Tatort Kuhstall

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Dienstag

»Herr Pröve hat die ganze Woche Urlaub genommen«, informierte ihn Frau Kerschensteiner gleich morgens, als er ins Büro kam. Gut so, dachte Leo, dann ist Sascha erst mal aus der Schusslinie. Die Sekretärin musterte ihn und signalisierte mit erhobenen Daumen, dass ihr sein heutiges Outfit gefiel. Veronika hatte ihn dazu überredet, statt eines seiner geliebten Polo-Shirts ein richtiges Hemd anzuziehen. Er lächelte schief zurück und ging an seinen Platz. Ihm graute bei dem Gedanken, es demnächst bügeln zu müssen.

Dr. Gräber hatte sich gestern Nachmittag geweigert, schon vorab eine Einschätzung abzugeben, und ihn mit den Ergebnissen der Obduktion auf heute vertröstet. Die Spurensicherung war Sandras Revier. Sie war noch nicht in ihrem Büro.

Leo ließ sich schwer auf seinen Bürostuhl sinken und sah hinaus, auf den belebten Pirnaischen Platz vor dem Dresdner Polizeipräsidium. Veronika war gestern Abend sehr beschwingt gewesen, nicht nur, weil sie tatsächlich noch eine Kommode bestellt hatte, sondern auch, weil sie am Donnerstag zum ersten Mal mit ihren neuen Kollegen aus der Bankfiliale zum Pizzaessen gehen würde.

»Die sind alle vier echt nett! Komm doch mit!«, hatte sie ihn aufgefordert. »Wird Zeit, dass du mal andere Leute kennenlernst, nicht nur Polizisten. Da ist Daniel, unser Privatkundenberater, ein bisschen jünger als wir, Nicole, die die Filiale leitet, Mario, Anlageberater, der ist manchmal etwas merkwürdig, und unsere Auszubildende Romy.«

Zähneknirschend hatte er zugesagt, obwohl er eigentlich keine Lust verspürte, mit diesen Menschen einen ganzen Abend zu verbringen.

Das Telefon klingelte. Die angezeigte Festnetz-Nummer sagte ihm nichts.

»Kriminalkommissar Reisinger.«

»Leo?«

»Hallo Sascha«, antwortete Leo erfreut. »Wie war dein Rendezvous?«

Sascha ließ sich Zeit mit der Antwort.

»Es war … überwältigend!«

Leo wusste nicht, was er erwidern sollte. Überwältigend? Das hieß ja wohl: mehr als sehr gut. Diesen Superlativ konnte er sich in einer Beziehung nicht recht vorstellen. Einerseits spürte er ein wenig Neid, andererseits freute er sich für Sascha. Die genauen Details wollte er aber lieber nicht wissen. Deshalb antwortete er nur knapp.

»Freut mich für dich. Was gibt’s?«

»Hat Richter noch was gesagt?«, fragte Sascha.

»Nein.« Leo musste nicht lügen, er hatte Richter seit gestern Vormittag nicht mehr gesehen.

»Gut. Ich gehe in Deckung. Aber kannst du mich auf dem Laufenden halten? Was habt ihr rausbekommen über den Toten vom Kuhstall?«

Leo informierte seinen Kollegen im Schnelldurchlauf über die neuesten Erkenntnisse.

»Der Obduktionsbericht von Dr. Gräber kommt heute und die Spurensicherung geht noch mal los, um den Gehstock zu suchen. Stefan Schüppel hatte ein krankes Bein und hinkte. Später kommt der Geschäftsführer von Schüppels Firma, von dem werden wir sicher noch einiges erfahren.«

»Prima. Ich melde mich morgen wieder.«

»Stopp, warte, Sascha!« Leo konnte ihm sein gestriges Telefonat mit Klaus Blum nicht verheimlichen.

»Ich habe gestern mit Herrn Blum gesprochen, dem Leiter deiner textilfreien Wandergruppe. Ich wollte ihn bitten, den Facebook-Post zu löschen und sich mit weiteren Veröffentlichungen zurückzuhalten. Aber der Schuss ist total nach hinten losgegangen. Die sehen das zum einen als tolle Werbung für ihre Sache und zum anderen ist er ziemlich sauer auf dich, weil du ihm Melanie weggeschnappt hast.«

Er hörte Saschas glucksendes Lachen.

