Tod im Kirnitzschtal

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Tod im Kirnitzschtal
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Thea Lehmann

TOD IM

KIRNITZSCHTAL


Die Autorin

Thea Lehmann ist geboren und aufgewachsen am Ammersee in Oberbayern. Nach dem Studium der Germanistik entschied sie sich für den Beruf der Journalistin, weil das Schreiben sie schon immer faszinierte. 1998 verliebte sie sich in einen Sachsen und tauchte damit in eine völlig neue Welt ein: in die sächsische Seele, die liebenswerte Sprache und in eine Familiengeschichte, die eng mit dem Kirnitzschtal und seiner außergewöhnlichen Landschaft verbunden ist. Daraus entstand ihr erster Regionalkrimi. Sie lebt mit Mann und Kind in Oberbayern, verbringt aber so viel Zeit wie möglich in der Sächsischen Schweiz.

Impressum


© DDV EDITIONSächsische Zeitung GmbHOstra-Allee 20, 01067 Dresdenwww.ddv-edition.de© Reihengestaltung und Umschlagillustrationwww.oe-grafik.de

3. Auflage

Autorin: Thea Lehmann

Grafische Gestaltung: Thomas Walther, BBK

Satz: www.oe-grafik.de

Druck: Graspo CZ

Alle Rechte vorbehalten | Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-943444-47-6 (Print)

ISBN 978-3-948916-04-6 (Epub)

ISBN 978-3-948916-05-3 (Mobi)

Thea Lehmann

TOD IM

KIRNITZSCHTAL

1

Als sich die Kirnitzschtalbahn rumpelnd und quietschend durch die 180-Grad-Kurve am Nassen Grund quälte, kippte der einzige Passagier im hinteren der beiden Waggons zunächst zur Seite, dann rollte er auf den Boden. Von dem Mann kam allerdings kein Mucks, denn er war seit drei Minuten mausetot. In den folgenden zwanzig Minuten, in denen die Bahn gemütlich durch das inzwischen finstere Tal zuckelte, sich widerwillig mal in eine Rechts-, dann in eine Linkskurve legte, wurde der Körper des Mannes so oft hin und her gerüttelt, dass er schließlich, eingeklemmt unter den beiden hinteren Sitzreihen, an der Außenwand des Waggons zu liegen kam.

Die acht Kilometer von der Endhaltestelle am Wasserfall bis zum Stadtpark in Bad Schandau sind eine ziemlich kurvige Strecke, die die alte Dame Straßenbahn in rund 30 Minuten schafft. Das Gleis zieht sich seitlich der Straße entlang des Flüsschens Kirnitzsch hin. Die für die Gegend typischen senkrecht aufragenden Felswände des Elbsandsteingebirges im Nationalpark Sächsische Schweiz flankieren das Tal. An manchen Stellen ist es nur wenige Meter breit, die Felswände ragen dann zu beiden Seiten wie Mauern nach oben; an anderen Stellen weitet sich das Tal ein wenig, und zwischen Fluss und Straße ist Raum für magere, nasse Wiesen, ein wenig Gestrüpp und schlanke, nach oben strebende Fichten. Die Enge des Tales sorgt dafür, dass es schon früh dunkel wird an seiner Sohle, und selbst im Sommer zieht sich die Bahn dann wie ein leuchtender Bandwurm durch den Felsengrund, obwohl auf den Höhen noch angenehmes Dämmerlicht herrscht.

Das Tal war der Straßenbahnfahrerin Adele Schuster vertraut wie ihr eigener Hausflur. Seit über zehn Jahren fuhr sie die Bahn und brachte Touristen zu den Wandergebieten und wieder zurück nach Bad Schandau. Sie kannte auch jeden einzelnen Bewohner des Tales.

Seit der zweiten Station, dem Beuthenfall, war außer am Hotel Forsthaus auf dieser letzten Fahrt des Tages niemand mehr ein- oder ausgestiegen. Das war auch nicht verwunderlich, denn die Wanderer beeilten sich, in der einbrechenden Dunkelheit nach Hause zu kommen. Die Fahrt war in der Regel ruhig, die meisten Ausflügler saßen schon längst wieder in der S-Bahn nach Dresden oder in ihrem Wagen auf dem Weg nach Hause.

Als Adele Schuster in Bad Schandau am Stadtpark, der Endhaltestelle, ankam, verließen die vier letzten Fahrgäste die Waggons und machten sich auf den Weg hinüber Richtung Marktplatz.

