Tatort Kuhstall

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Tatort Kuhstall
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Thea Lehmann

TATORT

KUHSTALL

Thea Lehmann

TATORT

KUHSTALL


Die Autorin

Thea Lehmann ist geboren und aufgewachsen am Ammersee in Oberbayern. Das Schreiben hat sie schon früh fasziniert, deshalb wurde sie nach dem Germanistikstudium Journalistin. 1998 verliebte sie sich in einen Sachsen und tauchte damit in eine völlig neue Welt ein: die sächsische Seele, die besondere Landschaft, die liebenswerte Sprache und eine Familiengeschichte, die eng mit dem Kirnitzschtal verbunden ist. Heute lebt sie mit Mann und Kind in der Nähe von München, verbringt aber so viel Zeit wie möglich in der Sächsischen Schweiz.

Impressum


© DDV EDITIONSächsische Zeitung GmbHOstra-Allee 20, 01067 Dresdenwww.ddv-edition.de© Reihengestaltung und Umschlagillustrationwww.oe-grafik.de

Autorin: Thea Lehmann

Grafische Gestaltung: Thomas Walther, BBK

Satz: Ö GRAFIK agentur für marketing und design

Druck: CPI Moravia Books GmbH

Alle Rechte vorbehalten | Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-943444-76-6 (Print)

ISBN 978-3-948916-10-7 (Epub)

ISBN 978-3-948916-11-4 (Mobi)

Prolog

»Aber ich habe dich doch …!« Den Rest des Satzes konnte er nicht mehr artikulieren. Stattdessen fuhr ein Schrei aus seiner Kehle, als ihm klar wurde, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen hatte. Er hatte noch so viel zu erklären, so vieles vor, nachdem er endlich den roten Faden seines Daseins wiedergefunden hatte. Mit rudernden Armbewegungen fiel er ins Nichts, vor seinem geistigen Auge spulten sich die Bilder seines ganzen Lebens ab. Die Waldspaziergänge mit dem Vater, seine Mutter abends an seinem Bett, die Schule, seine Freunde, die Uni, der Mondscheinengel, das Unglück, die Schmerzen – und die Todesangst. Nach zwei Sekunden prallte er mit einem dumpfen Schlag auf den Waldboden. Ein faustgroßer Stein bohrte sich bis zum Stammhirn durch seinen Hinterkopf. Er war sofort tot.

Sanft wiegten sich die Zweige, die er gestreift hatte, dann war es wieder still und friedlich. Die Vögel, die kurz verstummt waren, zwitscherten wieder ihr Morgenlied und die Insekten summten durchs Unterholz. Im Gesicht des Mannes war keine einzige der heftigen Emotionen mehr zu lesen, die ihn zuvor überwältigt hatten: Liebe, Glück, Panik und schließlich die Gewissheit seines sicheren Todes.

Sonntag

»Ahhh, eine Calliphora!« Liebevoll betrachtete Rigobert Bausewein die blau schillernde Schmeißfliege, die sich vor ihm auf dem voll erblühten, giftigen Fingerhut am Nektar labte. Zwischendurch putzte sie sich emsig, dann wandte sie sich wieder den Staubgefäßen zu. Bei jeder Bewegung schimmerte ihr Panzer im Sonnenlicht. Vier Stunden lang hatte Bausewein das warme Juniwetter abseits der Pfade im Wildensteingebiet im Nationalpark Sächsische Schweiz für eine ausgiebige Erkundungstour nach seltenen Insekten genutzt. Nun war er auf dem Weg zurück zur Haltestelle der Kirnitzschtalbahn am Gasthaus Lichtenhainer Wasserfall. Bisher hatte er wenig Interessantes entdeckt. Wie es schien, winkte ihm nun aber doch noch das Glück. Die Calliphora war zwar nicht gerade rar, aber doch mit Abstand seine Lieblingsfliege. Sie saß immer noch auf dem Fingerhut und putzte sich die Vorderbeine. Dann kam noch eine Fliege und dann noch eine.

Bausewein träumte davon, eine bisher unbekannte Art der Schmeißfliege zu entdecken. Eine Calliphora Bauseweina wäre die Krönung seines Fliegenforscher-Lebens. Leider war es unmöglich, die einzelnen Arten mit bloßem Auge zu unterscheiden. Der einzige Weg zum Ruhm war, jedes einzelne Exemplar unter dem Mikroskop zu bestimmen.