»Und wie ich sie ihm weggeschnappt habe! Der wird sich schon wieder beruhigen. Mach dir keine Sorgen. Ich werde Melanie bitten, dass sie Klaus anruft. Ach, mir geht es so gut, du glaubst es nicht. Ich melde mich wieder.«

Leo legte auf. Wieso Sascha auch während seines Urlaubs im Liebesglück nicht von dem Fall lassen konnte, leuchtete ihm nicht ein, aber das war seine Sache.

Sandra steckte den Kopf in sein Büro.

»Guten Morgen. Christian Hesse kommt um neun Uhr. Willst du beim Gespräch dabei sein?«

»Logisch.«

Leo biss die Zähne aufeinander. Was dachte sich Sandra bloß immer dabei, wenn sie versuchte, ihn außen vor zu lassen? Schließlich war sie für Sascha eingesprungen, nicht umgekehrt. Er musste ihr wohl mal wieder klarmachen, wer in diesem Fall den Hut aufhatte. Er sah sie an und wusste sofort, wo er ansetzen konnte.

»Willst du tatsächlich mit Handschellen an den Ohren zu diesem Gespräch gehen?«

Sandra griff sich unwillkürlich an den Hals, wo große, silberne Kreolen baumelten.

»Denkst du, die sind zu auffällig?«, fragte sie etwas verunsichert.

»Du siehst aus wie ein aufgeputzter Weihnachtsbaum im Juni«, knurrte Leo.

Sandra knallte die Tür zu.

Hatte Leo recht, waren die Ohrhänger zu groß? Sandra betrachtete sich vor dem in ihrem Büroschrank angebrachten Spiegel von allen Seiten. Dann nahm sie die glänzenden Reifen aus den Ohrlöchern und legte sie bedauernd auf den Schreibtisch.

»Heute Abend kommt ihr wieder rein«, sagte sie zu ihnen und setzte sich.

Mit leisem Surren fuhr ihr Computer hoch und spuckte die neuesten E-Mails aus. Aber weder der Obduktionsbefund von Dr. Gräber noch ein neuer Bericht von Manni Tannhauser waren dabei.

Sandras Blick glitt zur Armbanduhr. Noch hatte sie eine halbe Stunde Zeit, bis Christian Hesse kam. Sie tippte »Armando Mirador« in die Suchmaschine und wartete gespannt ab. Mehrere Fotos poppten auf und zeigten ihn in seiner ganzen Schönheit: Armando bei verschiedenen Turnieren, mit wechselnden Tanzpartnerinnen, immer in der vollendeten Haltung des Tango-Lehrers. Die meisten Kommentare waren in Spanisch und Sandra konnte nur erahnen, was da stand. Ihre Dresdner Tanzschule hatte ihn jedenfalls als den neuen »Tanzgott« aus Argentinien angekündigt. Sandra seufzte. Beim Gedanken an seinen Akzent bekam sie weiche Knie und Herzklopfen. Sie würde sich in Acht nehmen müssen.

Christian Hesse machte einen sympathischen Eindruck. Freundlich schüttelte er Sandra und Leo zur Begrüßung die Hand und machte ein paar flapsige Bemerkungen über seinen ersten Besuch bei der Kriminalpolizei. Er trug eine helle Jeans und ein leichtes Sakko eines italienischen Designer-Labels, das er lässig über die Stuhllehne hängte. Das Hemd spannte über dem Bauch und Leo fragte sich, wie lange der Knopf dem Druck standhalten würde.

Sandra ließ sich seinen Ausweis zeigen und überprüfte die Personalien. Christian Hesse schien eine kurze Nacht hinter sich gehabt zu haben, denn seine Lider waren leicht gerötet und die Schatten unter den Augen tief.

»Sie wissen, dass wir den Fall von Dr. Stefan Schüppel untersuchen, der am Sonntag tot im Gebiet der Kuhstallhöhle gefunden wurde?«, fragte Leo ihn.

Hesse nickte.

»Das ist furchtbar. Meine Frau und ich sind völlig schockiert. Wissen Sie schon, wie das passiert ist?«

Sandra meldete sich zu Wort: »Leider nein. Wir haben bisher nur mit seiner Lebensgefährtin Helene Petzold und dem Betriebsleiter Herrn Johne …«

»Lebensgefährtin?«, platzte Hesse dazwischen. »Das hätte sie wohl gern! Aber das ist definitiv nicht richtig. Stefan hatte nie Pläne mit Frau Petzold, das können Sie mir glauben. Sie hat für ihn gekocht und das Haus in Ordnung gehalten, mehr nicht. Was sich diese Person nur einbildet!«

Er schüttelte ärgerlich den Kopf.

Sandra und Leo sahen sich an. Das hatte gestern aus Helene Petzolds Mund anders geklungen.

