert nur wenige Sekunden, und den Aufprall unten spürst du gar nicht mehr. Dann hast du Ruhe, für immer. Nie mehr von Lobo niedergemacht werden, nie mehr von ihm angebrüllt und geschlagen werden. Wenn du Glück hast, springst du genau auf ihn drauf und reißt ihn mit in den Tod, das Schwein hätte es nicht besser verdient.

Eine andere Stimme in seinem Kopf widersprach: Tu’s nicht! Denk an deine Eltern, die müssen dann hierher kommen und dich identifizieren. Kein schöner Anblick, so ein zerschmetterter Körper, und wenn es der eigene Sohn ist, bricht es der Mutter vielleicht das Herz. Und außerdem, wartet nicht noch so viel Schönes auf dich, München mit dem Monopteros und dem Floriansmühlbad, den herrlichen Biergärten und dem Oktoberfest? Was ist mit deinem Freund Tobi, der an deinem Grab stehen und um dich weinen würde?

Jetzt rannen ihm die Tränen übers Gesicht. Er rutschte mit dem Rücken an der Mauer hinunter und ging in die Knie.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Eine Frau mittleren Alters beugte sich mitfühlend zu ihm herunter.

Er schüttelte den Kopf und suchte nach einem Taschentuch, aber er hatte keines dabei. Die Frau hielt ihm ein Päckchen Tempotaschentücher hin: „Hier.“

„Danke“, schniefte er, nahm sich ein Taschentuch heraus und reichte der Frau die Packung zurück.

„Nein, nein, behalten Sie die nur“, sagte die freundliche Frau, und fügte hinzu: „Wenn ich irgendwas für Sie tun kann…?“

Er schüttelte wiederum den Kopf.

„Ich muss wieder runter“, sagte die Frau, „mein Mann wartet mit der Kleinen unten auf mich. Wiedersehen.“ Sie lächelte ihm unsicher zu und wandte sich ab.

Er lehnte den Kopf gegen die Mauer und schloss die Augen. Sein Herz schlug heftig, das Blut schien in seinem Kopf zu dröhnen. Er machte sich Vorwürfe: Viel hätte nicht gefehlt und du wärst vom Turm in die Tiefe gesprungen, wärst vielleicht direkt vor der kleinen Tochter dieser netten Frau auf dem Pflaster zerschellt! Und Lobo hätte alles seelenruhig mitverfolgt und sein böses Lachen gezeigt. Schaut her, Leute, Dumbo der fliegende Elefant verliert seine Zauberfeder und springt in den Tod, ha ha. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er presste das Taschentuch vor den Mund, würgte, aber es kam nichts.

Nachdem er sich wieder ein wenig gesammelt hatte, stieg er zitternd vor Aufregung den Turm hinab und spähte angstvoll vorsichtig aus der Tür, um nicht Lobo in die Fänge zu laufen. Als er sicher sein durfte, dass die Luft rein war, verließ er den Dom und fragte Passanten nach dem Weg aus der Stadt. Etwas später nahm ihn ein Autofahrer mit, Richtung Berlin.

Im Auto sann er darüber nach, ob er wirklich den Mut gehabt hätte, vom Turm zu springen. Vielleicht, war die erste Antwort, die er sich gab. Dann korrigierte er sich. Doch, ganz sicher hätte er es gemacht. Wenn nur die Frau nicht gewesen wäre und nicht von ihrem kleinen Kind erzählt hätte.

Dabei übersah er, dass nicht einmal so ein dürres Klappergestell wie er zwischen den Gitterstäben der Turmluken hindurch gepasst hätte.

Inzwischen waren Tobis Eltern mit den Großeltern schon zweimal zum Essen ins „Spatenhaus“ gekommen und waren vom Herrn Lobinger persönlich begrüßt worden. Voller Stolz vernahmen sie die lobenden Worte des Geschäftsführers: „Der Bub hat nicht nur das Herz auf dem rechten Fleck, er ist auf jedem Posten, den er bisher in der Küche durchlaufen hat, mit Abstand das Beste, was wir hier als Azubi gehabt haben. Der wird seinen Weg machen.“ Lisa wischte sich verstohlen ein Tränchen der Rührung aus dem Augenwinkel.

„Das hab ich immer gewusst, dass aus dem Tobi mal ein guter Koch wird“, sagte Oma Ertl ruhig und ohne jede Überheblichkeit.

