Buch lesen: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer», Seite 3

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Lebensverlängerung als Sterbeverlängerung

Auch meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, erlitt einen Hirnschlag. Das war im Jahre 1931. Als es passierte, betteten ihre Angehörigen sie aufs Sofa und eines ihrer Kinder fuhr mit dem Velo ins Nachbardorf. Doch der Arzt war auf Krankenbesuchen unterwegs. Er würde, so hieß es, am Abend, jedenfalls so bald wie möglich, vorbeikommen. Als er meine Großmutter untersuchte, empfahl er, ein befeuch­tetes, kühles Tuch auf ihre Stirn zu legen und zu warten. Mehr könne man im Moment nicht tun. Dann ging er wieder zurück in sein Dorf. In der darauffolgenden Nacht starb meine Großmutter, ohne nochmals aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht zu sein. So kam es, dass sie in ihrem Bett zu Hause sterben konnte. Ohne Ambulanz. Ohne Blaulicht. Ohne Magensonde. Ohne wochen-, monate-, jahrelanges Leiden, gelähmt und sprachlos in einem Pflegeheim. Ich bin mir sicher, meine Mutter hätte sich nach ihrem letzten Hirnschlag einen sanften, raschen Tod wie den ihrer Mutter gewünscht.

Ich möchte damit nichts gegen den Fortschritt der Medizin sagen. Er ist in vielerlei Hinsicht ein Segen. Die Ärzte, die meine Mutter behandelten, entschieden sicher nach bestem Wissen und Gewissen, in der berechtigen Hoffnung, ihr noch einige Lebensjahre zu schenken. Dass es dann zu diesem dreijährigen Sterbemartyrium kam, ist eine unbeabsichtigte Folge. Doch mehr als fünfzig Jahre zuvor, zu der Zeit, als meine Großmutter starb, kannten wir diese Probleme nicht. Es gab keine Möglichkeiten, einen bewusstlosen Menschen künstlich zu ernähren und ihn so am Leben zu erhalten.

Die Entwicklungen der Medizin in den letzten siebzig Jahren haben dazu geführt, dass bei Schwerkranken und Sterbenden der Tod hinausgeschoben und das Leben verlängert werden kann. Doch der Gewinn an Lebenszeit kann für die Betroffenen zur Qual werden. Andelka und Judith sind tragische Beispiele, wie selbst die beste medizinische Behandlung zur Folter werden kann.

Folter. So ein Begriff schießt nun doch übers Ziel hinaus. Folter meint ja das absichtsvolle Zufügen von physischen und psychischen Qualen, um den Willen des Opfers zu brechen oder um es zu demütigen.

Von vielen Leidenden hört man: Meine Schmerzen foltern mich Tag und Nacht. Davon bin ich wohl beeinflusst. Was meiner Mutter, was den beiden jungen Frauen passierte, war von niemandem so geplant. Die Behandlungen sollten das Leben verlängern und führten doch gleichzeitig zu einem Zustand, der für die Patientinnen quälend war. Auch wenn meine Mutter es nicht äußern konnte, so hatte sie doch ebenso wie die beiden jungen Frauen den sehnlichsten Wunsch, aus diesem Leib und Seele zermürbenden Zustand durch den Tod erlöst zu werden.

Nun waren die Situationen ja sehr unterschiedlich. Ihre Mutter war über siebzig und gelähmt. Andelka war terminal an Krebs erkrankt, und ihr rascher Tod war absehbar. Judith schließlich, jung wie Andelka, hatte dank Medizin gleichwohl noch eine Spanne an Lebenszeit vor sich.

Doch bei allen drei Frauen wurde das Sterben durch die Medizin verlängert, ob es nun Wochen, Monate oder Jahre waren. Am längsten bei Judith. Bei ihr folgte ein Spitalaufenthalt auf den anderen. Sechs Jahre lebte sie von Operation zu Operation. Die Tage waren eingeteilt durch die stündlichen Morphiumspritzen, ohne die sie die Schmerzen nicht auszuhalten vermoch­te. Die fünf Operationen nach dem Darmdurchbruch änderten an ihrem aussichtslosen Leiden nichts. Diese medizinischen Be­­hand­lungen mussten selbstverständlich gemacht werden, sie hatten aber eine paradoxe Wirkung. Sie verlängern Judiths Le­­­ben – und zugleich ihr Sterben.