»Haben Sie eine Vermutung, was Herr Dr. Schüppel am Samstag am Kuhstall wollte?«

Christian Hesse lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah aus dem Fenster.

»Nein. Stefan lebte sehr zurückgezogen, fast schon menschenscheu. Er ging völlig auf in seinen Projekten. Für die Firma ist das ein herber Verlust. Ohne ihn können wir erst mal keine neuen Produkte entwickeln. Er war immer der kreative Kopf und voller Ideen.«

»War Herr Dr. Schüppel denn öfter allein in unwegsamem Gelände unterwegs?«, fragte Leo.

Hesse schüttelte energisch den Kopf: »Wie ich schon sagte, Stefan verließ sein Labor nur selten. Wenn er nach Pflanzen suchte, schickte er einen unserer Mitarbeiter los. Stefan ging nie selbst ins Gelände. Das war so eine seiner Eigenheiten. Dafür …«, er lächelte schief, also wolle er Schüppel entschuldigen, »… dafür überwachte er ständig alle Produktionsprozesse in der Waldgold GmbH. Seine Qualitätsstandards waren extrem hoch. Es wird wirklich schwer sein, ohne ihn weiterzuarbeiten.«

»Aber Sie werden die Waldgold GmbH weiterführen?«, fragte Sandra.

Christian Hesse fuhr sich nervös durch das schüttere, ehemals dunkle Haar.

»Ich hoffe, dass wir den Betrieb erhalten können. Da hängen immerhin zehn Arbeitsplätze dran – ohne meinen eigenen.«

»Wissen Sie, ob er Verwandte hat? Sie sind doch seit langem befreundet.«

»Ja, wir kennen uns schon lange, seit unserem ersten Semester an der Universität in Dresden 1986. Ich habe Biologie studiert, weil mir nichts Besseres einfiel, Stefan, weil er nie etwas anderes tun wollte. Er hat das Studium ja auch beendet, während ich es sofort nach der Wende abgebrochen habe. Wir haben uns gut verstanden und den Kontakt gehalten. Aber nein, nähere Verwandte hatte er nicht. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Aber wer weiß? Vielleicht taucht ja noch ein entfernter Cousin auf. Stefan Schüppel war ein ziemlich ungeselliger Mensch. Ich kam halbwegs mit ihm zurecht, aber er war nicht einfach.«

Hesse lächelte und zog die Schultern hoch. Er sprach mit einer angenehm tiefen Stimme, war ständig in Bewegung und unterstrich jedes seiner Worte mit den Händen.

»Nur zur Information, Herr Hesse: Wie haben Sie den letzten Samstag verbracht?"

 

Der Angesprochene zog die Stirn in Falten und überlegte kurz.

»Am Vormittag habe ich gemütlich mit meiner Frau gefrühstückt und danach haben wir bis mittags in unserem Garten gearbeitet. Am Nachmittag waren wir gemeinsam einkaufen, dann habe ich noch zwei Stunden gearbeitet und abends waren wir nach einer kleinen Wanderung im Schwarzbachtal essen. Samstag war das Wetter ja sehr schön.«

Er sah Leo souverän an.

»Falls Sie auch das wissen wollen: Ich oder meine Frau haben am Samstag auch nicht mit ihm telefoniert. Unser letzter Kontakt war einige Tage zuvor, auch da nur am Telefon. Es ging um Stefans Idee, die Rezeptur unserer Waldgold-Salbe leicht zu verändern.«

Es klopfte. Leo stand auf und nahm an der Tür den Bericht von Dr. Gräber entgegen.

»Sandra, kommst du mal kurz?«

Er bat Hesse um zwei Minuten Geduld und winkte sie auf den Flur.

Gemeinsam blätterten sie den Bericht durch, bis sie an die entscheidende Stelle kamen:

»… definitiv kein organisches Versagen, Todesursache sind die schweren inneren und äußeren Verletzungen nach dem Sturz aus großer Höhe. Der Schluss liegt nahe, dass der Verstorbene Suizid begangen hat. Für eine vorangegangene körperliche Auseinandersetzung und damit einhergehendes gewaltsames Einwirken auf den Toten gibt es keinerlei Indizien«, las Leo leise vor.

»Das bedeutet, dass er keinen Schwächeanfall oder Herzinfarkt hatte und auch keinen Kampf, sondern wahrscheinlich freiwillig von da oben heruntergesprungen ist«, fasste Sandra zusammen.

Leo nickte.

»Gehen wir wieder rein.«

Christian Hesse schaute ihnen neugierig entgegen.