»Wunderbar!«, murmelte der pensionierte Finanzbeamte angesichts des Andrangs auf der Pflanze und legte langsam und vorsichtig seinen Rucksack ab, um die Insekten nicht zu verscheuchen. Ohne die Augen von den Fliegen zu wenden, kramte er mit routinierten Handgriffen eine Plastikdose heraus. Um diese Wunderwerke der Natur einzufangen, gab es verschiedene Methoden. Rigobert Bausewein hatte die Erfahrung gemacht, dass man sie am besten mit dem lockte, was die Schmeißfliegen zur Eiablage suchen: Aas.

In der Plastikdose hatte er die Innereien vom Freitags-Brathuhn dabei. Heute, zwei Tage später, waren die in einem Stadium der Verwesung, das jede Aas liebende Fliege erfreuen würde. Bausewein holte tief Luft und öffnete beherzt den Behälter. Er versuchte, so lange nicht einzuatmen, bis der widerliche Geruch etwas verflogen war. Als er die Dose mit dem Köder in Richtung der rosa und weißen Fingerhüte hielt, erlebte er eine Überraschung. Ein ganzer Schwarm von Schmeißfliegen stürzte sich augenblicklich auf das Aas und in der Dose wimmelte es plötzlich von dreißig oder mehr Insekten!

Bausewein wusste, was das bedeutete: Irgendwo in der Nähe lag ein totes Tier. Er schloss den Deckel seiner Köderdose und packte sie in den Rucksack. Dann machte er sich auf die Suche. Über seine Liebe zu den Zweiflüglern, insbesondere zu den Fliegen, und seine Begeisterung für Kriminalromane hatte er ein zusätzliches Hobby gefunden: Er übte sich darin, anhand der auf ihrem Aas auftretenden Larven den Todeszeitpunkt verendeter Tiere zu bestimmen.

Die Schmeißfliegen zeigten ihm die Richtung. Er entfernte sich vom Wanderweg unterhalb des Kuhstalls, hin zum hoch vor ihm aufragenden Felsmassiv der Zyklopenmauer. Bald stieg ihm ein unguter, fauligsüßlicher Geruch in die Nase. Als er sich umsah, entdeckte er jedoch nur ein paar überreife Stinkmorcheln. Erst, als er fast unmittelbar vor der Felswand stand, begriff er, was die Schmeißfliegen so zahlreich angelockt hatte. Allerdings war es nicht das, was Rigobert Bausewein erwartet hatte. Erschrocken prallte er zurück, um gleich darauf voller Panik zurück zum Wanderweg zu hasten. Dort legte er die Hände auf die Oberschenkel und atmete mehrfach tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Mit seinen achtundsechzig Jahren hatte er ja schon einiges erlebt. Jetzt aber war er ernsthaft erschüttert.

Doch offenbar war er heute noch nicht genug strapaziert worden. Die nächste böse Überraschung kam ihm auf dem Wanderweg vom Großen Winterberg entgegen: eine Gruppe von Wanderern, denen es an allem fehlte. Normalerweise hätte er sich sofort ins Unterholz verdrückt. Angesichts seines Fundes durfte er allerdings nicht übertrieben zimperlich sein. Er überwand sich und sprach die Leute an.

Hatte er das wirklich gewollt? Während sich Leo Reisinger zum Schausonntag durch die Wohnwelten eines Dresdner Möbelhauses schlängelte, suchte er hinter Schranktüren und Kommodenschubladen vergeblich einen Ausweg. Was er im April so leichtherzig angeregt hatte, war Wirklichkeit geworden: Veronika lebte seit drei Wochen bei ihm in Dresden. Sie hatte für ein Vierteljahr um Versetzung vom bayerischen Fürstenfeldbruck gebeten und war in einer Filiale ihrer Bank im Stadtteil Tolkewitz untergekommen. Veronika hatte diesen vorübergehenden Umzug zu ihrem Projekt gemacht und jede Menge Optimierungspotenzial erkannt. Leos Welt war seither aus dem Gleichgewicht geraten. So wunderbar es war, diese Frau so nah bei sich zu haben, so irritierend war es gleichzeitig. Er fand seine Sachen nicht mehr – Veronika nannte das »die Wohnung ein wenig organisieren«. Er bekam abends Dinge wie Kürbisnocken zu essen – Veronika hatte festgestellt, dass er viel zu viel Fleisch aß. Er begrüßte den neuen Tag nun mit dem »Einbeinigen Kranich« – Veronika war sich sicher, dass Yoga sein ständiges Getriebensein bremsen würde.

