Populismus, Hegemonie, Globalisierung

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Schließlich sind da die unmittelbareren sozialen Auswirkungen der wirtschaftlichen Veränderungen:

Die Jahre zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg veränderten Großbritannien schneller und tiefgreifender als jede andere vergleichbare Ära. Die britische Gesellschaft wurde städtischer und vorstädtischer, säkularisierter, demokratisierter; allgemeine Annahmen über gesellschaftliche Beziehungen und politisch legitimes Verhalten verschoben sich von ihrer Basis in vertikalen und hierarchischen lokalen Gruppierungen zu stratifizierten Klassen; mit einem Wort, die Gesellschaft wurde ›modern‹. (Shannon 1974: 11)

In Richard Shannons Idee, dass eine gesellschaftliche Formation durch eine Krise modernisiert werden kann, liegt etwas Neues und Herausforderndes. Er behauptet, dass Krisen formativ und produktiv ebenso wie destruktiv sein können. Während Großbritannien jedoch im Laufe der Krise des Imperialismus ›modernisiert‹ worden sein mag, so wurde es im Vergleich zu seinen internationalen Rivalen auch strukturell geschwächt – und dies auf Dauer. Großbritannien trat in ›die Krise‹ als führende Manufakturnation und ›Werkstatt der Welt‹ ein. Es ging aus dem ›Übergang‹ in den 1920ern und 1930ern als eins der schwächsten Glieder in der Kette imperialistischer Nationen hervor (und blieb dies, wie viele behaupten, bis in die 1970er und 1980er), mit einer formal ›modernen‹, aber schwerfälligen und nachlassenden Wirtschaft.

Wir müssen jedoch noch zeigen, wie diese unterschiedlichen Dimensionen der Krise miteinander in Verbindung gesetzt werden können und worin die tatsächlichen historischen Prozesse bestanden, die dazu beitrugen, den Staat zu transformieren. Im folgenden Abschnitt betrachten wir detaillierter neue Spannungen und gesellschaftliche Kräfte, die innerhalb der Gesellschaft – ›von unten‹ – entstanden, die die alten Repräsentationsbeziehungen in Frage stellten und eine bedeutende Verschiebung des Wesens des Staates auszulösen halfen.

Das Problem der Demokratie

Zwischen 1880 und 1920 wurde Großbritannien zur ›Massendemokratie‹. Das Rückgrat dieses Prozesses bildeten die sukzessiven umstrittenen Ausweitungen des Wahlrechts, die über diesen Zeitraum hinweg stattfanden. Dieser Prozess veränderte völlig die Repräsentationsbasis, auf der der Staat beruhte. Bis zu diesem Zeitraum

beanspruchten die Viktorianer nicht, dass ihr System demokratisch sei, ein Begriff, der einen Beigeschmack von kontinentaler Abstraktion hatte […], vielmehr schuf es zweckmäßige Regierungen, es garantierte ›Freiheit‹ und es war repräsentativ. Wen es direkt repräsentierte, waren jene, die aufgrund ihrer Unabhängigkeit, ihrer materiellen Beteiligung an der Gesellschaft, ihrer Erziehung und ihres politischen Wissens als dazu fähig betrachtet wurden, das parlamentarische Wahlrecht mit nützlichen Auswirkungen auf das politische Leben auszuüben. Es war unwahrscheinlich, dass Männer, die völlig vom täglichen Existenzkampf in Anspruch genommen waren, die Fähigkeit zu politischem Urteilsvermögen entwickeln würden (Pugh 1982: 3).

Was sich veränderte, war nicht einfach, dass die ›unteren Stände‹ und die Frauen das formale Wahlrecht erhielten – die Entstehung ›der Demokratie‹. Der Eintritt dieser neuen gesellschaftlichen Kräfte in die politische Nation veränderte die gesamte Dynamik des politischen Lebens – und somit den Staat. Die Mobilisierung, Organisation und Kontrolle der ›öffentlichen Meinung‹ wurde zum zentralen Faktor der Wahlpolitik in der Massendemokratie. Dadurch wurde die hochviktorianische Grundlage der politischen Beziehungen in der britischen Politik aufgebrochen.