»Herr Hesse, hatte Herr Dr. Schüppel Probleme, war er depressiv, eventuell sogar selbstmordgefährdet?«, fragte Leo.

Der Angesprochene atmete tief ein und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich habe das schon befürchtet«, ächzte er.

»Wieso?«

»Stefan hatte seit seinem Unfall immer wieder starke Schmerzen und auch Depressionen. Zwischen den einzelnen Forschungsprojekten ging es ihm oft nicht gut. Er saß dann tagelang in seinem Arbeitszimmer und grübelte vor sich hin. Frau Petzold hatte Anweisung, dann sofort den Hausarzt zu rufen. Dass er letzte Woche so eine Phase gehabt hätte, ist mir allerdings neu. Armer Stefan.«

»Die Haushälterin hatte letzten Freitag bis Sonntag Urlaub, hat sie uns erzählt.« Sandra übernahm wieder die Gesprächsführung.

»Wie passend. Dann war es wahrscheinlich eine depressive Krise. Wenn das keiner mitbekommt, kann es böse enden«, sagte Hesse und sprang auf. »Er hätte ja auch mal anrufen können, verdammt!«

»Bitte setzen Sie sich wieder«, forderte Leo ihn auf.

Aber Hesse schüttelte den Kopf. »Es ist gleich um zehn, ich habe noch Termine und ich muss mich um die Beerdigung und die Firma kümmern und dringend mit einem Kunden sprechen. Nach diesem schrecklichen Todesfall gibt es unendlich viel zu organisieren. Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich weg. Alles Wichtige haben wir doch besprochen, oder nicht?«

Leo war etwas ungehalten und er sah Sandra an, dass auch sie dieses Gespräch gern fortgesetzt hätte. Aber sie konnten Hesse schlecht gegen seinen Willen festhalten.

»Noch eine Frage«, sagte Leo und blieb demonstrativ sitzen. »Was war das für ein Unfall, den Herr Dr. Schüppel vor vielen Jahren hatte und der ihn mit seinen Folgen bis zu seinem Tod belastet hat?«

Christian Hesse drehte sich zum gekippten Fenster und sah hinaus. Der Duft seines teuren Rasierwassers wehte bis zu ihnen an den Tisch.

»Stefan ist beim Bergsteigen abgestürzt und wurde schwer verletzt. Schlimme Sache damals.« Christian Hesse drehte sich um und legte sich das Sakko von der Stuhllehne über den Arm. Er sah nochmals auf die teure Uhr an seinem Handgelenk.

»Ich muss jetzt wirklich gehen. Wann geben Sie seinen Leichnam frei, damit wir ihn beerdigen können?«

Sandra stand auf: »So bald wie möglich. Wir geben Ihnen Bescheid.«

Hesse nickte beiden zu und eilte den Flur hinunter zum Lift.

Leo stand neben Sandra und sah ihm hinterher.

»Wenn Schüppel depressiv war und Medikamente brauchte, die er möglicherweise am Samstag nicht bekommen hat, dann ist der Fall ja wohl ziemlich klar«, sagte Sandra.

Sie drückte Leo die Unterlagen in die Hand.

Er ordnete sie demonstrativ und sprach mehr zu den Papieren als zu seiner Kollegin.

»Dann erklär mir mal, wieso der Taxifahrer mir vorhin erzählt hat, dass Schüppel am Samstagmorgen so munter gewesen sei, wie er ihn trotz vieler Fahrten noch nie zuvor erlebt hatte. Wortwörtlich hat er gesagt: ›Ich hatte das Gefühl, der Doktor ist verliebt‹. Er hat lange rumgeeiert, bis er mir das sagte, weil es auch in seinen Ohren so verrückt klang. Aber er hat mir mehrmals bestätigt, dass das Schüppels Zustand am allerbesten beschreiben würde.«

»Verliebt?«

Sandra, die schon fast zur Tür raus war, drehte sich wieder um.

»Wieso hast du mir das nicht früher gesagt? Dann müssen wir mit Schüppels Arzt reden. Und seine Medikamente überprüfen. Und herausbekommen, was er vorhatte. Vielleicht hat er etwas eingenommen und überdosiert, etwas, das zu diesem Hochgefühl geführt hat, und dann, als die Wirkung nachließ …«

Sandra hatte nun wieder ein neues Szenario vor Augen und zog ihre Stirn in Falten.