Die Straßenbahnerin wartete, bis alle ausgestiegen waren, und rangierte die Bahn so um, dass der Triebwagen wieder in Fahrtrichtung stand. Sie nahm ihre Mütze und ihre Tasche von der hölzernen Ablage und strich sich die hellblaue Dienstbluse glatt. Ihre Arbeit mochte sie sehr. Es war viel besser, als irgendwo in einem Laden an der Kasse zu sitzen, auch wenn die Passagiere mitunter nervig und unfreundlich waren. Aber die Schönheit des Tales und der Wechsel der Jahreszeiten, die sie auf ihren Fahrten erlebte, gefielen ihr immer wieder aufs Neue. Sie schloss den Wagen mit dem Führerstand ab und überprüfte, ob von außen alles in Ordnung war. Dann warf sie einen kurzen Blick in den hinteren Wagen und verschloss auch dessen automatische Türen. Die gelbe Bahn würde bis zum Morgen an der Endhaltestelle stehen bleiben. Adele Schuster machte sich auf den Weg nach Hause und hatte nicht den leisesten Schimmer von ihrem toten Passagier.

Kriminaloberkommissar Leo Reisinger saß am Donnerstagvormittag an seinem Schreibtisch in der Dresdner Innenstadt und starrte auf die beiden Zettel vor ihm. Auf dem einen standen, mit flüchtiger Handschrift hingeworfen, der Name Mandy und eine Mobilfunknummer. Auf dem Papier in seiner anderen Hand stand, deutlich besser zu lesen, in ordentlichen Buchstaben: Tabea Nollau, außerdem eine Telefonnummer und eine E-Mail-Adresse. Leo erhob sich und schaute aus dem Fenster auf den belebten Pirnaischen Platz. Welche Nummer sollte er jetzt anrufen? Beide hatte er am Vorabend beim Sommerfest in der Alaunstraße ergattert. Die Erste, Tabea, war noch ziemlich jung, höchstens 20 Jahre alt, wahrscheinlich Studentin. Ihre lustigen kleinen Grübchen beim Lachen hatten ihn an Veronika erinnert. Sie hatte ihn mit großen, ungläubigen Augen angesehen, als er ihr unaufgefordert einen Gin Tonic gebracht hatte, um mit ihr anzustoßen. Es dauerte eine Weile, bis sie aufgetaut war, und anfangs bestand die Gefahr, dass sie mit ihrer Freundin die Flucht ergreifen würde. Aber die ließ sich von einem durchtrainierten Typen mit Wollmütze in die Feinheiten des Streetdance einweihen und dachte nicht daran zu gehen.

Leo hatte einen Blick für so was. Am leichtesten anzusprechen waren die Frauen, die mit einer Freundin da waren und plötzlich damit leben mussten, dass die Freundin angebaggert wurde, sie aber nicht. Nach einer Stunde hatte er die schüchterne Tabea so weit, ihm ihre Telefonnummer zu geben. Offensichtlich war sie ein braves Mädchen. Der Zettel mit den akkuraten, geraden Buchstaben und den geraden Zeilen roch geradezu nach Ordnung und Anständigkeit. Das forderte seinen Jagdinstinkt heraus. Dass sie sich kurz vor neun Uhr abends dann doch mit ihrer Freundin nach Hause verabschiedete, ohne ihn mitzunehmen, war nur deshalb keine totale Enttäuschung, weil sie ihm ihre Nummer in die Hand gedrückt hatte.

Also machte er sich weiter auf die Suche und wanderte mit seinem Bierglas die Straße entlang, bis er im Devils Kitchen Mandy entdeckte. Die war ein ganz anderes Kaliber als Tabea. Mandy war mindestens 30, also so alt wie er selbst, und trug einen Ehering am Finger. Sie hatte ihn geradezu herausgefordert, sie anzusprechen, ihre schwarzen langen Locken geschüttelt und ihm vielsagende Blicke zugeworfen. Auch sie war mit einer Freundin unterwegs, die sich lachend mit einer jungen Frau am Nebentisch unterhielt. Obwohl sie also genau das versprach, was er wollte, war sich Leo nicht ganz sicher. Bei Mandy hatte er also gezögert, seinen bayerischen Charme nur mit halber Kraft eingesetzt und sich nicht sofort eingelassen. Das ging ihm nun fast zu leicht. Ein wenig Herausforderung und ein bisschen mehr Distanz sollten schon sein. Stattdessen war er also alleine nach Hause gegangen, dafür mit zwei Telefonnummern.