Sie sprechen also dann von Sterbeverlängerung, wenn die Medizin einen Menschen zwar am Leben erhält, ihn jedoch nicht mehr heilen, seine Situation nicht mehr verbessern kann?

Ja.

War diese Art der medizinischen Behandlung nicht der Wunsch von Judith? Sah sie es denn auch so, dass zugleich mit ihrem Leben auch ihr Sterben verlängert wurde?

Judith war beseelt vom Willen, am Leben zu bleiben. Doch in der Phase, als sie mit Exit Kontakt aufnahm, hatte sie begon­nen, ihre Behandlungen nicht mehr zu ertragen. Sie wollte sich keiner weiteren Operation mehr unterziehen. Sie hatte den Wunsch, diese Qual zu beenden. Auch wenn sie sich dann anders entschied und nicht mit Exit aus dem Leben ging.

Die Volksabstimmung 1977: Eine Panne der Demokratie?

«Die unterzeichneten Stimmberechtigten des Kantons Zürich verlangen: Der Kanton Zürich reicht gemäß Artikel 93 der Bundesverfassung eine Standesinitiative mit folgender Forde­rung ein: Die Bundesgesetzgebung ist dahingehend zu ändern, dass die Tötung eines Menschen auf eigenes Verlangen straffrei ist, falls folgende Voraussetzungen erfüllt sind …»14

Die «Volksinitiative Sterbehilfe auf Wunsch für Unheil­bar-Kranke», 1975 lanciert, wird von keiner Partei unterstützt. Re­gierung und Parlament stehen ihr ablehnend gegenüber. Das Zürcher Stimmvolk, davon unbeeindruckt, nimmt sie zweieinhalb Jahre später, am 25. September 1977, mit fast 60 Prozent Ja-Stimmen an.

War dieses vom politischen Establishment unerwünschte Ergebnis eine «Panne der Demokratie»?15 War die Bevöl­ke­rung überfordert und wusste nicht, was sie tat? Hatte die «heftige öffentliche Diskussion um den Fall Haemmerli» zu Missverständnissen beigetragen? Das Eidgenössische Parlament muss reagieren. Eine Kommission wird eingesetzt.

Urs Haemmerli hatte passive Sterbehilfe geleistet, den «Verzicht auf die Aufnahme oder den Abbruch von lebenser­hal­ten­den Maßnahmen», um die Formulierung des Bundesamts für Justiz zu zitieren.16 Die «direkte aktive Sterbehilfe» ist hingegen, so ebenfalls das Amt, eine «gezielte Tötung zur Verkür­zung der Leiden eines anderen Menschen», bei der ein Arzt oder ein Dritter dem Patienten absichtlich eine Spritze verabreicht, die direkt zum Tod führt.

Nur um diese aktive Sterbehilfe dreht sich die Initiative. Sie verbindet ihre Forderung nach Straffreiheit mit einer Reihe von Bedingungen. So müsse der Sterbewillige an einer unheilbaren, schmerzhaften und mit Sicherheit zum Tode führenden Krankheit leiden. Er müsse außerdem seinen Sterbewunsch in zwei öffentlichen Urkunden festhalten, wobei ein Psychiater seine Urteilsfähigkeit zu bestätigen habe. Erst danach dürfe sein Leben von einem bis zu diesem Zeitpunkt nicht beteiligten Arzt beendet werden.

Die Kommission holt sich Rat bei der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Diese hatte in ihren 1976 publizierten «Richtlinien für die Sterbehilfe» festgestellt, die Aufgabe des Arztes sei Lebenshilfe, «ausgerichtet auf die Erhaltung und Verlängerung des Lebens».17 Die Kommission folgt dieser Linie. Gezielte Lebensverkür­zung durch Tötung sei kein ärztliches Anliegen. Sie fasst zusammen: «Kann ein Arzt nicht mehr zur Genesung eines Patienten beitragen, dann soll er sich auf Linderung des Leidens beschränken», und empfiehlt dem Eidgenössischen Parlament, der Initiative keine Folge zu leisten. Und so geschieht es dann auch.

Viele Begriffe, ein Wunsch

Herr Kriesi, warum haben noch immer viele Ärztinnen und Ärzte ein Problem, wenn ihre Patienten sie bitten, ihnen sterben zu helfen?