»Wir brauchen noch Möbel«, hatte sie gestern gesagt.

»Unsinn, ich bin doch nur noch bis Ende des Jahres hier in Dresden, wozu soll ich da Möbel einkaufen?«, hatte er geantwortet. Sie aber hatte seinen Protest nicht akzeptiert: »Wenn ich hier wohne, will ich mich auch wohlfühlen!«

Also hatte er sich gefügt. Leo hatte sich vor über einem Jahr für einen zweijährigen Aufenthalt bei der Kripo Dresden gemeldet. Dass seine Wohnung hier eher wie eine Studentenbude aussah, hatte ihn nie gestört. Doch nun war er in seinem eigenen Reich plötzlich nicht mehr der Herr, Veronika hatte das Zepter übernommen. Es wäre besser gewesen, wenn sie sich gemeinsam eine neue Wohnung gesucht hätten. Aber für ein halbes Jahr lohnte das nun wirklich nicht. Leo war unzufrieden. Scheinbar interessiert beugte er sich tief über eine Kommode und studierte das Preisschild, als er unsanft von hinten angerempelt wurde.

»He, Alter, musste da rumstehen? Mach mal Platz!«

Ein stämmiger junger Mann mit Jogginghose und Baseball-Cap hatte ihn beim Vorbeigehen angerempelt und war offenbar auf Ärger aus.

Leo richtete sich betont langsam zur vollen Größe auf, drehte sich um und setzte seinen Kriminalkommissar-Blick auf.

»Wie bitte?«

Der Typ sah ihn an, zog den Kopf ein und verschwand murmelnd hinter den Wohnzimmerschränken.

 

»Tschuldigung.«

Mit solchen Typen wusste er umzugehen. Sie konnten riechen, dass er Polizist war und sich von Blendern nicht einschüchtern ließ.

Bei Veronika allerdings war er machtlos. Sie konnte seine Bedenken kurzerhand wegwischen und ihn gegen seinen Willen ins Möbelhaus schleppen.

Obwohl sie schon jahrelang ein Paar waren, hatten sie noch nie zusammengewohnt. Und diese drei Monate jetzt, die waren nur der Vorgeschmack auf die Zukunft: Heiraten, Kinder, ein Leben mit Veronikas Großfamilie im heimatlichen Hinterland bei Fürstenfeldbruck. Aber Leo durfte nicht jammern. Er hatte sich das alles selbst eingebrockt, als er sie aufgefordert hatte, ein Leben außerhalb des Dunstkreises ihrer Familie auszuprobieren und zu ihm zu kommen. Und es gefiel ihm ja auch.

Doch heute, an einem herrlichen Juni-Sonntag, durch dieses Möbelhaus zu laufen, fand er einfach nur dumm. Sie hätten so wunderbar eine Tour mit dem Rad entlang der Elbe unternehmen können, hinüber nach Radebeul oder auch in die andere Richtung, nach Pirna. Stattdessen stand er hier im künstlichen Licht, hatte die chemischen Gerüche nagelneuer Möbel in der Nase und war kurz davor, ärgerlich zu werden.

Er sah sich um. Wohin war Veronikas kurzer Haarschopf nun wieder verschwunden? Zielstrebig strich sie seit über einer Stunde zwischen den Möbeln herum und rief ihn mal von dieser, dann von einer anderen Ecke. Ihr bayerischer Zungenschlag ließ die übrigen Kunden immer wieder aufhorchen. Leo drehte sich langsam um die eigene Achse, um zwischen Sofas, Betten, Schaukelstühlen und Nippes seine Freundin zu entdecken.

Sie winkte ihm fröhlich aus der Schlafzimmerabteilung zu. Auf dem Weg zu ihr versuchte er, sich ein Lächeln ins Gesicht zu zwingen.

»Da, die da, die ist doch schön, oder? Was sagst du zu der?« Veronika begutachtete fachmännisch eine auf Hochglanz polierte Kommode.

"Nein, keine weißen Möbel! Dann sieht meine Wohnung ja aus wie ein Mädchenzimmer!"

»Quatsch. Das ist hochmodern und sorgt für eine klare Atmosphäre!«

Leo schüttelte den Kopf. »Nein, bitte nicht!« Er deutete auf ein anderes Modell: »Was ist mit der?« Veronika umrundete die schlichte, aus gewachstem Fichtenholz zusammengefügte Kommode abschätzig.