Uwe Kröger schaute vorbei und nickte ihm durch die offene Türe zu. »Na, homo bavaricus, alles im Lot?« Leo sah auf und lächelte seinen Kollegen an. »Hallo, Uwe, was meinst du, braun oder schwarz?« Er deutete auf die beiden Zettel vor sich.

»Ah, der Herr Kommissar ist mal wieder auf der Pirsch.« Kröger schüttelte mit ironischer Entrüstung den Kopf, gleichzeitig sah man ihm an, dass er Leo um seine Freiheit beneidete. »Für deine Zwecke wohl eher schwarz wie die Nacht, Alter!« Er verabschiedete sich mit einem angedeuteten Winken und ging den Flur hinunter.

»Hm, schwarz.« Leo drehte den Zettel mit Mandys Telefonnummer zwischen den Fingern. Rein statistisch gab es nur fünf Prozent wirklich schwarzhaarige Frauen in Deutschland, wenn man all diejenigen abzog, deren Heimatländer weiter südlich lagen. Die Frage war demnach, ob sie nachgeholfen hatte. Er hasste es, wenn Frauen sich die Haare färbten. Blondinen mit dunklen Haaransätzen waren der echte Abtörner. Bei Mandy konnte die Farbe durchaus echt sein, sie hatte dunkle Kohleaugen, dunkle Augenbrauen, er glaubte sich sogar an dunkle, feine Härchen auf ihren nackten Armen zu erinnern. Alles recht vielversprechend, und die Wahrheit ließ sich schließlich leicht herausbekommen. Am seltensten waren die echten Rothaarigen. Nur zwei bis drei Prozent der Weltbevölkerung hatten natürlicherweise rote Haare. So eine fehlte ihm ganz klar noch auf seiner Liste. Aber schwarz war auch nicht übel. Also doch Mandy?

 

Eine blasse junge Frau mit knallschwarzen, langen Haaren und dunklem Make-up steckte den Kopf zur Tür herein. »He, du Seppel, gehst du mit Sascha und mir zum Thai-Imbiss?«

Leo zuckte zusammen. »Nein, kein Thailänder!«

»Wieso nicht? Das Essen ist billig und lecker! Nur so eine Schachtel voll mit gebratenen Nudeln und ein bisschen Huhn obendrauf.« Sie sah ihn mit ihren schwarz umränderten Augen forschend an.

Ruppiger als beabsichtigt knurrte Leo nochmals »Nein!« und drehte ihr auf seinem Bürostuhl den Rücken zu. Sandra Kruse nannte ihn »Wessi-Dumpfbacke« und verschwand aus seiner offenen Bürotür.

Leo schämte sich ein wenig, seines Ausbruchs wegen. Doch Sandra Kruse nervte ihn. Und Sandra war blond, obwohl man davon zurzeit nichts sah, weil sie ihre helle Mähne vor einem Monat rabenschwarz gefärbt hatte. Als Kriminalbeamtin! Leo fand das unmöglich. Das Schlimmste aber war, dass Sandra es nicht lassen konnte, ihn als Besserwessi für alle ihre eigenen Unzulänglichkeiten verantwortlich zu machen.

Als wieder Ruhe vor seiner Tür eingekehrt war, griff er zu seinem Handy und rief Mandy an. Er legte sich entspannt zurück, um seiner Stimme das spezielle Timbre zu geben, auf das alle Frauen ansprachen. Obwohl er nicht übel aussah, hatte er in dem halben Jahr, das sein Singledasein nun dauerte, schon festgestellt, dass es nicht so sehr auf das Aussehen ankam. Er fand sich eher durchschnittlich. Sein Kinn war markant, ein wenig wie bei Michael Schuhmacher, seine Haare braun, seinem Körper sah man nicht unbedingt an, wie durchtrainiert er war. Es kam mehr auf ein selbstbewusstes Auftreten an.

Der Bürostuhl knarzte unter seinen ein Meter zweiundachtzig.

Drei Minuten später tänzelte er hochgestimmt die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg in die Kantine. Mandy hatte sich für den Abend auf ein Bier mit ihm verabredet. Morgen würde er wissen, ob sie eine echte Schwarzhaarige war …

Auch in Bad Schandau schien die Sonne freundlich vom Augusthimmel und tauchte den Stadtpark am Donnerstagmorgen in goldenes Licht. Gut gelaunt marschierte Karl Kunath, seit 23 Jahren Straßenbahnfahrer bei der Kirnitzschtalbahn, auf seinen kurzen Beinen quer durch den Stadtpark. Die Mütze saß keck auf den dunklen Haaren, seine Uniform war frisch gewaschen, das hellblaue Hemd sogar gestärkt. Karl Kunath hörte die Vögel zwitschern und sah, dass in der Kurklinik ein paar Hundert Meter weiter reger Betrieb herrschte; hier wurden neue Patienten ein- und Lebensmittel angeliefert. Kunath grüßte die Besitzerin des Kiosks an der Straßenbahnhaltestelle, die gerade dabei war, ihre wenigen Tische und Stühle vor den Pavillon zu stellen.