Die Tradition der Medizin, die medizinische Ausbildung und auch die FMH, der Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, setzen auf lebenserhaltende Maßnahmen und nicht auf solche, die beim Sterben helfen. Zwar hat sich seit dem Fall Haemmerli vieles verändert, und viele Ärzte unterlassen etwa in aussichtslosen Situationen lebenserhaltende Maßnahmen wie eine künstliche Ernährung oder nehmen sie zurück. Doch dabei unterliegen sie weiterhin dem Trugschluss, das passive Vermeiden sei moralisch höherwertig als das aktive Zurücknehmen. Dabei macht es nach meiner Meinung keinen Unterschied, ob der Patient sterben kann, weil ein Arzt eine bestimmte, aussichtslose Behandlung erst gar nicht beginnt oder ob er diese wiedereinstellt, weil er merkt, dass sie mehr belastet als Gutes tut.

Beides – der Behandlungsabbruch durch Unterlassen oder Einstellen – gilt juristisch als passive Sterbehilfe. Doch psychologisch macht es einen Unterschied. Es fällt, so meine Erfah­rung, schwerer, eine Maßnahme wieder zurückzunehmen, die den Patienten am Leben hält. Die Verantwortung scheint in diesem Fall größer, und größer können daher auch die damit einhergehenden Schuldgefühle sein. Man hat schließlich mit den eigenen Händen etwas getan – etwa den Hahn der Infu­sion zugedreht und damit die Flüssigkeitszufuhr gestoppt –, was das Sterben beschleunigt hat, weil es zuvor durch genau diese Maßnahme noch aufgeschoben wurde.

Hier liegt psychologisch eine viel größere Hürde. Ja. Doch in der Konsequenz ist es dasselbe. Der Patient stirbt, ob ich die Maßnahme erst gar nicht beginne oder ob ich sie einstelle. In beiden Fällen habe ich geholfen, sinnloses Leiden abzukürzen. Nur dar­auf kommt es an.

Wenn es nur darauf ankäme, dann ist kaum nachzuvollziehen, mit welchem Aufwand weitere begriffliche Unterscheidungen verteidigt und moralisch und juristisch bewertet werden. Es gibt ja neben der passiven Sterbehilfe und ihren Varianten Unterlassen und Einstellen noch die aktive Sterbehilfe mit den Varianten indirekt und direkt. Gibt der Arzt dem sterbenden Patienten etwa Morphium oder ein anderes sedierendes Mittel, um ihn in ein künstliches Koma zu versetzen, dann kann dies sein Leben verkürzen. Diese sogenannte palliative Sedierung gilt als indirekte aktive Sterbehilfe. Wenn der Arzt allerdings mit der Absicht, Juristen sprechen hier vom Vorsatz, ein Mittel verabreicht – etwa eine genügend hohe Dosis Morphium –, damit die Patientin stirbt und somit nicht länger leiden muss, dann wäre dies direkte aktive Sterbehilfe, auch Euthanasie genannt. Diese ist vom Gesetz verboten.

Die Ursprünge der Unterscheidung reichen tief zurück in unsere Kultur. Bis zu Thomas von Aquin, dem Philosophen und Theologen aus dem 13. Jahrhundert, der von der katholischen Kirche zum Kirchenlehrer erklärte wurde und als Heiliger verehrt wird. Er hat das Konzept der sogenannten Doppelwirkung entwickelt, das hier auf die Situation eines Schwerkranken angewendet wird. Die katholische Theologie hat keine Bedenken, wenn der Arzt die Absicht hat, Schmerzen zu lindern. Wenn dabei das schmerzstillende Mittel die doppelte, also zusätzliche Wirkung hat, dass der Patient stirbt, wird das akzeptiert. Aber nur dann. Der Arzt darf also das Sterben in Kauf nehmen, nicht aber beabsichtigen. Holen Sie Thomas von Aquin hervor?

Mach ich. Später. Historisch ist die Unterscheidung nachvoll­ziehbar, ansonsten fällt es mir schwer, die indirekte aktive Sterbehilfe moralisch der direkten überzuordnen. Auch die indirekte aktive kann etwa moralische Defizite im Gefolge haben. So habe ich es erst kürzlich erlebt. Weil der Tod bei der indirekten aktiven Sterbehilfe zu einem in Kauf genom­menen Nebeneffekt wird, kann diese Art von Hilfe von dem eigentlich einschneidenden Ereignis, dem Sterben eines geliebten Menschen, ablenken. Der Sterbeprozess hat einge­setzt, der Tod wird bald da sein, und doch wird beides verdrängt, da man sich auf die schmerzlindernde Morphiumgabe, auf eine geradezu technische Handlung konzentriert. Und somit nicht auf den Abschied und die wohl wichtigste Verantwortung, also dem sterbenden Menschen nah zu sein und ihm seelisch beizustehen, so wie er es braucht.