Tobi durfte sogar ganz kurz aus der Küche kommen und seiner Familie Grüß Gott sagen, musste aber sofort wieder zurück auf seinen Posten als Gardemanger und sich um die kalten Vorspeisen kümmern.

Vom Küchenchef Glöckle gab es hingegen kein Lob zu hören. Der lange Rainer hatte ihm erklärt, dass ein Lehrling, der von Glöckle nicht drei Mal am Tag zusammengestaucht wurde, dies als Lob begreifen müsse: „Logisch sieht der, dass du Talent hast, der ist ja nicht blind! Du hast ja jetzt schon mehr drauf wie so mancher Jungkoch. Aber der Glöckle sagt sich, wenn ich den jetzt vor den anderen groß rausstreich’, dann hebt der vielleicht ab.“

Die Gefahr bestand bei Tobi nicht. Denn auch seine Familie sagte ihm nicht, was sie von Lobinger erfahren hatten, außer, er solle sich weiter anstrengen, dann passe es schon.

Mandy hatte sich in letzter Zeit sehr rar gemacht. Immer öfter verschwand sie nach Feierabend, ohne auf Tobi zu warten.

„Ich lerne jetzt Spanisch“, erklärte sie ihm, als er sie schließlich zur Rede stellte.

„Wieso denn ausgerechnet Spanisch?“ fragte er verständnislos.

„Wieso nicht? Ist doch ‚ne Weltsprache, Spanisch“, sagte sie, „und klingt klasse.“

„Kannst du schon was?“ fragte er, während sie zur Treppe der Bayrischen Staatsoper hinüber schlenderten.

„Nu.“

„Was, nu? Ja oder nein?“ hakte er nach, weil er mit ‚nu’ nichts anfangen konnte.

„Na ja, ein bisschen schon.“

„Sag mal was, auf Spanisch.“

„Vamos a la playa“, sagte sie.

„Was heißt das?“, fragte er.

„Wir gehen an den Strand.“

„Vamos a la playa“, wiederholte er. Irgendwie kam ihm der Satz bekannt vor.

Schließlich fragte er ohne Umschweife: „Was ist, gehen wir noch zu dir?“

„Nee du. Ich muss noch was machen, für den Spanisch-Unterricht“, sagte sie rasch.

„Ach komm geh weiter. Jetzt haben wir uns schon so lange nicht mehr gesehen, da kannst du dein Spanisch auch mal weglassen. Oder mach’s halt nachher.“ Er klang ziemlich sauer.

Sie druckste ein bisschen herum, dann sagte sie: „Du, ich hab da jemand kennen gelernt. Nein, nein, nicht so wie du vielleicht denkst. Der Typ ist viel älter als ich. Er macht eine Strandbar auf, das heißt, eigentlich gibt’s die schon, er übernimmt sie nur. Und weißt du wo?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Domrep.“

„Domrep?“ Er runzelte die Stirn.

„Dominikanische Republik. Er will, dass ich mitgehe und für ihn die Bar mache.“

„Schön für dich“, sagte er leise.

„Ehrlich gesagt, deshalb lern ich auch spanisch.“

Er blickte stumm über den Platz zum Spatenhaus hinüber.

„Ich hab schon Fotos gesehen. Echt der Wahnsinn. Stell dir vor, eine Bar unter Palmen, alles weiß gemauert, bestimmt vierzig Plätze. Das kann er natürlich nicht alleene machen.“

„Wer ist denn er?“ fragte Tobi.

„Der Florian aus Kärnten. Skilehrer, Tennislehrer, Surfer, eine richtige Sportskanone halt. Kohle scheint er auch genug zu haben.“

„Und wann geht’s los?“

Sie schaute ihn etwas verlegen an: „In zwei Wochen.“

„Was, schon in zwei Wochen?“ fragte er überrascht.

„Ja“, sagte sie. „Ich wollte es dir ja auch früher sagen, aber ich habe mich nicht getraut.“

Er fühlte sich leer und enttäuscht.

„Ja, ich weiß, das war nicht okay“, sagte sie, „aber hätt’ ich dir’s früher gesagt, wärst du noch länger sauer gewesen.“

Dieser Logik wollte er nicht folgen.

„Ehrlich währt am längsten, das hat mein Oma schon immer gesagt“, sagte er verdrossen.

„Ich war ja nicht unehrlich, ich hab bloß nichts gesagt“, verteidigte sie sich. „Ich weiß, dass dir das nicht gefällt, aber schau mal, das ist ’ne Riesenchance für mich, ich kenn ja nichts außer Dresden und München.“

„Und mit dem hast du nix, mit dem Florian?“ Er schaute sie misstrauisch an.