Das ›Problem der Demokratie‹ hatte seine Wurzeln in der wirtschaftlichen und sozialen Dimension ›der Krise‹, die wir eben kurz skizziert haben. Wirtschaftshistoriker sprechen von dieser Zeit nicht mehr so, als habe sie den ›einheitlichen Charakter‹ einer ›Großen Depression‹. Doch selbst jene, die am aktivsten die Demontage dieses ›Mythos‹ betreiben, stimmen darin überein, dass »das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts für Großbritannien einen Wendepunkt darstellte, als sich in Übersee die Konkurrenz entwickelte und die Wachstumsrate sich deutlich verlangsamte« (Saul 1969: 54). Die Hauptmerkmale dieser Zeit waren fallende Preise und sinkende Gewinne. Arbeitslosigkeit wurde wieder eine dauernde Einrichtung – besonders in den 1880ern und 1890ern. Die Reallöhne wurden insgesamt langsam besser, obwohl sie nach 1900 stagnierten oder sanken. Gutachten und Ermittlungen enthüllten das Ausmaß der städtischen Armut, besonders unter Hilfskräften und Gelegenheitsarbeitern. Langsam und ungleichmäßig wurden neue technische Verfahren eingeführt, was zu einer neuerlichen internen Spaltung der Arbeiterschaft führte. Es kam zu einer erneuten Anstrengung, die Gewinne zu verteidigen, die teilweise die Ausbeutung der Arbeitskräfte und die Einführung neuer Arbeitsdisziplinarmaßnahmen intensivierte.

Die sozialen Auswirkungen all dieser Entwicklungen auf die einfachen Klassen waren komplex. Zunächst zeigte es den Abstand zwischen der Minderheit der qualifizierten, besser bezahlten Arbeiter – den ›Arbeiteraristokraten‹ – und der ungelernten, nicht organisierten und schlechter bezahlten Mehrheit auf und akzentuierte ihn. Die Ersteren, die durch den Reform Act von 1867 das Wahlrecht erhielten, blieben dem radikalen Flügel der liberalen Partei mehr oder weniger eng verbunden. Die Letzteren waren angelernt oder ungelernt, nicht von Gewerkschaften geschützt und den schweren Fluktuationen in den wirtschaftlichen Geschicken Großbritanniens ausgesetzt, zum Großteil die Leidtragenden von prekarisierter Arbeit und urbaner Armut. Charles Booth (1903) und Seebohm Rowntree (1901) schätzten in ihren Studien über London und York, dass am oberen Ende 15 Prozent der Arbeiterschaft in relativ bescheidenem Komfort, während am anderen Ende 40 Prozent in bitterer Armut lebten; zwei Drittel von ihnen – der Bodensatz – würden als Almosenempfänger enden. Es war ein Teil dieser zweiten Gruppe, der die Speerspitze der neuen Formen der industriellen Repräsentation und der begleitenden Arbeiterunruhen der 1880er bildete; und in diesem Humus schlug der wiederbelebte Sozialismus Wurzeln.

Später, als Mechanisierung und groß angelegte Produktion ungleichmäßig eingeführt waren und die Arbeit intensiver ausgebeutet wurde, begann die gesamte Grundlage der alten Handwerkergewerkschaften zu erodieren. Neue Sektoren begannen sich zu entwickeln. Auf lange Sicht verwischte sich die Linie zwischen qualifiziert und unqualifiziert, was eine homogenere und klassenbewusstere Klasse schuf. Die politischen Allianzen, die sich aus diesem größeren Klassenzusammenhalt entwickelten, standen an der Spitze der Kampagne für unabhängige politische Repräsentation im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, lösten die endgültige Trennung der Masse der Arbeiter vom Liberalismus aus und führten zur Formierung einer neuen politischen Kraft – der Labour Party. Dieser Prozess veränderte die Art, wie die Arbeiterklassen politisch und industriell repräsentiert wurden, radikal; er erneuerte das gesamte politische Gesicht der Nationen und veränderte dauerhaft das Gleichgewicht der politischen Kräfte.