»Das ist voll Achtzigerjahre, so was fand meine Mutter schick, als sie so alt war wie ich jetzt!«

Leo seufzte. Immerhin hatte er an diesem Wochenende Bereitschaft und so die Chance, dass noch etwas passierte.

Veronika war weitergeschlendert und prüfte die Schubladen an einem Modell, bei dem jede eine andere Farbe hatte. Schon beim Anschauen wurde Leo Reisinger nervös. Doch bevor er einen freundlich formulierten Einwand loswerden konnte, vibrierte sein Smartphone. War das die Rettung? Er holte es aus der Tasche.

»Kriminalkommissar Reisinger, was gibt’s?«

Sascha Pröve setzte mechanisch einen Schritt vor den anderen, während er mit einer Mischung aus Unglauben und Staunen in den Anblick des runden Hinterns der Wanderin vor ihm versunken war. Diese niedlichen Grübchen, was für Aussichten! Dagegen konnte das Panorama mit Neuem Wildenstein und Winterbergspitze nicht mithalten. Er war mit einer Gruppe von neun Leuten im Nationalpark Sächsische Schweiz unterwegs, ein Wandergebiet, das gleich vor den Toren Dresdens lag und das er bestens kannte.

Sein kleiner Rucksack scheuerte ein wenig am Rücken, aber die Temperaturen im Juni waren angenehm und er hatte hoffentlich genügend Mückenschutzmittel und Sonnencreme aufgetragen, um kein Risiko einzugehen. Es war bereits Nachmittag, die Sonne fiel schräg durch die Bäume und streichelte mit wundersamen, flirrenden Lichtfingern das Moos am Waldboden. Wie gut, dass er sich aufgerafft hatte, sich dieser Wandergruppe anzuschließen! Sascha fühlte sich ungewohnt frei und angeregt, müde vom Wandern und trotzdem zufrieden.

Er wurde aus seinen Betrachtungen gerissen, als sich ein aufgeregter älterer Herr seiner Wandergruppe in den Weg stellte.

»Hat jemand von Ihnen ein Handy? Wir müssen die Polizei anrufen. Da vorne liegt ein toter Mann am Fuß der Felswand unterhalb vom Kuhstall!«

Erschrocken blieb die Wandergruppe stehen. Alle kramten in ihren Rucksäcken, doch niemand hatte Netz. Sascha überlegte, ob er sich als Kriminalpolizist zu erkennen geben sollte. Wenn er es tat, bedeutete das, dass die Wanderung und sein freier Sonntag beendet waren. Andererseits konnte er damit bei der wohlproportionierten Melanie, die die meiste Zeit vor ihm gelaufen war, sicherlich Eindruck schinden. Er zögerte nicht lange.

»Ich arbeite als Kriminalkommissar bei der Kripo Dresden«, gab er sich zu erkennen. Ein Raunen ging durch die Gruppe.

»Wartet bitte einen Moment. Ich sehe mir das an.«

Sascha ließ sich von dem alten Herrn die Fundstelle zeigen, warf von Weitem einen Blick auf den Leichnam und eilte sofort zurück:

»Zwei Leute gehen bitte hoch zum Kuhstall, da gibt es vielleicht Handy-Empfang oder ihr nutzt den Festnetzanschluss des Gasthauses. Ruft die Kripo in Dresden an und sagt denen, dass wir hier einen Toten haben und dass ich vor Ort bin. Die sollen ein paar Beamte und die Spurensicherung schicken. Ich gebe euch die Nummer.«

Klaus, der Organisator der Wandergruppe, und Sandro machten sich auf den Weg. Sandro drehte sich noch mal um: »Wie heißt du, wegen des Telefonats?«

»Pröve. Kriminalkommissar Sascha Pröve. Die von der Bereitschaft kennen mich.«

»Und wir? Was machen wir?« Die dunkelblonde Frau, die das fragte, war diejenige, der Sascha so fasziniert hinterhergelaufen war. Ihr bewundernder Blick eben war ihm nicht entgangen. Sascha sah seine Chance, Eindruck zu machen, endgültig gekommen. Dafür, dass er sich als Neuer der Gruppe angeschlossen hatte, boten sich jetzt viele Möglichkeiten. Er räusperte sich.

»Also, Zivilisten haben an einem Fundort eigentlich nichts zu suchen. Ihr könnt weitergehen oder hier warten, bis Sandro und Klaus zurück sind. Nachdem es aber mindestens eine Stunde dauern wird, bis die Kollegen aus Dresden kommen, könnte ich hier schon ein wenig Hilfe brauchen.«

Er sah Melanie an.