Leo nickte und meinte: »Außerdem sind die Angaben von Helene Petzold und Christian Hesse doch in vielen Punkten unterschiedlich. Dem gehe ich jetzt nach.«

Sandra streckte die Hand aus, um die Papiere wieder an sich zu nehmen, aber Leo schüttelte den Kopf.

»Den Gehstock hatte er im Taxi übrigens dabei. Um den kannst du dich ja kümmern.«

Diese Runde ging an ihn.

Gegen elf Uhr am Vormittag ging Rigobert Bausewein mit seinem alten Dederon-Einkaufsbeutel die Bielatalstraße in Königstein hinunter. Im Vergleich zu seiner Wohnung, die angenehm schattig und kühl war, drückte hier draußen die Mittagshitze.

Bausewein fühlte, wie müde er war. Seit dem Leichenfund konnte er nicht mehr schlafen. Immer wenn er einnickte, riss ihn der Anblick von Dr. Schüppels totem Körper aus Morpheus Armen. Er hatte da gelegen wie der Mann in Leonardo da Vincis berühmter Zeichnung »Der Vitruvianische Mensch«: die Arme und Beine abgespreizt und das Gesicht nach oben, als gäbe es da im Juni-Himmel etwas zu entdecken. Was wollte ihm dieses Bild sagen? Was wollte ihm Dr. Schüppel mitteilen?

Er kannte den Doktor schon sehr lange, wenn auch nicht persönlich. Aber bis vor vier Jahren hatte er Jahr für Jahr seine Steuerunterlagen auf dem Tisch gehabt und so verfolgen können, was für ein bedeutender Forscher dieser Mann war. Schon früh war ihm aufgefallen, dass er und Dr. Schüppel am gleichen Tag, dem 12. September, Geburtstag hatten. Aber noch viel mehr verband ihn mit Schüppel die Leidenschaft für die heimische Natur. Er betrieb seine Fliegenforschung zwar nur privat, während der Doktor seine Projekte zu Farnen, Sumpfporst oder Moosen in weitaus größerem Stil und wissenschaftlich untermauert vorantrieb. Trotzdem waren sie so etwas wie Brüder im Geiste. Jahrelang hatte er um alle Firmen im Raum Pirna, deren Name mit ›S‹ beginnt, einen Bogen gemacht. Als Zuständiger für deren Steuererklärung vermied er jeden persönlichen Kontakt. Nur Dr. Schüppel hätte er gern kennengelernt. Rigobert Bausewein war im Laufe der Jahre zu einem großen Bewunderer Schüppels, seiner Buchhaltung und seiner bezaubernden Steuerberaterin geworden.

Aus verschiedensten Fördertöpfen, vom Land Sachsen bis hin zur EU, waren großzügige Gelder in Schüppels Forschungsvorhaben geflossen. Aber jede einzelne Maßnahme hatte sich gelohnt: Immer wieder hatte der Doktor neue Ideen entwickelt. So etwas schaffte nur ein Genie, ein wirklich einzigartiger, kreativer Geist.

Hinter dem Kaffeehaus an der Dresdner Straße waren die Terrassentische dicht gefüllt mit Touristen, die sich Eisbecher und Torten schmecken ließen.

Ob er sich auch eine Erfrischung gönnen sollte?

»Guten Tag, Rigo!«

Er fuhr aus seiner stillen Betrachtung der Café-Terrasse herum.

Vor ihm stand, schwer schnaufend, Renate Jäger, seine Nachbarin aus dem Haus gegenüber. Sie trug in jeder Hand eine Einkaufstasche, aus denen Grünzeug und eine Zeitung quollen.

»Tag, Renate! Wie geht’s?«

»Nu, gut, mein Bester. Haste gelesen, dass sie den Schüppel aus Rathmannsdorf abgemurkst haben?«

Bausewein lächelte. Dass er höchstpersönlich derjenige war, der die Leiche gefunden hatte, würde Renate gleich schwer beeindrucken. Als er eben erzählen wollte, wie das am Sonntag abgelaufen war, machte sich plötzlich eine Erkenntnis in ihm breit, die ihm trotz der Hitze einen Schauer über den Rücken jagte.

»Abgemurkst, sagst du?«

»Nu, steht in der Sächsischen Zeitung. Wobei …, nicht so ganz. Die schreiben, dass er beim Kuhstall tot aufgefunden wurde. Ist aber doch klar, dass der nicht freiwillig von da oben runtergehuppt ist. Den hat einer aus’m Weg geräumt, sag ich dir.«

Sie unterstrich ihre Überzeugung mit heftigem Kopfnicken.

Da fiel es Bausewein wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Er war mitten in einem Mordfall gelandet! Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Seine Alpträume waren Dr. Schüppels Botschaft an ihn, den Mord zu untersuchen.

Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Menschen von Grund auf schlecht waren. Wie oft hatte er erlebt, dass Steuerzahler unendlich viel Energie aufwandten, um ihre Steuererklärung zu fälschen. Fast jeder, von der Hausfrau bis zum Unternehmer, versuchte, das Finanzamt auszutricksen. Kein Wunder, dass es so schlecht um die Welt bestellt war, bei so viel kriminellem Eifer! Die Schüppel Science GmbH war da immer ein leuchtendes, absolut korrektes Vorbild gewesen. Bis zur letzten Ziffer hatten die Bilanzen gestimmt.

Und nun dieses schreckliche Ende. In Bauseweins Gehirn sprang ein Räderwerk an, dem er sich nicht entziehen konnte. Diesem blutjungen Polizisten im Adamskostüm traute er ganz und gar nicht über den Weg. Wer nackt durch den Wald lief, hatte weder Moral noch Grundsätze, war also erstens jederzeit erpressbar und zweitens nicht geeignet, die wahren Beweggründe für diesen Mord zu erkennen. Er, Rigobert Bausewein, war aus einem anderem Holz geschnitzt! War es jetzt nicht an ihm, Dr. Schüppels Tod zu untersuchen?

Ohne auf die erstaunte Renate Jäger zu achten, ließ Bausewein sie einfach stehen und eilte zum Zeitungsstand. Er wusste, was er zu tun hatte.

Sandra beschloss, Helene Petzold anzurufen. Sie ging hinüber zu Leo, der noch über den Obduktionsbericht von Dr. Gräber gebeugt saß.

»Was hältst du davon, wenn wir die Doch-nicht-Zukünftige von Stefan Schüppel anrufen und uns seine Medikamente zeigen lassen?«

»Gut, aber diesmal fahre ich. Rufst du sie an und bittest sie, uns um eins an der Villa zu treffen? Dann können wir noch was essen, bevor wir losfahren.«

»Ich kümmere mich drum.«

»Übrigens, Dr. Gräber schreibt hier, dass der Todeszeitpunkt auf die Zeit zwischen sieben und neun Uhr bestimmt werden kann.« Leo tippte mit dem Finger auf die entsprechende Stelle im Bericht.

Sandra rechnete kurz nach. »Dr. Schüppel hat sich ja um halb sieben abholen lassen. Dann hat er nicht viel Zeit dort oben verbringen können.«

»So ist es«, brummte Leo und vertiefte sich wieder in Dr. Gräbers Text.

Nach dem Telefonat mit Helene Petzold führte Sandra ein langes Gespräch mit Dr. Schüppels Hausarzt in Bad Schandau, der Hesses Angaben zu Schüppels Depressionen bestätigte. Dann googelte sie die Waldgold GmbH.

Das Familienunternehmen produzierte in der vierten Generation neben einem Kräuterlikör diverse Naturkosmetika mit Auszügen aus heimischen Kräutern, zum Beispiel ein Haarwasser, das Rasierwasser »Sächsisch Moos«, eine Hautcreme mit heimischer Arnika und Kamille gegen kleine Blessuren und eine Anti-Falten-Creme mit Auszügen aus Sumpfporst. Die, so erinnerte sich Sandra, hatte sie schon in ihrem Bioladen im Kosmetik-Regal stehen sehen.

Sie zog ihren Handspiegel aus der Schreibtischschublade und überprüfte kritisch ihr Gesicht. Wurde es mit ihren vierunddreißig Jahren auch bei ihr langsam Zeit für eine Pflege gegen Fältchen? Sie zog ein paar Schnuten und stellte dankbar fest, dass noch kein dringender Handlungsbedarf erkennbar war. Aber nächstes Jahr könnte sie sich ja mal ein Töpfchen der Waldgold-Wunder-Creme zu Weihnachten wünschen.

Es klopfte. Leo kam mit einer Leberkäs-Semmel in der Hand in ihr Büro und verbreitete einen Duft nach Brötchen und Bratenkruste. Ihr Magen meldete sich sofort.

 

»Mist, schon so spät?«

Der Artikel in der Sächsischen Zeitung war eher knapp gehalten. Es war nur zu lesen, dass Dr. Stefan Schüppel am Sonntag tot im Gebiet des Neuen Wildensteins, im Volksmund Kuhstall genannt, gefunden worden sei. Weder zum Fundort noch zur Todesursache fanden sich genaue Angaben. Rigobert Bauseweins Rolle in der Sache war mit »… gefunden von einem ortskundigen Pensionär« nur am Rande erwähnt worden. Dabei hatte er dem Polizisten doch seinen Namen, seine botanischen Vorlieben und vor allem seine Kenntnisse in der entomologischen Forensik genau erläutert.