Die Revolte der Arbeit

Die Verhältnisse der städtischen Armut wurden mit neuen Techniken wie investigativem Journalismus und Sozialwissenschaften erneut untersucht. Diese enthüllten das Ausmaß der ›tief verwurzelten und hartnäckigen Armut‹, in der der Bodensatz existierte. Booth (1903) machte sich daran zu beweisen, dass die Schätzung von Hyndman, dem marxistischen Führer der Social Democratic Federation, dass 25 Prozent der Lohnempfänger unterhalb des Existenzminimums lebten, eine wilde Übertreibung sei. Stattdessen entdeckte er, dass Hyndmans Schätzung untertrieben war (Shannon 1974: 120). In einer Serie von Studien, die die Frage nach dem ›Zustand Englands‹ erforschten, untersuchten diverse Royal Commissions im Auftrag des Staates die sozialen Zustände: die Royal Commissions on the Housing of the Working Classes (1885, Unterkunft), on Labour (1891–94, Arbeit), on the Aged Poor (1895, Altersarmut), das Interdepartmental Committee on Physical Deterioration (1904, körperlicher Verfall) und die Revision des Poor Law (der Armengesetze, deren berühmter, von Sidney und Beatrice Webb verfasster Minderheitenbericht ein Gründungsdokument des modernen Wohlfahrtsstaates wurde), um nur einige der bedeutenderen zu nennen. Die chronische Arbeitslosigkeit verschärfte all diese Probleme.

Aber just als die unteren Stände das Objekt von Studien, Enqueten und des liberalen Gewissens wurden, nahmen sie die Dinge in die eigenen Hände und gingen einen unabhängigen Weg. Die neuen unqualifizierten Arbeiter begannen ihre eigenen, allgemeineren Industriegewerkschaften zu bilden: die National Labour Federation 1886, die Dockers’ Union 1887, die Miners’ Federation 1888, und die Gas Workers’ Union 1889. An der Spitze dieser Bewegung stand eine neue, militantere Führung, für die Tom Mann, Will Thorne, Ben Tillett und John Burns typisch waren. Sie lehnten die alte Garde des TUC ab und waren stark von sozialistischen Sekten wie der Socialist League und der Social Democratic Federation beeinflusst, deren Argumente schließlich in einige Teile der industriellen Arbeiterklasse einzudringen begannen. Dieser ›neue Unionismus‹ der Gewerkschaften stand bald mitten in einer breiten, klassenbasierten Agitation um Anerkennung und den Achtstundentag, den die Londoner Gasarbeiter erstritten. Die Streichholzmädchen bei Bryant and May, angefeuert von der Sozialistin Annie Besant, streikten 1887 ebenfalls erfolgreich für bessere Arbeitsbedingungen. Die Dockarbeiter, deren Mitglieder von der Geißel der Gelegenheitsarbeit stark betroffen waren, errangen im historischen Dockarbeiterstreik von 1889 einen bemerkenswerten Sieg für die neuen Formen der industriellen Repräsentation. Das Klima war rebellisch, als die Polizei den Trafalgar Square am ›Bloody Sunday‹ im November 1887 mit Gewalt räumte. 1890 war das Londoner East End bereits »ein wichtiges Zentrum der sozialistischen Kooperation und Agitation« (Adelman 1972). Die neue Gewerkschaftsbewegung hatte aber in den 1890ern einen leichten Rückgang zu verzeichnen. Es gab ständige Auseinandersetzungen zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Gewerkschaftern, Sozialisten und nicht-sozialistischen Elementen im TUC. Zusätzlich begann sich mit dem Einsetzen der Depression nach 1891, nach einem scharfen Gegenangriff der Arbeitgeberorganisationen und aufgrund einer Serie negativer Gerichtsurteile die Grenze zwischen ›altem‹ und ›neuem‹ Unionismus zu verwischen. Mehrere mächtige gewerkschaftsfeindliche Arbeitgebervereinigungen wurden gebildet, sozialismusfeindliche Organisationen wie die Liberty and Property Defence League und die Anti-Socialist Union wurden errichtet, und nicht organisierte freie ›Gewerkschaften‹ wurden gegründet. Aussperrungen (in der Kohle- und Baumwollindustrie nach Lohnkürzungen 1893, im Maschinenbau 1897–98) gehörten zur Tagesordnung.