Um acht Uhr entriegelte Karl Kunath die beiden Waggons mit dem speziellen Schlüssel und schaltete den Triebwagen ein. Die Stromabnehmer fuhren langsam nach oben und rasteten mit einem Klicken ein.

Da keine Passagiere in Sicht waren und weil er noch fünf Minuten Zeit hatte, bis er laut Fahrplan losfahren sollte, drehte er eine Runde außen um die Waggons, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Dann inspizierte er die Wagen von innen. Von seinem Führerstand aus ging er zunächst im ersten Wagen nach hinten und sammelte mehrere Bonbonpapierchen auf. Er öffnete die Tür am hinteren Ende des Waggons, um hinaus auf den Bahnsteig zu treten. Sein Blick fiel auf die Gummilippe der Tür. Er kannte diese Bahn seit über 20 Jahren und hatte bestimmt schon jede Schraube an diesem Gefährt in der Hand gehalten. Seit die Gotha-Triebwagen 1992 aus Plauen ins Kirnitzschtal gekommen waren, wurden sie gehegt und gepflegt, denn niemand hier wollte moderne Züge haben. Zum einen waren neue Wagen viel zu teuer, zum anderen kamen viele Menschen allein wegen der alten Straßenbahn ins Kirnitzschtal. Der Gummi an der hinteren Türe war porös und musste demnächst erneuert werden. Karl Kunath nahm sich vor, das gleich im Straßenbahn-Depot zur Sprache zu bringen. Dann inspizierte er den zweiten Waggon. Der war ziemlich sauber, aber auch hier entdeckte der Straßenbahner noch eine leere Flasche Club-Cola, die neben einem Einzelsitz am Boden lag. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, fiel sein Blick auf das Profil zweier Wanderschuhe.

Erschrocken fuhr er hoch, knallte mit dem Kopf gegen die Haltestange. »Dunnerlittschn!«, entfuhr es ihm. Er lief die paar Schritte nach hinten. Da lag eine Person am Boden, verdeckt unter den beiden Sitzbänken. Das Gesicht war nicht zu sehen, das lag zur Außenwand hin, aber die Hose, die Jacke, die kurzen, schütteren Haare auf dem Schädel, all das deutete darauf hin, dass die Person ein nicht mehr junger Mann war.

Karl Kunath rief ihn an: »He, hallo Sie da, schlafen Sie? Aufwachen!« Aber der Mann rührte sich nicht. Als Kunath ihn zu schütteln versuchte, merkte er, dass der Körper starr war. Er zuckte zurück und versuchte zu verstehen, was das bedeutete.

»Ach du meine Güde!«, stöhnte er. »Ä Doder in meiner Straßenbahn!«

Er schaute auf den Bahnsteig und hinüber zur Straße.

Glücklicherweise waren immer noch keine Fahrgäste zu sehen. Mit zitternden Händen nahm er sein Handy und meldete das Malheur erst einmal seinem Einsatzleiter. »Gustav, halt dich fest, ich hab hier ’nen Doden in der Bahn liegen. Ruf gleich mal die Polizei und ’nen Doktor an und was man noch so braucht. Ich komm mit dem Typen vor zum Depot!«

Er rannte zum ersten Wagen, setzte sich in den Führerstand und fuhr ohne den vorgeschriebenen Halt am Abzweig nach Ostrau direkt zum Straßenbahndepot. Dort wurde er von seinem Chef Gustav Neusche empfangen. »Die von der Polizei haben gesagt, du hättest mal lieber da bleiben sollen! Aber nu biste schon mal hier, da könn’ mir den Wagen ooch offs Abstellgleis stellen, und du kannst deine Runde mit der Bahn machen. Kannst die Fahrt ja nicht ausfallen lassen.«

Sie koppelten den Wagen mit dem blinden Passagier ab, hängten einen neuen dran, und mit einem Blick auf die Uhr schickte der Chef der Straßenbahn seinen altgedienten Straßenbahner Kunath auf die Runde ins Kirnitzschtal. Er hatte ja schon einiges erlebt im Tal, aber einen Toten in der Bahn, so was hatte es bisher noch nicht gegeben.