„Nein, um Gottes willen!“ Vor die Wahl gestellt, hatte Mandy entschieden, dass eine mildtätige Lüge einer verletzenden Wahrheit vorzuziehen war. „Der Flori ist Mitte vierzig! Er schaut vielleicht jünger aus, aber deswegen hab ich doch nichts mit dem.“

Obwohl gekränkt, dass sie ihn vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, versuchte er mannhaft, seinen Frust zu verbergen.

„Dann wünsch ich viel Glück, Mandy, in der Domrep“, sagte er und bemühte sich sogar um ein Lächeln.

„Ich bin ja noch nicht weg“, sagte sie. Doch für ihn war sie es bereits.

10

Der Autofahrer, der ihn nach Berlin mitgenommen hatte, brauchte nicht lange um herauszufinden, dass Rudi finanziell abgebrannt war. An einer Raststätte hatte er ihn zum Essen eingeladen und ihm gesagt, falls er in Berlin einen Job suche, könne er ihm behilflich sein. Ja, sagte Rudi, das würde ihn schon interessieren. Er habe einen Freund, sagte Jens - so hieß der Fahrer - der in Berlin ein Grabsteingeschäft betreibe, der suche gerade jemanden als Aushilfskraft. Wohnen könne er vorläufig bei ihm, bot Jens an. So viel Glück konnte Rudi gar nicht fassen. Den einen Job hingeschmissen, den anderen ein paar Stunden später greifbar nahe, wenn das kein unglaublicher Glücksfall war.

Jens fuhr direkt von der Autobahn kommend zum Grabsteingeschäft seines Freundes. Lutz war ein vierschrötiger Mensch, an dessen großen, schwieligen Händen man seinen täglichen Umgang mit Stößel, Knüpfel, Scharriereisen und Stockhammer ablesen konnte. Mit seiner Schutzbrille, dem breiten Schädel und den zentimeterkurzen Haaren sah er aus wie ein Rocker, den man zu einem Arbeitseinsatz verurteilt hatte. Er warf nur einen kurzen Blick auf Rudi, stellte weiter keine großen Fragen, sondern meinte nur, wenn er wolle, könne er morgen bei ihm anfangen.

„Alles klar“, freute sich Rudi.

Jens bewohnte eine Altbauwohnung, deren Ausmaße Rudi in Staunen versetzte. Eine Wohnung mit sieben Zimmern und zwei Bädern hatte er noch nie zuvor gesehen. Jedes Zimmer war in einer anderen Farbe gestrichen, von einem zarten Gelb bis zu einem kräftigen Rot. Auf den Parkettböden lagen schwere Teppiche, an den Wänden hingen Bilder, alte Waffen, fremdartige Masken aus allen möglichen Ländern. Figuren aus Holz und Metall standen teils frei im Raum, teils auf Regalen. Ein abstrakter Vogel aus Draht und Gips schien frei in der Luft unter der Flurdecke zu schweben, bis Rudi die durchsichtigen Nylonfäden entdeckte, an denen er aufgehängt war.

Sein Gastgeber zeigte ihm das Zimmer, in dem er schlafen konnte. Es hatte dunkelrote Wände und war im Kolonialstil eingerichtet. Als Tisch diente etwas, das wie eine Schatztruhe aussah.

„Das war mal ein Schiffskoffer“, erklärte er. Zwischen dem Schiffskoffer und dem Bett lag ein Tigerfell mit Kopf.

„Ist der echt?“ fragte Rudi ungläubig und tippte den Tigerkopf vorsichtig mit dem Fuß an.

„Na klar ist der echt.“

Über dem Bett hing ein Moskitonetz, rechts und links auf den Nachtkästchen standen bunte Vasen und ein großes Glas mit Meeressand und silbrig schillernden Muscheln.

„Die sind aber nicht echt“, sagte Rudi.

„Doch, sind sie“, lächelte Jens und machte eine ausladende Armbewegung, „alles, was du hier siehst, habe ich alles von Reisen mitgebracht. Na ja, fast alles.“

Das verdankte er seinem Job, wie er erzählte, denn er war für Filmfirmen in der ganzen Welt unterwegs und suchte nach geeigneten Drehorten.

„Toll“, sagte Rudi und fuhr bewundernd mit der Hand über den glatten Granit zweier Figuren, die ineinander verschlungen waren.