 

Auf diese Offensive folgte über den Staat der Angriff auf die gewerkschaftliche Immunität und den Einsatz von Streiks als Kampfmittel. Die gewerkschaftliche Immunität vor gerichtlichen Schritten während eines Tarifkonflikts, die in den 1870ern gesetzlich festgelegt worden war, wurde durch eine Reihe von Gerichtsurteilen ausgehöhlt, die Streiks als ›böswillig‹ konstruierten. Die erfolgreiche Schadenersatzklage gegen die Eisenbahnergewerkschaft, die die Taff Vale Railway Company 1901 führte, bestätigte die Angreifbarkeit der Gewerkschaften. Tatsächlich setzte diese Auseinandersetzung einen raschen Anstieg der Gewerkschaftsmitgliedschaften in Gang und beschleunigte die Dynamik in Richtung einer unabhängigeren politischen Vertretung. Als Teil ihrer Bemühungen, ihre Führung in diesem Block zu erhalten, hoben die Liberalen das Urteil zu Taff Vale schließlich im Trade Disputes Act 1906 auf. 1908 versuchten die Arbeitgeber jedoch eine andere Methode, den Weg der Arbeiter zu blockieren. Ein Mr. Osborne klagte mit starker Unterstützung der Arbeitgeber gegen die Eisenbahnergewerkschaft für sein Recht, den Anteil seines Gewerkschaftsbeitrags einzubehalten, der in den Fonds für politische Ziele floss. Er war erfolgreich – im heute berühmten ›Osborne-Urteil‹. Diese juristischen Auseinandersetzungen um die Rechte der Gewerkschaften wiesen auf den tiefsitzenden Widerstand gegen demokratischere Formen der industriellen Repräsentation und den Transfer legitimer industrieller Macht an eben die Klassen hin, die in den Wahlrechtsreformen von 1867 und 1884 das Wahlrecht erhalten hatten.

Die unbeabsichtigte Konsequenz dieses Klassenkampfes bestand darin, in ihrem Denken und ihren Zielen »jene enge Verknüpfung zwischen Gewerkschaftsbewegung und sozialistischer Bewegung« zu schaffen, wie Tillett es ausgedrückt hat, »die mit der Zeit die Labour Party hervorgebracht hat« (zit. n. Adelman 1972: 16). Die Independent Labour Party (ILP) wurde 1893 gegründet, und 1900 wurde das Labour Representation Committee (LRC) gebildet, in dem die ILP die führende Gruppe war. Der TUC stimmte dafür, sich anzuschließen – eine Entscheidung, die »eine echte Veränderung in der Haltung der Gewerkschaften gegenüber politischer Aktion verriet« (Pelling 1965: 206). Ein geheimes Wahlabkommen wurde zwischen den Liberalen und Ramsey MacDonald für das LRC geschlossen – woraufhin sich die Social Democratic Federation, angewidert über diesen Beweis des ›Ausverkaufs‹ an die Liberalen, zurückzog. (Die ILP trat schließlich in den 1930ern aus.) Das LRC zog also 1906 mit einem im Wesentlichen liberalen Programm in die Wahl (darunter etwa die Bestätigung des Bekenntnisses zum ›Freihandel‹), außer in Bezug auf Fragen der Gewerkschaftsgesetze und einem eher vagen, aber entschiedenen Bekenntnis zu größeren Sozialreformen. Dennoch wurden auf der Welle des liberalen Erdrutschsieges 29 LRC-Kandidaten gewählt. Und als sie sich entschlossen, im Unterhaus separat zu sitzen, hatte sich effektiv eine neue, unabhängige, parlamentarische Arbeiterpartei gebildet.