Neusche wartete mit dem Toten im Waggon auf dem Abstellgleis. Zehn Minuten später war die Ärztin aus Bad Schandau da und diagnostizierte, was zu diesem Zeitpunkt schon alle wussten, dass nämlich der Mann das Zeitliche gesegnet hatte.

»Und nu?«, fragte Gustav Neusche. »Wie werde ich den jetzt wieder los?« Die Ärztin zuckte ratlos mit den Schultern. »Er hat ja nichts dabei, wir wissen nicht, wer er ist; da müssen Sie jetzt schon warten, bis die Polizei kommt. Am besten wäre es, eine Obduktion anzuordnen, um die Todesursache zu ermitteln. Ich kann nur feststellen, dass er tot ist, und zwar schon mindestens zehn Stunden. Es sieht nach einem Herzinfarkt aus, aber ob es das wirklich war, kann ich so nicht feststellen.«

Sie reichte Neusche einen Totenschein, auf dem sich nichts als ihre Unterschrift befand, und machte sich wieder auf den Weg in ihre Praxis.

Die Polizei aus Pirna brauchte fast eine Stunde, um im Straßenbahndepot anzukommen. Sobald das grünweiße Fahrzeug auf dem Parkplatz stand, sprang ein junger Beamter aus der Fahrertür, schnappte sich eine Schreibmappe vom Rücksitz und machte sich zackig auf den Weg zu dem Grüppchen vor dem Straßenbahndepot. Er war schon fast bei Neusche, als sich auch die Beifahrertür bewegte, ein zweiter Polizist ausstieg und mit gemessenen Schritten auf die Gruppe zumarschierte.

»Polizeimeister Ricki Strohbach aus Pirna«, stellte sich der Jungspund vor. »Wer ist hier der Chef?« Neusche wartete ab, bis auch der zweite Beamte bei ihm war. Wer der Chef bei den Polizisten war, war ihm mit dem ersten Blick klar gewesen. Er nickte dem älteren Beamten zu und stellte sich vor. Noch bevor Ricki Strohbach das Wort wieder an sich reißen konnte, übernahm Polizeihauptwachtmeister Wolfram Biesold das Kommando. »Erst mal alle Personalien aufnehmen, Fundort erfassen, und dann zur Gerichtsmedizin«, wies er Ricki Strohbach an, als ihn alle erwartungsvoll anschauten. »Den Wagen für die Leiche bestellen die Kollegen, wir müssen die Zeugenaussagen aufnehmen.«

»Aber …«, begehrte Strohbach auf. »Ich weiß, ist deine erste Leiche, aber nu mach nicht so ’n Wind. Wir gehen hier ganz nach Vorschrift vor.« Der junge Beamte nickte ergeben, während sich sein Chef den Schweiß von der Stirn wischte. Sie standen inzwischen in der prallen Sonne auf dem großen Platz vor der Depothalle.

»Dann fangen wir mal an«, seufzte er und zückte Block und Stift.

»Wo ist derjenige, der die Leiche gefunden hat?«, fragte er Gustav Neusche.

Der guckte auf die Uhr und rechnete kurz. »Der ist gerade an der Schneiderweiche.«

»Wo?«, fragte der junge Beamte nach.

»Na, an der Schneiderweiche. Da muss er warten, bis die zweite Bahn vom Depot kommt, und den Klöppel übergeben. Wir fahren hier ja eingleisig.«

Ricki Strohbach sah ihn immer noch fragend an. Sein Kollege sprang ihm endlich bei: »Das ist schon in Ordnung, Ricki. Ich kenn’ mich hier aus. Aber eigentlich hätten Sie den hierbehalten müssen«, wandte er sich an Neusche.

»Soll der sich hier über eine Stunde die Beine in den Bauch stehen, wo ich gerade ’nen Fahrer im Krankenstand hab und keinen Ersatz? Die Bahn muss doch fahren!«

»Immerhin haben wir hier einen Todesfall!«, mahnte der Dienstältere an.

»Hätt’ der sich doch bloß ’nen andern Platz zum Abnibbeln ausgesucht!«, stöhnte Neusche.

»Wann kommt der Straßenbahnfahrer denn nun zurück?«, wollte Ricki wissen.

Neusche guckte auf seine Uhr.