„Die zwei Ringkämpfer. Hat der Lutz gemacht.“

„Der die Grabsteine macht?“

„Richtig.“

Jens legte Handtücher heraus und zeigte ihm eines der zwei Bäder: „Geh dich erst mal duschen. Ich glaube, das brauchst du am dringendsten. Was ist, warum schüttelst du den Kopf?“

„Och nix“, meinte Rudi, „ich hab nur gerad’ gedacht, dass das Badezimmer größer ist als das Wohnzimmer von meinen Eltern.“

So ein Bad hatte er natürlich noch nie zuvor gesehen. Das Bidet stand unter einer künstlichen Palme, die Badezimmerdecke war als blauer Sternenhimmel ausgestaltet. Sogar ein Telefon gab es, und aus zwei Lautsprechern in der Decke rieselte Musik. Während er duschte, kam Jens herein und fragte, ob die Musik seinem Geschmack entspräche? Ja, versicherte Rudi, das ginge schon in Ordnung. Er kannte den Sänger zwar nicht – es war Leonard Cohen – aber da er keinen besonderen Musikgeschmack hatte, war es ihm auch ziemlich egal. Allein die Tatsache, dass er Musik im Badezimmer hören konnte, in stereo aus zwei Deckenlautsprechern, beeindruckte ihn sehr.

Jens wartete, bis er aus der Dusche herauskam. Während er sich abtrocknete, machte ihm Jens Komplimente zu seinem schönen Körper, womit er ihn in ziemliche Verlegenheit brachte. Er selbst hielt seinen Körper für deutlich zu mager. Dann ging das Telefon und Jens verließ mit dem Telefonhörer in der Hand das Badezimmer. Nach diesem Telefonat sagte er Rudi, er müsse noch zu einem Termin, nicht ohne ihm vorher zu zeigen, wo er sich mit Essen und Getränken bedienen konnte: „Nimm dir, worauf du Lust hast.“

Rudi fragte nach einem Wecker, aber Jens winkte ab: „Brauchst du nicht, ich weck dich.“

Allein in der Wohnung, schritt er noch einmal durch alle sieben Zimmer und betrachtete in Ruhe die Einrichtung, genoss das beglückende Gefühl, nach Monaten miesester Absteigen und erniedrigender Behandlung in eine luxuriöse Märchenwelt eingetaucht zu sein, die neben Masken, Statuetten, Skulpturen, Vasen, Tigerfellen, duftender Bettwäsche und seidenen Hausmänteln Köstlichkeiten wie Champagner und Lachsschinken für ihn bereithielt. Den Champagner traute er sich nicht zu öffnen, aber von dem Schinken kostete er und von einer Salami mit hauchdünnen Nussscheiben. Dazu trank er Bier. Fernsehen schaute er so lange, bis er merkte, dass er immer wieder im Sessel einschlief.

Er lag längst im Bett und schlief fest, als sein Gastgeber sich geräuschlos neben ihn legte und ihn streichelte. Rudi brauchte einige Zeit, um wach zu werden und um zu begreifen, dass er verführt werden sollte. Als er den Lichtschalter neben dem Bett gefunden und Jens nackt in seinem Bett erblickte, sprang er mit einem Satz aus dem Bett, raffte das Tigerfell hoch und bedeckte sein Geschlecht mit dem Tigerkopf.

„Schleich dich, du Sau!“, brüllte er und hatte dabei vor Aufregung heftiges Herzklopfen, „raus hier!“

Jens lächelte müde und sagte: „Jetzt komm mal wieder runter, ja? Ist ja schließlich nix passiert, oder? Hast du noch nie was mit einem Mann gehabt?“

„Ich? Ja spinnst du?“, fauchte Rudi, „ich steh nicht auf Männer.“

„Das weißt du doch erst, wenn du’s probiert hast“, sagte Jens und machte dazu eine einladende Handbewegung.

„Leck mich am Arsch!“

„So will ich dich hören“, sagte Jens betont anzüglich, „na los, jetzt spiel hier nicht die Zicke. Du kommst auf deine Kosten, du musst nur ein bisschen locker werden, Jungchen. Magst du was trinken? Schampus? Whisky? Ist alles da.“

Rudi blickte sich suchend um, entdeckte seine Klamotten, riss sie an sich und rannte ins Bad. Sicherheitshalber schloss er die Tür hinter sich ab. Während er sich hastig anzog, überlegte er fieberhaft, wie er sich aus dieser saudummen Situation befreien könnte. Natürlich konnte er gehen, aber wohin? Eine Unterkunft konnte er sich nicht leisten. Andererseits erschien es ihm zu riskant, in der Wohnung zu bleiben. Er rechnete nicht wirklich damit, von Jens in Ruhe gelassen zu werden.