Arbeiterschaft und liberaler Reformismus

Häufig wird behauptet, es seien die Drohung von Arbeitsunruhen, Konfrontationen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern und die stetige Entwicklung in Richtung einer politischen Selbständigkeit der Arbeiterschaft gewesen – allsamt eine Herausforderung für die liberale Hegemonie –, die den Reformeifer der liberalen Regierung von 1906 ausgelöst und zu den Gesetzen über Arbeitsunfallversicherungen, zum Abbau von ›ausbeuterischer Arbeit‹, zu Schulessen, medizinischer Untersuchung von Schulkindern, Pensions- und nationalen Versicherungssystemen geführt hätten – ein Programm, das oft als ›Ursprung des modernen Wohlfahrtsstaats‹ gefeiert wird.

Waren dies also die ersten Früchte eines erfolgreichen, allgemeinen Kampfes der Arbeiterklasse darum, die Grundlagen und Formen der gesellschaftlichen Repräsentation zu verändern und so die demokratische Basis des Staates auszuweiten und zu vertiefen? Führte die massive Agitation der 1880er und 1890er zu dem radikalen reformistischen und demokratischen Programm der neuen liberalen Regierung und leitete damit die ersten Schritte ein, die den Staat letztlich in Richtung eines Wohlfahrtsstaates transformierten? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir nicht nur etwas darüber wissen, wer repräsentiert wurde, sondern auch über diejenigen, die für das Repräsentieren sorgten.

Zu dieser Zeit war David Lloyd George die führende Figur des radikalen Flügels der liberalen Partei – und bekannte sich weiterhin zu Freihandel, Antiimperialismus, einem sozialen Reformprogramm und den Verbindungen zwischen Liberalismus und der Gewerkschaftsbewegung der Arbeiterklasse. Die radikalen Liberalen waren empört über den Burenkrieg, sehr misstrauisch gegenüber den Gestalten, die sich in seinen letzten Tagen im Liberalismus herumtrieben, ohne im Geiste ›Liberale‹ zu sein (wie Joseph Chamberlain), zutiefst angewidert vom Wiederaufleben eines ›imperialistischen Hurrapatriotismus‹ im Inland und davon, was sie als seinen korrumpierenden Einfluss betrachteten. Sie wollten die alte liberale Verbindung mit dem Reformismus der Arbeiterklasse beibehalten und waren von den Studien über Armut und Arbeitslosigkeit beeindruckt. John A. Hobson gehörte zu dieser Gruppe der ›neuen Liberalen‹, die versuchten, einen moderneren, ethischeren Reformismus zu entwickeln (vgl. Clarke 1978).

Die neuen Liberalen wussten, dass das alte Rezept von Selbsthilfe und Laissez-faire wegen Großbritanniens wirtschaftlichem Niedergang am Ende war. Sie sympathisierten aufrichtig mit der Sache der Arbeitsreformen. Gleichzeitig verweigerten sie die Klassenimplikationen der Arbeiterpolitik und die radikale Stoßrichtung des Arbeitersozialismus. Sie wollten die Reform in etwas einordnen, was der gesamten Gesellschaft nutzen würde: die Klassenpolitik ersetzen durch die Vision einer wachsenden gesellschaftlichen Harmonie zwischen den unterschiedlichen Interessen, im Rahmen eines allgemeinen Programms zur Förderung des Allgemeinwohls. Sie glaubten, dass der Staat das Allgemeinwohl wirklich vertreten könne und solle, indem er die sozialen Bürgerrechte ausweitet und allen Klassen einen echten Anteil an der Gesellschaft gewährt; und insbesondere seiner ethischen Verantwortung nachkommt, diejenigen zu unterstützen, die im unregulierten Wettbewerb nicht überleben könnten, und Beihilfen an sie zu verteilen.