»Zum Beispiel wäre es toll, wenn jemand Fotos machen könnte und wenn einer von euch Papier und Stift hätte, um die Personalien des freundlichen Herren hier aufzunehmen. Ich habe nichts zum Schreiben dabei.« Er deutete auf den Wanderer, der die Leiche gefunden hatte. »Aber nur, wer sich das zutraut.«

Natürlich war ihm klar, dass es Unsinn war, die Laien hier einzuspannen. Wahrscheinlich würde er sich von seinem Chef Richter und auch von Manni Tannhauser, dem Leiter der Spurensicherung, sogar einen Rüffel einhandeln. Anderseits machte es ihm außerordentlich großen Spaß, hier das Kommando zu übernehmen.

Die Gruppe fügte sich sofort.

Melanie holte eine kleine Kamera hervor. »Ich mache die Fotos und habe auch etwas zum Schreiben«, verkündete sie. Sascha nickte. Es war ihm sehr recht, dass nicht mit dem Handy fotografiert wurde und die Fotos womöglich eine Stunde später schon im Internet kursierten.

»Ich komme auch mit!«

Der junge Mann mit Dreadlocks in den Haaren, er hieß Jan, machte einen abenteuerlustigen Eindruck. Er ließ sich von Melanie einen Kugelschreiber und ein kleines Notizbuch geben. Die Ehepaare Lenke und Käserer entschieden sich zu warten, ebenso Sandros Frau Monika und das zehnte Mitglied der Gruppe, ein schweigsamer Mann mit langen, grauen Haaren und Bart.

Sollte er sich jetzt anziehen oder nicht? Sascha entschied, dass er im Dienst doch lieber Hemd und Hose tragen sollte, und holte seine Sachen aus dem Rucksack. Melanie und Jan taten es ihm gleich.

Zu dritt machten sie sich mit dem aufgeregten Finder nochmals auf den Weg. Dieser hatte sich, nachdem sie angezogen waren, sichtlich erleichtert als Rigobert Bausewein vorgestellt. Sascha ließ ihn wieder vorangehen. Hinter ihm kam Melanie und machte bereits ein Foto nach dem anderen.

»Nichts wegwerfen, nichts aufheben, in einer Reihe gehen!«, kommandierte Sascha.

Nach wenigen Minuten blieb Bausewein stehen. Sascha hob die Hand, um die anderen zum Warten zu bewegen, und ging allein die noch ausstehenden Meter zu dem leblosen Körper.

Der Mann lag auf dem Rücken, die Beine zur Felswand, die Arme weit ausgebreitet. Seine Augen waren offen, aber voller Fliegen. Er trug eine sandfarbene Stoffhose, ein Hemd mit dezentem, grün-beigem Karomuster und darüber eine helle Wanderjacke. Sein Kopf war offensichtlich auf einen Stein aufgeschlagen, das Erdreich darunter war dunkel getränkt von Blut. Der Körper lag friedlich da, fast, als hätte sich der Mann so hingelegt. Sascha ließ seinen Blick schweifen: Es lagen keine Gegenstände herum, kein Rucksack, keine Kleidungsstücke, nichts, was zum Toten gehören könnte.

»Ich schätze den Mann auf etwa fünfundfünfzig Jahre«, sagte er in wichtigem Ton und erntete ein zustimmendes Nicken seiner drei Begleiter. Das Haar des Toten war grau und schütter, sein Körper lang und schmal. Sein Gesicht wirkte irgendwie schief.

»Länger als zwei Tage«, so schätzte Sascha, »liegt er noch nicht hier.«

Er schaute nach oben, dahin, wo auch der Blick des Toten ruhte. Genau über ihnen ragte die Zyklopenwand gegen den Himmel. Sascha drehte sich um und verkündete: »Ich vermute, er ist gestern oder vorgestern von oben abgestürzt und war sofort tot.«

»Oh Gott, der arme Mann!« Melanie hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen. Jan sah sehr käsig aus.

»Ein Bergsteiger ist er allerdings nicht, eher ein Wanderer. Merkwürdig, dass niemand den Unfall mitbekommen hat. Da oben sind doch ständig Leute unterwegs, vor allem am Wochenende.«

Sascha stand, ihre Arme in die Hüften gestemmt, neben dem Toten und betrachtete die Felswand.