Von außen pochte es an der Badezimmertür.

„Sei nicht kindisch, mach die Tür auf! Es tut dir doch keiner was“.

„Verschwind’!“ rief Rudi aufgebracht zurück.

„Mach die Tür auf, hab ich gesagt!“ Die Stimme von Jens klang plötzlich drohend. „Ich will in mein Bad!“

„Geh doch in das andere Badezimmer“, gab Rudi zurück.

Es folgte ein heftiges und anhaltendes Hämmern mit der Faust gegen die Tür. „Aufmachen! Na wird’s bald?“

Der Wohnungsinhaber schien jetzt ernsthaft wütend zu sein. Rudi befielen Zweifel, ob es unter diesen Umständen noch gut für ihn wäre, die Tür zu öffnen. Er wusste nicht, ob Jens etwas getrunken hatte. Vielleicht hatte er sich sogar eine der alten Waffen geschnappt, die an den Wänden hingen. Er kletterte auf den Heizkörper und blickte durch das Badezimmerfenster nach draußen. Es war zu dunkel, um genau zu sehen, wo das Fenster hinführte. Die Wohnung lag im Hochparterre oder im ersten Stock, da war er sich nicht sicher. Angestrengt starrte er ins Dunkel hinunter. Wenn er nur sehen könnte, wie der Boden unterhalb des Fensters beschaffen war, ein Stück Rasen vielleicht, ein weicher Boden. Aber was er sah oder vielmehr zu sehen ahnte, ließ eher auf einen Hinterhof schließen, der geteert oder gepflastert war oder einfach nur aus einem Betonboden bestand. Er blickte sich im Badezimmer um. In einem Regal lagen frische, zusammengefaltete Badehandtücher.

Das Hämmern gegen die Tür wurde jetzt noch intensiver.

„Wenn du nicht sofort aufmachst, hol ich die Polizei. Dann verbringst du die Nacht in einer Zelle, du kleiner Arsch!“

Er verknotete die Badehandtücher zu einem Strang und schlang das obere Ende um das Drehventil des Heizkörpers, zog prüfend an den Badehandtüchern und stieg über die Heizung aus dem Fenster. Ohne zu wissen, wie weit seine Handtücher reichten, hangelte er sich an ihnen hinab. Zunächst schien sein Plan aufzugehen, aber irgendwo auf halber Strecke löste sich ein Knoten. Rudi stürzte ab und fiel mit einem Schreckensschrei auf ein Fahrrad, das mit ihm zu Boden ging und dabei einen kurzen, schrillen Klingelton von sich gab. Gleichzeitig ging das Hoflicht an, ausgelöst durch einen Bewegungsmelder. Irgendjemand rief aus einem offenen Fenster: „Hallo?“ Wie von Furien gehetzt, rannte Rudi durch die Hofeinfahrt zur Straße hinaus. Erst jetzt spürte er Blut warm über sein Schienbein laufen.

Lutz empfing ihn mit einem kritischen Blick. Rudi sah bleich und übernächtigt aus, seine Hose war aufgerissen und mit Blutflecken gesprenkelt.

„Ist was passiert?“ fragte Lutz.

„Hingefallen“, sagte Rudi knapp.

„Aha.“ Lutz ging an eine Schublade und suchte ein Pflaster heraus. „Da.“

Nachdem Rudi sich notdürftig verarztet hatte, wies ihn Lutz an, die Werkstatt und den Hof zu kehren, später, als er damit fertig war, erhielt er den Auftrag, die Werkstatt aufzuräumen. Danach widmete sich Lutz wieder seiner Arbeit an einem Grabstein, der etwa einen halben Meter hoch und einen halben Meter breit war. Auf Rudis Frage sagte Lutz, Grabsteine dieser Art nenne man „Kissenstein“, weil sie auf das Grab gelegt würden. Die wortkarge Art von Lutz verdarb ihm die Lust auf weitere Fragen.

Sie wollten gerade einen fertigen Grabstein aufladen, als Jens mit seinem schwarzen Saab im Hof vorfuhr. Man sah ihm an, dass er stinkwütend war. Er knallte die Tür seines Autos heftig zu und ging federnden Schritts auf Rudi zu, der spontan zurückwich.

„Hey hey hey!“, sagte Lutz warnend und setzte einen halben Schritt vor.