Die neuen Liberalen halfen so, eine neue politische Formation zu errichten, die die neuen Kräfte repräsentieren konnte. Sie halfen, eine ideologische Verschmelzung zwischen dem alten Liberalismus und der neuen Sozialdemokratie zu schaffen. Diese erwies sich als außerordentlich wichtige politische Formation, die – in einer Reihe unterschiedlicher Ausformungen – seither in Großbritannien reformistische politische Programme getragen hat. Sie war eine einflussreiche Kraft in der Labour Party, in der neubelebten Liberal Party nach dem Zweiten Weltkrieg und zuletzt in der Allianz zwischen SDP und Liberalen. In den 1930ern wurde sie mit einer keynesianischen Wirtschaftspolitik identifiziert. Noch wichtiger, sie steht für die Ideen, die effektiv dazu beitrugen, die große Welle staatlicher Intervention und Sozialreform zu untermauern, die nach 1945 zum Wohlfahrtsstaat führte. Wie genau man diese neue ideologische Formation nennen solle, beschäftigte die neuen Liberalen sehr stark. Hobson definierte sie 1908 als ›Sozialismus‹; später änderte er ihren Namen in ›der neue Liberalismus‹. Das ihr nächste moderne Äquivalent ist ›Sozialdemokratie‹.

Das Reformprogramm der neuen Liberalen und der liberalen Regierung von 1906–1911 wurde jedoch von zutiefst widersprüchlichen Impulsen getragen. Dangerfield fragte einmal: »Was war die Reform denn anderes als der geschickte Ausgleich von Unvereinbarem, der raffinierte Ausdruck dieser Mittelschichtsphilosophie, die daran glaubt, gleichzeitig den Angriffen der Reichen und den Ansprüchen der Armen standhalten zu können?« (Dangerfield 1961: 226). Zu diesen widersprüchlichen Impulsen gehörten:

1.der Druck, den die Entstehung von unabhängigeren und militanteren ›Arbeiterinteressen‹ ausübte;

2.die Forderungen nach größerer ›nationaler Effizienz‹ und wirtschaftlicher Regeneration;

3.der Wunsch, die Allianz zwischen Liberalen und Arbeitern und darin die Hegemonie des Liberalismus über den Sozialismus zu erhalten;

4.der moralische Imperativ, die Not der ärmeren Klassen zu lindern;

5.der Druck, ältere liberale Staatskonzepte durch eine neue Staatsphilosophie zu ersetzen, die um die Begriffe des Allgemeinwohls und der allgemeinen Bürgerrechte organisiert war.

Dies war ein schwieriger Komplex von Imperativen, und sie führten, so wie sie sich in den folgenden Jahren unseres Zeitraums entwickelten, zu höchst widersprüchlichen und unerwarteten Ergebnissen.

Die Erziehung von Labour

Die Haltung der Arbeiter alldem gegenüber war selbst widersprüchlich. Zunächst waren viele der neuen Führer der Labour Party in der und durch die Lib-Lab-Allianz geprägt. So blieb der Einfluss des Liberalismus erhalten, selbst als das Bekenntnis zu einer formellen Allianz nachließ. Zweitens spiegelte das unklare Verhältnis zum Liberalismus die Gemengelage innerhalb von Labour wider. Die Labour Party war damals schließlich selbst eine Koalition, die sowohl engagierte Sozialisten und pragmatischere Reformisten und Gewerkschafter umfasste. Drittens bekannte sich die neue Labour Party zu erweiterten Sozialreformen und besseren sozialen Bedingungen. Aber sie hatte kein detailliertes Sozialprogramm ausgearbeitet. Außerdem waren die Einstellungen gegenüber einer staatsorientierten oder ›kollektivistischen‹ staatlichen Versorgung in der Arbeiterklasse gemischt. Manche waren dem Staat gegenüber – zu Recht – misstrauisch und verorteten ihn grundsätzlich ›auf der anderen Seite‹. Sie fürchteten, dass vom Staat betriebene Sozialleistungen dem Staat schlicht einen Vorwand bieten würden, sich in das Leben normaler arbeitender Menschen einzumischen und es zu bestimmen oder zu kontrollieren (vgl. Hinweise auf einige Sympathie für Hilaire Bellocs [1912] ziemlich reaktionäres staatsfeindliches Traktat The Servile State innerhalb der Labour-Bewegung).