»In zehn Minuten ist der hier. Da muss eben der Didi einspringen und weiterfahren, wenn Sie den befragen wollen.«

Der Uniformierte nickte. »Und wer hat eigentlich die Bahn gestern abgestellt? Da war der Tote ja möglicherweise schon drin in der Bahn, so wie das hier aussieht.«

Gustav Neusche kratzte sich am Kopf. »Da ham’ Se recht. Das muss die Adele gewesen sein. Didi, guck mal, ob die Adele gestern Abend die letzte Tour gemacht hat!« Er hatte sich laut rufend an einen weiteren Straßenbahner gewandt, der in der Halle an einem Waggon die Räder abklopfte. Didi schlurfte um die Ecke und kam mit dem handgeschriebenen Dienstplan zurück. »Nu, Chef, die Adele war gestern Abend die Letzte.«

Gustav Neusche ging zum Telefon und wählte.

»Adele, du musst mal herkomm’ ins Depot, ist wischtsch … Ich weiß, aber die Polizei ist da … Sag ich dir, wenn du da bist. Komm, so schnell du kannst.« Er drückte den roten Knopf und hängte das altmodische Wandtelefon wieder auf die Gabel. »Ist schon unterwegs, die Adele.«

»Gut«, sagte Polizeihauptwachtmeister Wolfram Biesold, »dann vermessen wir jetzt den Fundort.« Er und sein Kollege nahmen Maß vom Waggon, kennzeichneten den Fundort mit Markierungen, machten Fotos und Notizen. Sie waren noch mitten im Knipsen, als die Straßenbahn um die Ecke quietschte. Karl Kunath war allein in seiner Bahn. Um diese Uhrzeit gab es in der Woche noch nicht viele Wanderer, und raus aus dem Tal wollte so früh am Morgen in der Regel auch keiner. Das ging erst am Nachmittag los. Aber hinein ins Tal würde sich das gleich ändern. Karl Kunath sprang aus dem Wagen und eilte auf die Polizisten zu.

Gustav Neusche schickte Didi in die Bahn, und die beiden gelben Waggons machten sich auf den Weg zum Bad Schandauer Endhaltepunkt.

»Sie haben also die Leiche entdeckt?«, fragte Biesold. Kunath nickte. Der Polizist nahm seine Personalien auf. »Wie haben Sie ihn denn gefunden?«

»Nu, ich guck so in den Wagen und sammel morgens immer noch den Müll ein, bevor’s losgeht. Die Leute, wissen Se, die sind ja echte Schweine, schmeißen alles weg; da hebe ich also im hinteren Wagen grad ’ne leere Colaflasche auf und sehe plötzlich zwei Schuhsohlen! Ich hab mich vielleicht erschreckt!« Er deutete auf die Beule am Hinterkopf. »Bin so erschrocken, dass ich mir die Birn eingehauen hab, und nicht zu knapp!«

Polizist Ricki wedelte ungeduldig mit der Hand. »Wo war das genau?«

»Na, genau da, wo und wie er immer noch liegen tut. Ich hab ihn nicht angerührt. Bloß gedacht hab ich erst mal, der schläft vielleicht, und deswegen hab ich versucht, ihn aufzuwecken.«

»Also doch angefasst!«, grummelte Strohbach.

»Nu ja, aber bloß, um ihn zu wecken, so ’n bisschen gerüttelt. Aber ich bin ja ein schlaues Kerlchen, hab’ dann gleich gemerkt, dass mit dem nüscht mehr los ist.«

»Und hier im Straßenbahndepot hat ihn niemand vorher gesehen?«, hakte der Ranghöhere nach.

 

»Nee, die Bahn war doch vorne im Stadtpark.«

»Was?!« Beide Uniformierte fuhren auf.

»Warum haben Sie die Bahn denn nicht stehen lassen?«, schaltete sich nun Wolfram Biesold energisch ein. »Sie können doch nicht einen Toten durch die Gegend kutschieren, wie es Ihnen grade in den Fahrplan passt!«

Karl Kunath sah ihn empört an. »Sollte ich die Fahrgäste da einfach im Stich lassen? Ich muss doch meine Runde fahren. Da war’s doch viel praktischer, den Wagen hier zu lassen, anstatt vorne am Stadtpark. Wetten, da stehen jetzt zwanzig Leute und wollen Straßenbahn fahren. Wenn die sehen, dass es da ’nen Doden und Polizei gibt, dann kehren die off der Stelle wieder um. Mir ham’s schwer genug hier draußen, und es gibt keine Arbeitsplätze, da muss man ooch mal mitdenken!«

Neusche schaute seinen Straßenbahnfahrer erstaunt an. So eine lange Rede hatte er bisher von Kunath noch nie zu hören bekommen.