Das war kein Zufall, schlussfolgerte Bausewein. Wenn es sich um einen Unfall oder ein Unglück gehandelt hätte, dann hätten all diese Angaben auch in der Zeitung gestanden. Der Artikel war ein Beleg dafür, dass Dr. Stefan Schüppel umgebracht worden war. Der Täter sollte in Sicherheit gewiegt werden.

Gedankenverloren ließ er seinen Blick über die Bücherregale wandern, die sein Wohnzimmer wie eine Schutzmauer umfingen. Zwei Meter Kriminal-Literatur, drei Meter Steuerrecht und Verordnungen, die er im Laufe seiner Tätigkeit beim Finanzamt gesammelt hatte, zwei Meter Klassiker und ein Meter biologische Abhandlungen über Insekten, insbesondere über Zweiflügler.

Er schweifte zurück zu den Krimis. Eigentlich wusste er doch, wie es geht.

Bausewein lief zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, überlegte, wo er beginnen sollte, und hätte darüber beinahe die Kartoffeln vergessen, die auf dem Herd kochten.

Nach dem Mittagessen wusste er, wie er es anfangen würde.

Sein phänomenales Zahlengedächtnis würde ihm helfen.

Sobald Leo das Siegel entfernt hatte, versuchte Helene Petzold mit sichtlichem Unbehagen die Haustür aufzuschließen.

»Ich bin immer noch total durcheinander …«, stammelte sie entschuldigend, als sie endlich den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Der pinkfarbene Chiffonschal, der passend zum knallig schwarz und pink gemusterten Kleid um ihren Hals flatterte, kam ihr ständig in die Quere.

Sandra rollte mit den Augen, aber Leo lächelte ihr aufmunternd zu.

»Als Erstes zeigen Sie uns bitte Herrn Dr. Schüppels Medikamente«, bat Sandra. Helene Petzold führte sie die Treppe hinauf und trat ins Bad. Obwohl es nach hinten zur Felswand lag, war es dank der beiden großen Fenster mittags hell und angenehm. Sie öffnete den weißen Schrank neben dem Waschtisch und präsentierte ihnen drei Regalbretter voller Medikamente.

»Oha!«, entfuhr es Leo Reisinger. Das sah aus wie die Ausstattung einer mittleren Apotheke.

Helene Petzold war einen Schritt zurückgetreten: »Das meiste sind Vitamine, Mineralien, Algenextrakte und so Sachen. Stefan war ein bisschen, naja, hypochondrisch. Er hatte immer Angst um seine Gesundheit und nahm alles Mögliche, von dem er glaubte, dass es ihm guttun würde.«

»Und die Medikamente gegen Depressionen, wo sind die?«

Helene Petzold kam wieder näher und kniff die Augen zusammen, während sie das mittlere Regalbrett durchsuchte.

»Hier. Moclobemid. Das war aber nur für die Tage, wo es ihm ganz schlecht ging. An weniger schlimmen Tagen hat er seine Kapseln mit Johanniskraut genommen. Er schwor ja auf die Naturheilmittel.« Sie hielt zwei verschiedene Packungen hoch.

»Können Sie feststellen, wann er die letzten genommen hat?«, fragte Sandra.

Helene Petzold zögerte.

»Also die Moclobemid hat uns Dr. Friebel zuletzt vor drei Monaten verschrieben. Vor sechs Wochen ging es ihm mal nicht so gut, aber da wollte er nur die Johanniskraut-Kapseln.«

Mit fahrigen Bewegungen öffnete sie die Schachtel Moclobemid.

»Er hat keine einzige genommen …«

Sie verschloss die Schachtel wieder und nahm die nächste, die laut Aufschrift hoch dosiertes Johanniskraut enthielt. In dieser Packung fehlten fünf Kapseln.

»Die hat er vor sechs Wochen eingenommen. Das weiß ich sicher.«

Leo sah Sandra an: »Das kann doch eigentlich nur bedeuten, dass Dr. Schüppel keinen depressiven Anfall hatte.«

Er wandte sich an Helene Petzold: »Er hätte doch gemerkt, wenn es ihm schlechter geht, und wenigstens die Naturkapseln genommen, oder?«

»Ich glaube schon«, flüsterte sie und nickte.