Im Allgemeinen jedoch war das Argument für vermehrte staatliche Intervention zur Förderung von Reformen innerhalb der Arbeiterbewegung weithin akzeptiert und wurde intellektuell von den Fabiern angeführt. Im Parlament bemühte sich Labour, den demokratischen Inhalt vieler liberaler Wohlfahrtsmaßnahmen zu vertiefen, verlor aber nach 1908 die Initiative. Die Liberalen konnten gegen die Arbeitslosigkeit oder die allmählich sinkenden Löhne und Lebensstandards wenig ausrichten. Während die Labourpartei dem neuen Krankenversicherungs- und Pensionssystem – der kollektivistischen Antwort der Liberalen auf die Arbeitslosigkeit – aufrichtig misstrauisch gegenüberstand, sah sie sich außerstande, sich offen dagegen zu stellen. Kurz, der Reformimpetus ging eindeutig an die Liberalen, die von Lloyd George und Winston Churchill brillant geführt wurden. Selbst für Beatrice Webb war es eine »schlichte Tatsache«, dass sie »die Labour Party ausgestochen hatten« (Adelman 1972: 41).

Vor dem Hintergrund des Entgegenkommens der Labourpartei setzte in den neu gebildeten Rängen von Labour selbst Ernüchterung und Empörung ein. 1911 spaltete sich die British Socialist Party, die Vorläuferin der British Communist Party, von Labour ab. Was den Staat und die Kräfte, die die politische Macht innehatten, viel mehr bedrohte, war der Beginn der am längsten anhaltenden Periode von Arbeitsunruhen, die das Land seit den frühen Jahren des vorhergehenden Jahrhunderts erlebt hatte. Eine neue und andere Art von Sozialismus hatte sich einiger der führenden Elemente in der Arbeiterrevolte bemächtigt. Der Syndikalismus (Holton 1976) wurzelte im industriellen Unionismus und im eigenständigen Handeln der Arbeiterklasse. Sein Schwerpunkt lag auf direkter Aktion, spontanen Massenaufständen, die zum Umsturz des Staates in einem Generalstreik führen sollten. Er hatte seine Basis direkt im Kampf um die Kontrolle in Fabriken oder Werkstätten, in der Bewegung der unabhängigen Vertrauensleute (shop stewards) und in der Politik des Klassenkampfes (Hinton 1973). Seine Betonung des eigenständigen Handelns der Arbeiterklasse bedeutete, dass sie der Kontrolle und Einflusssphäre der gemäßigteren Gewerkschaftsführer entglitt, mit denen Leute wie die Webbs und Lloyd George zu verhandeln bestrebt waren. Der Syndikalismus war in die Ränge der Gewerkschaften der Transportarbeiter, Dockarbeiter und Eisenbahner, bei den Maschinenbauern am Clyde und den Minenarbeitern von Südwales eingedrungen und bildete 1914, kurz vor dem Krieg, die Speerspitze bei der Bildung der Triple Alliance (Transport-, Bergbau- und Eisenbahnergewerkschaften). Der erste Ausbruch ereignete sich bei den Dockarbeitern und Seeleuten 1909, stark unter dem Einfluss von Mann und Tillett, die den Syndikalismus begeistert aufgenommen hatten. 1911 breitete er sich auf die Eisenbahnen aus, und es drohte ein Generalstreik. 1912 gab es im ganzen Land schwere Arbeitsunruhen. Ein Generalstreik schien unmittelbar bevorzustehen. Hinzu kam das Gespenst der Bündelung der Kräfte mit der neu gegründeten Transport Workers’ Union, die Jim Larkin in Dublin aufgebaut hatte – wodurch die Verknüpfung der Arbeitsunruhen mit der Irischen Frage drohte.