»Pfffff …« Polizist Ricki schnaufte empört. »Also, Sie haben den Wagen ohne noch was zu verändern hier im Depot abgestellt und sind dann weitergefahren?«

»Nu, genau!« Kunath strahlte ihn an.

»Na ja, dann schreibe ich das mal genau so auf.« Er vervollständigte sein Protokoll.

Ein kleiner Renault fuhr auf den Parkplatz gegenüber dem Depotgebäude. »Ah, da kommt die Adele. Die Fahrerin von gestern Abend«, ließ sich Gustav Neusche vernehmen.

Adele Schuster eilte schon herbei und hatte vor Aufregung rote Flecken im Gesicht. »Was ist denn passiert?«, rief sie.

»Immer schön der Reihe nach, junge Frau«, wies sie der Polizeihauptwachtmeister zurecht. »Sind Sie Adele Schuster?«

Adele nickte: »Nu.«

»Sind Sie gestern mit der letzten Bahn zum Stadtpark gefahren, und haben Sie die Bahn da ordnungsgemäß verschlossen und abgestellt?« Adele blickte ihren Chef fragend an. Der zuckte nur mit den Schultern.

»Nu, ich hab wie immer abgeschlossen und bin heeme.«

»Haben Sie die Waggons noch einmal durchsucht, bevor Sie gegangen sind?«, stellte der Ordnungshüter die entscheidende Frage.

Adele zuckte kurz zusammen. »Also, ehrlich gesagt, durchsucht hab ich sie nicht. Ich hab gewartet, bis alle ausgestiegen waren, hab hinten noch ’nen Blick reingeworfen, aber da war keiner; und dann hab ich alles abgeschlossen, wie immer. Wieso wollen Sie das alles wissen?« Sie sah wieder hilfesuchend ihren Chef an, doch der verzog keine Miene.

Wolfram Biesold fragte noch einmal nach: »Also sind Sie nicht durch den zweiten Waggon gegangen und haben nachgesehen, ob alles in Ordnung ist?«

Adele Schuster war sichtlich verlegen. »Nee, ich hab nur von vorne kurz reingeguckt, weil ja keiner drin war!«

»War aber doch einer drin!«, klärte Karl Kunath seine Kollegin endlich auf.

»Was?!«, rief die blonde Mittvierzigerin erschrocken und riss die Augen auf. »Acht Leute sind am Wasserfall eingestiegen, zwei sind am Beuthenfall raus und zwei am Forsthaus, und danach war hinten keiner mehr. Hätt’ ich doch gesehen, wenn da noch einer gesessen hätte!«

Der Polizeihauptwachtmeister nahm sie am Arm und führte sie zum abgestellten Wagen.

»Ihr Kollege hier«, damit deutete er auf Karl Kunath, »hat heute Morgen den hier gefunden.« Sie waren eingestiegen und standen nun vor dem Toten. Adele stieß einen spitzen Schrei aus, als ihr klar wurde, dass der tatsächlich mausetot war. »Oh, mein Gott, is der in der Straßenbahn gestorben? Is das jetze meine Schuld? Aber der war gestern Abend noch gar nicht da. Ich hab doch gesehen, dass der hintere Waggon leer war!«

Polizeimeister Strohbach war ihnen gefolgt und kratzte sich am Kopf. »Dann gibt’s zwei Möglichkeiten. Entweder der ist erst später in die Bahn eingebrochen, als sie schon abgestellt war, oder der lag schon so versteckt unter den Bänken, als Sie gestern Abend reingeguckt haben.«

Alle standen nun ratlos im Waggon und schauten auf den Toten. Biesold bewegte ihn vorsichtig zur Seite, um sein Gesicht nach oben zu drehen. Der Tote war um die 60 Jahre alt, hatte schütteres dunkelblondes, angegrautes Haar, trug eine helle Wanderhose, ein blau-grau kariertes Hemd und eine beige Windjacke. Das einzig Farbenfrohe an ihm waren die leuchtend blauen Wanderschuhe, aber auch die hatten graue Streifen. Das Gesicht des Toten sah entspannt aus, er lächelte nicht, aber er zeigte auch keine Fratze. Der Beamte ging leicht ächzend in die Knie, durchsuchte die Taschen des Toten, fand aber nur ein benutztes Papiertaschentuch. »Kein Rucksack, keine Brieftasche, einfach nichts. Sehr ungewöhnlich.«

Ein feiner Schweißgeruch stieg auf. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und brannte durch die Scheiben der Bahn.