»Wissen Sie, ob er noch andere Psychopharmaka besaß? Stimmungsaufheller, die die Laune kurzfristig heben?«, fragte er und sah sie eindringlich an.

»Auf keinen Fall!«, protestierte sie heftig.

»Nun gut, bei der Menge an Medikamenten sollten wir das prüfen lassen.« Leo begann, die vielen Schachteln und Flaschen in einen Beutel zu füllen.

Helene Petzold sah ihn an und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Wenn ich bloß nicht weggefahren wäre. Dann würde er bestimmt noch leben. Wir hätten so ein gutes Leben haben können.« Sie begann zu weinen.

Sandra atmete hörbar ein und aus.

»Frau Petzold«, sagte sie und klang dabei nicht sehr mitfühlend. »Herr Hesse sagte uns, dass Herr Dr. Schüppel keineswegs eine tiefere Beziehung mit Ihnen geführt hat. Kann es sein, dass Sie ein wenig übertreiben, was Ihre gemeinsame Zukunft mit dem Verstorbenen angeht?«

Helene Petzold fuhr auf.

»Also, wissen Sie! Wie kann er es wagen?! Der hat sich hier doch kaum blicken lassen! Und jetzt bildet er sich ein, er wüsste irgendwas über Stefan?«

Sie funkelte Sandra wütend an.

Leo ging dazwischen: »Immerhin kannte er Herrn Dr. Schüppel seit dreißig Jahren.«

»Na und? So gut wie ich kannte Stefan niemand. Da können Sie sicher sein!«

Ärgerlich warf Helene Petzold die Türen des Badschranks zu und marschierte in das schräg gegenüber liegende Zimmer.

Es war Schüppels Arbeitszimmer. Der altmodische Schreibtisch mit Lederbespannung stand sorgfältig aufgeräumt mitten im Zimmer, dahinter eine ganze Wand voller Einbauschränke aus dem gleichen, dunklen Holz. Gegenüber lud ein zierliches Biedermeier-Sofa mit Tischchen zum Sitzen ein. Der dicke Teppich dämpfte die Schritte der Ermittler, als sie Helene Petzold ins Zimmer folgten.

Mit großer Geste und erst, als sie sicher war, dass ihr beide Kommissare zuschauten, nahm sie einen grün glasierten Keramikbecher vom Schreibtisch. Sie fischte die Stifte heraus und drehte den Becher um. Auf die leere Arbeitsfläche klimperte daraufhin ein kleiner Schlüsselbund mit vier silbernen Schlüsseln. Ohne ein Wort zu sagen, aber jede Bewegung betonend, als ginge es hier um ein Lehrvideo, schloss sie die erste Schranktür auf. Nacheinander entsperrte sie mit den kleinen Schlüsseln die Türen und ließ sie weit geöffnet stehen. Die Schränke waren vollgepackt mit beschrifteten Ordnern.

»Hätte Herr Hesse das auch gewusst?«, fragte sie spitz und warf sich den pinken Schal über die Schulter.

Leo verkniff sich ein Grinsen und meinte: »Keine Ahnung, jetzt brauchen wir ihn nicht mehr zu fragen.«

Zielsicher zog sie einen Ordner aus dem rechten Schrank und schlug ihn auf dem Schreibtisch auf.

»Hier! Eine Reise mit dem Schiff ans Nordkap im nächsten März für zwei Personen.«

Sandra warf einen Blick auf das Buchungsformular des Reiseveranstalters.

»Ihr Name ist da aber nicht eingetragen …«, sagte sie und schaute Helene Petzold in die Augen.

»Nu, also wissen Sie, mit wem sollte er denn sonst fahren? Mit Herrn Hesse etwa?«

Sie fuchtelte mit ihrem gestreckten Zeigefinger vor Sandras Gesicht herum.

»Nein, nein. Ich bin sicher, er wollte mich überraschen. Ich habe im August Geburtstag.«

Leo konnte sehen, dass Sandra inzwischen ziemlich genervt war von Frau Petzolds Wunschträumen und ging dazwischen.

»Wissen Sie auch, wo er sein Testament aufbewahrte?«, fragte er.

Sie hielt in der Bewegung inne und stockte einen Moment.

»Nu, das ist im Tresor.«

»Und der ist wo?«, fragte Leo.

Helene Petzold kämpfte sichtbar mit sich selbst, ob sie das Geheimnis verraten dürfe.

»Wir sind von der Kriminalpolizei, Frau Petzold, uns dürfen Sie das schon sagen. Wir ermitteln schließlich im Todesfall von Herrn Dr. Schüppel.«

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