„Halt du dich da raus“, sagte Jens. Das klang mehr nach einer leeren Drohung. Tatsächlich wagte er es nicht weiterzugehen. Er deutete anklagend auf Rudi: „Wegen diesem kleinen Arschloch musste ich einen Schlüsseldienst kommen lassen, um mein eigenes Badezimmer aufzusperren. Außerdem hat er vier neue Badehandtücher von mir ruiniert. Teure Joop-Badetücher!“ Er wandte sich drohend an Rudi: „Das bezahlt du mir, kleines Arschloch. Jede einzelne Mark. Wie du das machst, ist mir egal.“

„Der ist nachts ins Schlafzimmer gekommen - “ setzte Rudi an, aber Lutz unterbrach ihn: „Ja, ja, schon gut.“

Er trat einen weiteren Schritt auf Jens zu: „Der Junge zahlt gar nix. Und du fährst jetzt ganz schnell vom Hof runter, bevor ich meine gute Laune verliere.“

Jens ging mit vor Wut dunklen Augen langsam rückwärts.

„Das wirst du noch bitter bereuen“, sagte Jens, „das wird dir noch einmal leid tun.“

Lutz zeigte mit dem Finger zur Hofeinfahrt: „Abmarsch.“

Jens schien einzusehen, dass es hier und jetzt für ihn nichts zu holen gab. Er setzte sich in sein Auto und fuhr etwas zu schnell rückwärts. Es gab ein hässliches Geräusch, als der Wagen mit dem hinteren rechten Kotflügel an einem Grabstein entlang schrammte. Jens trat hart auf die Bremse, sprang aus dem Saab und starrte fassungslos auf die frischen Kratzer. Seine Stimme überschlug sich, als er Lutz anbrüllte: „Dich mach ich fertig, du schwule Ratte. Das hat noch ein Nachspiel, das schwör ich dir.“

Lutz wedelte verächtlich mit der Hand und gab ihm zu verstehen, er solle verschwinden. Jens knallte die Fahrertür zu und fuhr mit quietschenden Reifen los.

„Okay, auf zum Friedhof“, sagte Lutz ganz ruhig zu Rudi, der den Wortwechsel zwischen den beiden verwirrt verfolgt hatte. Sie luden den Grabstein ins Auto und fuhren los.

„Der ist nachts zu mir ins Bett gestiegen“, sagte Rudi, „ich bin dann in das eine Badezimmer und von dort durchs Fenster raus.“

„Was, an seinen Badehandtüchern?“, sagte Lutz.

„Ja. Aber die haben nicht gehalten.“

„Hab mir schon so was Ähnliches gedacht.“

Rudi schwieg eine Weile, dann sagte er: „Wieso beschimpft dich Jens als schwule Ratte? Er ist doch selber schwul“.

„Ja, isser. Und ich auch. Wir waren mal zusammen“, sagte Lutz. „Aber mit Jens ist charakterlich nicht viel los, das hat mit schwul oder hetero nix zu tun. Verstehst du das?“

„Ja, ja“, sagte Rudi.

Nach einer Pause sagte Lutz: „Also, falls du wieder mal an Filmleute gerätst, sei vorsichtig.“

„Wieso?“

„Die sind erst mal scheißfreundlich zu dir, aber ihre Freundschaft ist nix wert. Sobald sie dich nicht mehr brauchen, lassen sie dich fallen wie eine heiße Kartoffel.“

„Aha“, sagte Rudi, und dachte bis zum Friedhof darüber nach, ob Lutz das nur wegen Jens sagte oder ob er vielleicht noch mehr Filmleute kannte.

Als sie den Grabstein aufstellten, ging ein scharfer Regenschauer nieder und er wäre bis auf die Haut nass geworden, wenn Lutz nicht noch eine Regenjacke mit Kapuze für ihn gehabt hätte.

Erst jetzt fiel ihm die Inschrift des Grabsteins auf. Nicht einmal einunddreißig Jahre war der Mann alt geworden.

So jung, dachte er. Das war doch nicht normal, dass einer so früh stirbt. Vielleicht ein Unfall. Oder Selbstmord. Ihm kam Schwerin in den Sinn und er wischte den Gedanken, dass er um ein Haar nicht einmal so alt wie der Verstorbene geworden wäre, fast ärgerlich berührt weg von sich.

„Solange du nix Besseres hast, kannst du in der Umkleide hinter der Werkstatt pennen“, sagte Lutz, als sie vom Friedhof zurück waren.

Rudi nickte dankbar.

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