Vor allem die deutschen Mediziner sprechen in beiden Fällen nicht von Sterbehilfe. Sie vermeiden geradezu panisch diesen Begriff, wenn sie hohe Morphiumdosen geben. In der deutschen Palliativmedizin gilt offiziell, dass man in diesem Zusammenhang nur von palliativen Maßnahmen sprechen darf.

Nun, wir Deutschen – ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen – haben tatsächlich panische Angst davor, irgendetwas zu tun, was im Entferntesten an die Zeit des Nationalsozialismus und die Hitler’schen Euthanasieprogramme erinnern könnte, bei denen systematisch Patienten ermordet wurden.

Das war ein Verbrechen. Das hat nichts mit der Frage zu tun, was für eine Person ein guter Tod sein könnte. Der Einzige, der das sagen kann, ist der Patient selbst. Und hierum geht es bei der Sterbe- und der Freitodhilfe. Um Selbstbestimmung des Sterbewilligen. Um Hilfe, wenn er sie braucht. Um Linderung eines Leidens, das er nicht mehr aushalten kann.

Ich bin immer wieder perplex, dass es in Deutschland so schwerfällt, die furchtbaren Naziverbrechen und die Ster­behilfe auseinanderzuhalten. Es kommt mir absurd vor, den Wi­derstand gegen die Sterbehilfe mit dem Hinweis auf die Naziverbrechen zu begründen. Da kommt doch eine irratio­nale Abwehrhaltung zum Ausdruck, die als Folge der heutigen medizinischen Möglichkeiten notwendig geworden ist. In der Schweiz ist die Befangenheit viel kleiner als in Deutschland. Unsere Kultur ist mehr an der Praxis orientiert. Und nicht an den Formulierungen.

Auch in der Schweiz setzen die Begrifflichkeiten klare Grenzen. Direkte aktive Sterbehilfe, die gezielte, vorsätzliche Verabreichung einer Spritze, die zum Tod führt, ist durch das Strafgesetzbuch verboten. Ich frage mich, ob es nicht nur eine Sache der Konsequenz, des Realismus und wohl auch Mutes ist, einen Schritt weiterzugehen und auch die direkte aktive Sterbehilfe, ungeachtet der höheren psychologischen Hürde auch hier, moralisch und rechtlich mit den anderen Formen der Sterbehilfe gleichzusetzen.

Die Grenzen sind in der Praxis ohnehin fließend. Das sagen gerade die Intensivmediziner, die Tag für Tag mit dieser Situation konfrontiert sind. Es gibt einen breiten Graubereich, in dem zwischen palliativer Sedierung und aktiver Sterbehilfe nur mit viel Haarspalterei zu unterscheiden ist. So habe ich oft von Medizinern gehört, dass sie auch das Einstellen einer lebenser­haltenden Maßnahme als eine aktive Handlung und so gesehen als aktive Sterbehilfe empfinden.

Anfänglich war ja die aktive Sterbehilfe auf Wunsch das Ziel der Gründer von Exit. Doch die Politik zog nicht mit, auch wenn die Volksabstimmung von 1977 eine breite Akzeptanz zumindest der Zürcher Stimmbürger zeigte. Exit nahm daher schon 1984, im zweiten Jahr nach der Gründung, von der aktiven Sterbehilfe Abstand und bietet seither ausschließlich etwas an, was bisher nicht diskutiert worden war: die Hilfe beim Freitod …

… bei der entscheidend ist, dass der Sterbewillige entweder eigenhändig das Sterbemittel trinkt oder eigenhändig den Infu­sions­hahn öffnet. Und nicht Dritte. Weder Ärzte noch Ange­hö­rige.

Was ist, wenn ein Patient nicht mehr die Kraft oder Bewe­gungskontrolle dafür hat?

Hier müssen wir improvisieren, denn sonst eröffnet die Staatsanwaltschaft ein Verfahren. Einmal passierte es, dass die Finger eines Patienten an dem Tag, an dem er sterben wollte, nicht mehr beweglich genug waren, um den Infusionshahn zu bedienen. Also verbogen wir eine Büroklammer so, dass wir sie am Infusionshahn befestigen konnten. Dann verbanden wir sie mit einer Schnur, die wir dem Patienten in die Hand gaben. Er zog – das konnte er noch –, und der Hahn öffnete sich. Somit war es der Patient, nicht wir, der den letzten Akt vollzog, der dann zu seinem Sterben führte. Die Juristen nennen das Tatherrschaft.