»Vielleicht hat er das Gleichgewicht verloren«, sinnierte er. »Das sieht jedenfalls sehr nach einem Unfall aus. Aber man weiß ja nie. Die Spurensicherung und der Pathologe werden klären, wann und wie genau der Mann abgestürzt und zu Tode gekommen ist.«

Rigobert Bausewein, der den Toten gefunden hatte, räusperte sich:

»Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ziemlich genau sagen, seit wann der Mann tot ist. Ich bin Fliegenforscher. Die Schmeißfliegen geben zuverlässige Hinweise, wenn es darum geht, den Todeszeitpunkt festzustellen. Jede Fliegenart hat ihren eigenen Reproduktionsrhythmus, das nutzt die forensische Entomologie auch in der Kriminalistik. Wenn ich mal nachsehen soll, ob es schon Maden gibt und wie groß die sind …«

Mit einem dumpfen Plumps sackte Jan in sich zusammen. Sascha beobachtete, wie Melanie sich über den Ohnmächtigen beugte und ihm ein paar Klapse auf die Wangen gab, bis er die Augen wieder aufschlug. Sie riet ihm, sitzen zu bleiben und tief aus- und einzuatmen, bis er sich besser fühlte. Dann zückte sie wieder die Kamera und hielt jede Geste von Sascha fest. Der lächelte ihr anerkennend zu und reckte beide Daumen hoch. Tolle Frau, fand er.

Auch über das Angebot des älteren Herren war er hocherfreut.

»Wie schön, einen Spezialisten vor Ort zu haben. Legen Sie los, aber fassen Sie nichts an und verändern Sie nichts an dem Leichnam!« Bausewein trat näher heran und inspizierte den Kopf des Toten.

Dass sich die Fliegen an der Kopfverletzung, an Augen, Nase und Mund tummelten, machte das Bild sehr makaber. Selbst Sascha, der schon einige Leichen gesehen hatte, spürte, dass ihm flau im Magen wurde. Rigobert Bausewein allerdings konzentrierte sich ausschließlich auf die Fliegen und die Stellen der Eiablage.

»Hier, Calliphora vomitoria, es gibt erst ganz wenige, kleine Maden. Die haben gestern ihre Eier abgelegt. Der Mann kann noch nicht länger als achtundzwanzig bis dreißig Stunden hier liegen, sonst sähe das ganz anders aus. Nach drei Tagen wäre das Gesicht über und über mit Maden …«

Hinter ihnen erbrach sich Jan auf ein duftiges Moospolster.

Melanie seufzte und sagte: »Ich kümmere mich mal.« Sie zog Jan hoch, legte seinen linken Arm um ihre Schulter und führt ihn zurück zum Wanderweg.

Sascha und Bausewein sahen den beiden nach. Dann richtete sich Bausewein auf und sagte:

»Ich glaube, ich kenne den Mann. Das ist Dr. Stefan Schüppel aus Bad Schandau.«

Als Leo Reisinger mit Manni Tannhauser und zweien seiner Mitarbeiter nach einer guten Stunde im Kirnitzschtal ankam, saß Sascha völlig entspannt neben einer dunkel-blonden Frau mittleren Alters am Wegesrand. Die beiden unterhielten sich angeregt.

»Servus, Sascha! Mensch, hierher hätte ich ja nie allein gefunden.« Leo sprang aus dem Wagen, kaum dass er angehalten hatte, und schaute sich um. Sascha stellte ihn als »mein Kollege aus Bayern« vor und begrüßte die Kollegen der Spurensicherung, dann wandte er sich wieder der Frau an seiner Seite zu.

 

Leo atmete die würzige Waldluft ein und betrachtete interessiert die mächtige Felswand vor ihnen. Einige Polizisten in Uniform liefen durchs Gelände, wohl um die Unfallstelle abzusperren.

Manni Tannhauser, Chef der Spurensicherung, kannte sich wie die meisten Dresdner bestens im Nationalpark aus und war vom Kirnitzschtal aus ohne zu zögern auf für den Verkehr gesperrten Waldstraßen bis zum Fundort hinter dem Neuen Wildenstein gefahren. Zuvor hatte er Leo am Stadtrand von Dresden direkt am Parkplatz des Möbelhauses aufgelesen.

Veronika hatte ein langes Gesicht gezogen. Leo hatte zwar so getan, als ob er nur ungern diesem Anruf aus der Zentrale Folge leiste, doch insgeheim war er so froh gewesen, dort wegzukommen, dass sie es wahrscheinlich gemerkt hatte.