»Vielleicht sollten wir den irgendwie kühl stellen, bis die mit ’m Wagen von Dresden kommen, sonst vergammelt der gleich bei der Hitze«, meinte Karl Kunath trocken.

»So ’n großen Kühlschrank ham wir nicht!«, wandte Gustav Neusche ein. »Aber wir könn’ ihn wenigstens im Schatten, in der Halle, parken.« Die Beamten waren einverstanden, sie waren auch froh, aus der prallen Sonne zu kommen. Neusche und Kunath fuhren einen Wagen aus der Halle, rangierten um und bugsierten den Waggon mit der Leiche in die Halle des Depots. Dort war es deutlich kühler.

Die Polizisten sahen sich die Türen genauer an.

»Wenn der Wagen gestern Abend leer war, wie Sie sagen, Frau Schuster«, wollte Polizist Ricki von Adele wissen, »wie kommt man dann von draußen rein, wenn die Türen verschlossen sind, ohne was kaputt zu machen?«

Karl Kunath griff unter den Einstieg des Wagens und holte einen gebogenen Sechskantschlüssel heraus. Dann steckte er ihn in die kleine, runde Öffnung neben dem Einstieg. Die Tür öffnete und schloss sich, je nachdem, in welche Richtung er den Schlüssel drehte. »Na, super, seine Fingerabdrücke sind da jetzt in jedem Falle drauf«, sagte Wolfram Biesold.

»Da kann ja jeder rein und raus, wie er gerade lustig ist!«, empörte sich sein junger Kollege.

»Die Leute wissen das aber nicht!«, grummelte Neusche.

Der Polizeihauptwachtmeister ließ den Schlüssel vorsichtig in eine Plastiktüte gleiten.

»Damit hab ich heute Morgen ooch schon den Waggon aufgemacht«, sagte Kunath betroffen und schaute seine Hände an.

»Sträflich leichtsinnig ist das! Jeder, der das einmal gesehen hat, könnte nachts eine Spritztour machen oder die Straßenbahn sogar klauen!«, ereiferte sich Polizist Ricki.

Neusche, Kunath und Adele Schuster schauten ihn entgeistert an: »Eine Straßenbahn klauen?«

Ricki Strohbach machte einen Rückzieher. »Na ja, vielleicht doch nicht klauen. Aber Tatsache ist, dass es total leicht ist, da reinzukommen. Wahrscheinlich hat er’s einfach beobachtet und die Straßenbahn nachts geöffnet.«

»Und wie macht man die Tür von innen zu?«, fragte der Dienstältere und hob warnend die Hand. »Zeigen Sie mir das, ohne was anzufassen!«

»Einfach hier den Knopf drücken«, Gustav Neusche deutete auf den kleinen Riegel neben der Tür. »Das geht immer, ooch wenn die Bahn nicht am Strom hängt.«

»Davon brauchen wir Fingerabdrücke«, murmelte Biesold und machte sich Notizen.

Der ältere Beamte wandte sich wieder an Adele Schuster: »Wenn Sie sagen, die Bahn war gestern Abend leer, dann ist der wahrscheinlich irgendwann in der Nacht hier eingestiegen, hat’s sich gemütlich gemacht und ist dann dummerweise gestorben. Sehr merkwürdig.«

»Aber wie ein Penner, der ein Dach überm Kopf braucht, sieht der ooch ni aus«, wandte Neusche ein. »Wieso sollte einer in ’ne abgestellte Straßenbahn steigen und da einen Herzinfarkt kriegen? Ergibt doch gar keinen Sinn!«

»Wieso Herzinfarkt?«, fragte der hellhörige Ricki.

»Das hat die Ärztin gesagt, die den Dodenschein ausgestellt hat«, erklärte Neusche. Er reichte dem Polizisten das Papier. Der steckte es in seinen Schreibblock.

»Wir müssen überprüfen, ob jemand vermisst wird, das ist jetzt erst mal unser Job: rauskriegen, wer das überhaupt ist«, fasste Polizeihauptwachtmeister Biesold zusammen.

Als alle Personalien und Aussagen erfasst waren, machten sich die beiden Beamten wieder auf den Weg nach Pirna, und Gustav Neusche blieb es überlassen, den Toten die nächste halbe Stunde zu bewachen. Wobei, Fluchtgefahr bestand ja nicht. Er verriegelte den Wagen und zog sich in sein Büro zurück.