Später habe ich diese Verfahren Dr. Brunner vorgeführt, dem damaligen Leitenden Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich. Wir trafen uns regelmäßig, um die Möglichkeiten von Exit auszuloten. Er stimmte zu, dass dieses Verfahren noch im Rahmen der Legalität sei. Doch er war äußerst vorsichtig und empfahl, zukünftig doch bitte zwei Büroklammern zu verwenden. Bei nur einer sei das Risiko zu groß, dass der Patient durch seine Ner­vosität den Hahn versehentlich öffne. Und ein Versehen ist keine Tatherrschaft. Seither verwenden wir in diesen Notsi­tu­ationen also zwei Büroklammern.

Klingt nach rechter Trickserei. Was ist, wenn die zwei Büroklammern in einer solchen Situation zu viel Widerstand leisten? Wenn Sie dann eine wegnehmen und der Patient es nochmals versucht? Wiederum vergeblich? Wie gehen Sie dann mit der Tatherrschaft um?

Wenn etwa ein Patient mit einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems wie der amyotrophen Lateralskle­rose die Fingerfertigkeit nicht mehr hat, dann können wir inzwischen riskieren, den Hahn für ihn zu öffnen aufgrund eines Gutachtens des Basler Juristen Daniel Häring. Er schreibt: «Über das ‹Ob› und ‹Wie› der Tat bestimmt ein Mensch beim Beizug einer professionellen Suizidhilfeorganisation auch dann, wenn er das zu seinem Tod führende Geschehen initiiert und durch klare Anweisungen an den Sterbehelfer, ohne dass diesem bei der Umsetzung ein großer Ermessensspielraum zukommt, vollständig selbst gestaltet.»18

Wissen Sie, all diese Unterscheidungen – passiv, indirekt aktiv, direkt aktiv, assistiert – sind Sprachwasch.

Sprachwasch?

Würden sie mich zu den älteren Leuten zählen?

Durchaus.

Das ist Sprachwasch.

Aha … Gut, dann zähle ich Sie zu den alten Männern. Auch wenn es mir recht unhöflich, geradezu respektlos vorkommt, so von Ihnen zu sprechen.

Sprechen Sie von mir als sehr altem Mann, bitte!

Okay. Ich versuch’s. Mal sehen. Und bald dann vom uralten Mann?

Ja, bald. Bald bin ich hochbetagt, hochaltrig, uralt. Aber erst, wenn ich neunzig bin.

Thomas von Aquin: Gott ist es, der tötet und lebendig macht

«Das Leben ist ein Geschenk Gottes und Gottes Macht unterworfen, der da tötet und lebendig macht», so schreibt Thomas von Aquin in seinem Hauptwerk «Summa theologica», zu Deutsch «Hauptinhalt der Theologie».19 In diesem voluminösen Werk nimmt er sich nichts anderes vor, als Anfängern, die die Lehre der katholischen Wahrheit nicht kennen, «kurz und klar» alles darzulegen, was zu dieser gehöre. Und somit auch das Selbstmordverbot von Augustinus.

Thomas von Aquin, in der Literatur meist abgekürzt Thomas genannt, wurde 1224 oder 1225 als jüngster Sohn des Grafen von Aquino wohl in der Burg Roccasecca geboren, die auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel liegt. Fünf- oder sechsjährig übergeben ihn seine Eltern den Benediktinern des nahe gelegen Klosters Monte Cassino. Rund zehn Jahre später verlässt Thomas diesen Ort, um an der neu gegründeten Uni­ver­sität Neapel zu studieren. Bald darauf tritt er dem noch jungen Bettelorden der Dominikaner bei – in Abbildungen wird er daher meist im schwarzen Umhang dieses Ordens gezeigt. Es folgen lange Studienaufenthalte, erst in Paris, dann Köln und nochmals Paris, nun mit eigenen Lehrveran­stal­tun­gen. Das Studium, die Auseinandersetzung vor allem mit Aristoteles und dessen Kommentatoren empfindet er als «geistli­chen Trost».20

Von Mitte 1272 bis Ende 1273 unterrichtet Thomas als ­Magister in Neapel, seinem letzten Lebens- und Wirkungsort. Er stirbt, erst 50-jährig, im Jahr 1274. Zeitgenossen spekulieren über einen politischen Giftmord. Seine «Summa theologica» bleibt unvollendet. In den kommenden beiden Jahrhunderten wird Thomas zu einer dominierenden Autorität, an der sich die katholische Kirche orientiert. Um daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen, ernennt ihn Papst Pius V. in der Mitte des 16. Jahrhunderts zum Kirchenlehrer. Ende des 19. Jahrhunderts werden seine Lehren dann zur offiziellen Philosophie der katholischen Kirche erklärt.