»Unser Dr. Gräber ist in Leipzig, der kommt heute nicht«, erklärte Tannhauser in Saschas Richtung, als er den Koffer mit seinen Utensilien aus dem Wagen hievte. »Wo ist die Leiche? Ich will hier nicht den ganzen Abend verbringen, ich habe heute noch was vor«, grummelte er angesichts der Plauderstimmung am Wegesrand und brachte seine zwei Mitarbeiter auf Trab.

Sascha riss sich los und kam zu seinen Kollegen.

»Da drüben, direkt an der Zyklopenmauer. Ein Wanderer mit Namen Rigobert Bausewein hat ihn gefunden. Alles notiert.« Sascha deutete mit einem Schreibblock nach hinten zur Felswand. Bevor er sich mit den anderen Beamten auf den Weg machte, schaute er der Dame am Wegesrand noch mal kurz und tief in die Augen.

»Bis morgen, Sascha!« Ihre Stimme hatte ein spezielles Timbre, als sie seine Hand losließ.

»Bis morgen, Sascha?«, echote Leo, als er hinter seinem Kollegen zwischen Bäumen hindurch in Richtung Felswand marschierte.

»Die ist echt toll, oder?«, kam zur Antwort. Leo lächelte. Er hatte angenommen, Sascha sei unsterblich in ihre gemeinsame Kollegin Sandra Kruse verliebt. Aber nachdem die ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass das nichts werden würde mit ihm und ihr, war er offenbar erfolgreich dabei, sich zu trösten.

»Ich war, ehrlich gesagt, ganz froh, dass ich den Anruf bekommen hab. Sonst hätte ich noch zwei Stunden durch Möbelhäuser laufen müssen.« Leo atmete hörbar durch. »Hier ist es doch viel schöner.«

»Jetzt werdet endlich sachlich!«, polterte Manni Tannhauser. Er verströmte wie immer einen Geruch nach verschwitzten Polyesterhemden und war nicht zu privaten Gesprächen aufgelegt. Hinter ihm liefen seine zwei Kollegen von der Spurensicherung und vier Polizisten.

Nach einem kurzen Fußmarsch hielt Sascha die Gruppe an und deutet nach vorn zur Felswand: »Da ist es. Es sieht aus, als wäre er einfach runtergefallen. Der Zeuge Bausewein ist Insektenspezialist und hat den Todeszeitpunkt auf Samstag zwischen neun und zwölf Uhr bestimmt. Mal sehen, ob Gräber derselben Meinung ist. Der Zeuge hat mir außerdem gesagt, dass er den Toten kennt. Es handle sich um einen Dr. Stefan Schüppel aus Bad Schandau. Angefasst habe ich nichts, nur aufgepasst, dass keiner die Leiche berührt, und mich mit dem Herrn Bausewein unterhalten, bis der darum bat, heim zum Sonntagabendkrimi zu dürfen. Ich werde aber morgen noch mal mit ihm telefonieren. Er ist Pensionär, wohnt in Königstein und steht uns jederzeit zur Verfügung.«

Während die Spurensicherer begannen, das Gelände um die Leiche herum abzusuchen, schoss Tannhauser Fotos vom Fundort. Leo Reisinger ließ das Bild auf sich wirken. Der Tod als Anlass einer Ermittlung war nie schön, aber hier herrschte immerhin eine friedliche Ruhe. Der Gesichtsausdruck des Toten, die Art, wie er lag – all das sah eher nach einem überraschenden Ende aus, nicht nach Gewalt, Qual und Todesangst wie in anderen Fällen, die sie in seiner Abteilung bearbeiteten. Leo schaute nach oben. Eine mächtige Sandsteinwand, mindestens fünfzig Meter hoch, ragte senkrecht in den Himmel. Wo sie endete, konnte er weder auf der linken noch auf der rechten Seite erahnen. Dieses Sandsteingebirge war schon eine interessante Gegend, stellte er fest.

»Was ist da oben?«, fragte er Sascha und erntete von allen Anwesenden irritierte Blicke.

»Na, der Kuhstall!«

Das hatte er schon mal gehört. Aber er hatte keine Ahnung, womit er es zu tun hatte.

»Und wie ist der Mann da hochgekommen?«

Die nackte Felswand flößte Leo Respekt ein. Bestimmt gab es einen Weg hinauf, den die Sachsen zur Not mit Badeschlappen gingen, das kannte er von der Häntzschelstiege, die ihn der Nationalpark-Ranger im letzten Jahr hochgejagt hatte.