Thomas war fromm, doch gleichzeitig ein analytischer Denker, der sich gegen die antiintellektuelle Haltung der Klöster stemmt. Religiöser Glaube und die logisch argumentierende Vernunft sind für ihn keine Konkurrenten, sondern zwei Wege, die widerspruchsfrei zu der einen Wahrheit führen. Doch dafür muss die Vernunft den richtigen Weg einschla­gen. Und so stellt er in der «Summa» Frage um Frage, gibt darauf Antwort um Antwort, liefert Pro und Contra, zeigt, dass das Contra auf Fehlschlüssen der Vernunft beruht, auf unvollständigem, nachlässigem Denken, und stärkt, nein, zementiert so das Pro, auch bei der Frage: Darf jemand sich selber, aus eigener Autorität töten? Die Antwort ist ein dreifaches Nein.

Nein, weil die Selbsttötung dem Lebenszweck widerspricht. Denn ein jedes Wesen liebt von Natur aus sich selbst. Wer sich selbst tötet, verstößt gegen diese naturgegebene, heilige Selbstliebe.

Nein, weil jedes Wesen Teil eines Ganzen ist. Selbsttötung schadet der gesellschaftlichen Ordnung und tut ihr gegenüber somit ein Unrecht.

Nein, weil das Leben ein Geschenk Gottes und seiner Macht unterworfen ist. Denn «Gott allein gehört das Urteil über Leben und Tod». Wer Gott dieses Urteil streitig macht, belei­digt ihn und begeht eine Sünde. Thomas greift hier eine Stelle aus dem 5. Buch Mose auf, wo es heißt: «Seht nun, dass ich es bin und dass es keinen Gott gibt neben mir. Ich töte, und ich mache lebendig; ich habe zerschlagen, ich werde auch heilen, und niemand kann aus meiner Hand erretten.»21

Dieses dritte Argument ist das bis heute schwerwiegendste und einflussreichste. Denn da die Selbsttötung eine Sünde gegen Gott ist, sind die damit verbundenen Höllenstrafen die schwersten. Thomas schreibt: «Die gegen Gott sündigen, werden nicht nur gestraft, weil sie von der ewigen Glückseligkeit ausgeschlossen werden, sondern auch durch die Erfahrung von etwas Schmerzlichem.»22 Er übernimmt somit die Drohung aus dem Neuen Testament: «Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist für den Teufel und seine Engel!»23

Das Verbot, sich selbst zu töten, ist nur dann aufgehoben, wenn Gott den geheimen Befehl dazu gibt. Was offenbar nur selten passiert. Bei der Tötung eines anderen Menschen gibt Thomas mehr Spielraum. Gefragt, ob jemand töten darf, wenn er sich selbst verteidigen muss, antwortet er mit Ja. Denn hier sei die Absicht – die Rettung des eigenen Lebens – entschei­dend und nicht, dass als Folge davon der Angreifer sein Leben verliere. Denn jeder Mensch sei, so Thomas, verpflichtet, für sein eigenes Leben mehr zu sorgen als für das eines anderen. Wird er also angegriffen, dann darf er auf Gewalt mit Gewalt reagieren, selbst wenn er den anderen dabei tötet. Entschei­dend ist, dass er den Tod des anderen nicht beabsichtigt, sondern nur in Kauf nimmt.

Das klingt spitzfindig, spielt jedoch unter der Bezeichnung «Doppelwirkung» – eine Absicht, zwei Wirkungen – bei der Rechtfertigung moralischer Entscheidungen um Leben und Tod noch immer eine wichtige Rolle: Der Mediziner darf eine Sedierung mit der Absicht verabreichen, Schmerzen zu lindern. Wenn diese außerdem den Tod beschleunigt, dann wird dies moralisch nicht beanstandet, denn auch wenn diese zusätzliche Wirkung vorhersehbar ist, so liegt sie nicht in der Absicht. In der Schweizer Rechtsprechung wird es so ausge­drückt, dass der Tod nicht vorsätzlich herbeigeführt wird.

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