»Sei bloß froh, dass Sandra nicht hier ist«, feixte Sascha. »Die würde dich jetzt wieder zusammenfalten. Der Kuhstall ist eine der großen Attraktionen in der Sächsischen Schweiz, eine riesige Felsenhöhle.«

»Ne, das ist keine Höhle, das ist ein Tor«, korrigierte ihn Tannhauser. Er hob den Kopf des Toten an und gab den Blick frei auf einen blutigen Stein, auf den der Mann mit dem Hinterkopf aufgeschlagen war.

»Wie lange bist du jetzt schon in Dresden?«, fragte der Chef der Spurensicherung.

»Eineinhalb Jahre«, antwortete Leo.

»Und noch nie da oben gewesen? Mannomann, was für ein Banause!« Tannhauser schüttelte den Kopf. Dann ließ er vorsichtig den eingedrückten Schädel sinken und leerte die Taschen des Toten. »Das ist, als ob ich in Garmisch Urlaub machen und nicht auf die Zugspitze fahren würde.« Er holte eine Brieftasche mit dem Ausweis und diversen Karten aus der Brusttasche der Jacke.

»Ich war auch noch nie auf der Zugspitze«, gab Leo zu. Bergwandern war nicht seine Leidenschaft. Lieber joggte er eine Stunde durchs Gelände und setzte sich dann mit einem interessanten Buch aufs Sofa, als den ganzen Tag im Stau Richtung Alpen zu stehen und mit Hunderten im Tross einen Berg hinauf und wieder hinunter zu laufen. Er wusste nicht, ob es ihm unangenehmer sein sollte, dass er den Kuhstall nicht kannte oder dass er noch nicht auf der Zugspitze gewesen war. Verlegen kratze er sich im Nacken. Tannhauser wandte sich wieder dem Opfer zu.

»Der Ausweis lautet auf den Namen Dr. Stefan Schüppel, geboren am 12. September 1965 in Bad Schandau. Er wohnt in Rathmannsdorf, das ist ein Ortsteil von Bad Schandau, in der Hohnsteiner Straße.«

»Genau wie der Herr Bausewein gesagt hat.« Sascha klopfte auf seinen Schreibblock.

Tannhauser klappte die Brieftasche wieder zu und sah Sascha an: »Wie ist es, bist du jetzt im Dienst und fährst mit dem Bayern da hin?« Er deutete auf Leo. »Der hat nämlich kein Auto.«

»Ja, mach ich.« Sascha drückte Tannhauser den Block in die Hand.

»He, das ist nicht deine Schrift«, protestierte der, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte.

»Die Personalien hat Melanie Opitz aufgenommen. Zwei Mitglieder meiner Wandergruppe haben mich begleitet.«

»Laien haben an so einem Fundort nichts zu suchen, das weißt du genau!« Tannhauser steckte den Schreibblock nur unwillig ein.

Leo wunderte sich ebenfalls über Sascha. Aber er nahm es nicht so genau, wenn es um seinen Kollegen ging. Mit Sascha zusammenzuarbeiten war immer angenehm, weil er ein freundlicher, verträglicher Mensch war. Er würde schon seine Gründe gehabt haben und er ahnte auch, welche das waren.

Sascha überhörte Tannhausers Vorwurf geflissentlich. Er nickte Leo zu.

»Los, mein Wagen steht vorn am Beuthenfall.« Er deutete nach links den Wanderweg hinunter.

»Moment, wir sollten erst dort oben nach Zeugen oder Spuren suchen«, sagte Leo und legte den Kopf in den Nacken. An der Felswand war nur der abgerundete Sandstein zu sehen, der gelblich in der inzwischen tiefstehenden Sonne schimmerte. Wie der Mann von dort hatte herunterfallen können, leuchtete ihm nicht ein. Das sah aus wie eine wirklich schwierige Kletterpartie, aber dieser Herr war definitiv nicht geklettert, sondern allenfalls spazieren gegangen.

Außerdem wollte Leo gern da hoch und endlich wissen, was dieser Kuhstall war.

»Das kann doch Manni mit seinen Leuten …« Sascha war offenbar nicht wild darauf, diese Höhe zu erklimmen.

»Nee, nee, nee, wir haben hier unten genug zu tun.« Tannhauser winkte ab. »Ihr könnt rauskriegen, von wo genau der heruntergefallen oder gesprungen ist. Wenn es Zeugen gibt, ist das ohnehin euer Bier!« Er drückte Leo eine Rolle weiß-rotes Absperrband in die Hand: »Wenn ihr den Platz gefunden habt, sperrt ihn ab, ich schicke dann zwei Leute hoch.«