 

Zusätzlich kam seit 1908 die Bewegung für das Frauenwahlrecht rasch in Schwung. Wütend über die endlosen Verzögerungen, Aufschübe und Ausflüchte der Liberalen und ihres Führers Herbert H. Asquith übertrugen einige der aktivistischen Suffragetten ihre Gefolgschaft auf Labour (wo viele, mit wenigen ehrenhaften Ausnahmen, davon eher peinlich berührt waren). Die Mehrheit aber wandte sich unter Führung von Emmeline und Sylvia Pankhurst und der neuen Women’s Social and Political Union der heftigsten Kampagne direkter Aktion zu. Sie brannten Kirchen nieder, zerstörten Briefkästen, beschmierten Gemälde, ketteten sich an Geländer, verweigerten im Gefängnis die Zwangsernährung und warfen sich nach ihrer Entlassung sofort wieder ins Getümmel eines offenen Kleinkriegs mit Polizei und Staat. Die Fortschritte der Arbeiter waren in engem Zusammenhang mit dem Kampf um die Ausweitung des Wahlrechts erfolgt; nun waren die Frauen, die in der Gesellschaft vermehrt vorangekommen waren und bezüglich ihres Platzes darin eine weitgehend unabhängige Haltung einnahmen, entschlossen, auch gleiche politische Rechte zu haben – eine Forderung, die ein Staat, der kaum beanspruchen konnte, ›allgemein repräsentativ‹ zu sein, solange die Hälfte der Bevölkerung kein Wahlrecht hatte, schwerlich ablehnen konnte.

Am Vorabend des Krieges 1914–18 befand sich das Land also im Aufruhr: Die Ansprüche der Unrepräsentierten, ›der Demokratie‹, und die radikalen Formen, in denen sie vorgebracht wurden, hatten die populär-demokratische Herausforderung extrem vergrößert. Wie reagierte der Staat? Wurde er vor allem durch populären demokratischen Druck von unten verändert?

Die wichtigste Figur, die die strategische Antwort des Staates auf diese populäre Agitation orchestrierte, war Lloyd George. Er beschwor eine Reihe von radikal-populistischen Anlässen herauf – die Landreform, einen Angriff auf das Oberhaus und die Versicherungs- und Gesundheitspläne. Wichtig war auch die Arbeit, die er und Churchill geleistet hatten, um die Staatsmaschinerie dafür einzurichten, mit der wachsenden Herausforderung der Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen zurande zu kommen. Das Labour Department im Handelsministerium wurde in dieser Zeit eine außerordentlich wichtige strategische Abteilung unter der fähigen Führung von Llewellyn-Smith, der einem neuen Typus von Staatsbeamten entsprach. Mit der Entwicklung der ›Arbeiterfrage‹ expandierte die Abteilung in Größe, Rolle und Funktionen. Als die Serie von Gesetzen über Sozialreformen und Sozialleistungen vorgelegt wurde, bekam das Handelsministerium die Verantwortung für ihre Implementierung und Regulierung. Durch diese Abteilung wurde der Plan implementiert, Arbeitsvermittlungen einzuführen. Ebenfalls bedeutsam waren die Einführung von Schlichtungsausschüssen und die Berufung von George Asquith als offiziellem Schiedsrichter. Dieser Prozess von Zusammenarbeit und Schlichtung, der von einem wachsenden Ministerium betreut wurde und sich auf das ›neutrale‹ Territorium der Staatsverwaltung stützte, entwickelte sich neben den Arbeitsunruhen und syndikalistischen Revolten. Bis 1913 waren 325 derartige Schlichtungsausschüsse eingerichtet worden (Halèvy 1926: 477). Der Staat übernahm zunehmend die Rolle des ›Unterhändlers und Schlichters‹ und war als Schiedsrichter bei der Suche nach einer ›nationalen Lösung‹ aktiv. Und diese Arbeit erforderte eine größere Staatsmaschinerie. Élie Halèvy bemerkte: »England wurde bürokratisch« (262). Später fügte er hinzu: »Wir müssen zu dem paradoxen Schluss gelangen, dass während ebender Jahre, in denen der revolutionäre Syndikalismus so lautstark auftrat, die Kooperation zwischen den Gewerkschaften und der Regierung enger wurde als je zuvor.« (479)

Eine parallele Strategie war die Suche nach einer nationalen politischen Lösung. Diese Strategie bestand darin, die Herausforderung zu übertreiben, einzukapseln und zu kontrollieren, indem die Politik ›über die Politik hinaus‹ auf ein nationales Niveau gehoben wurde. Auch das konnte nur auf dem Territorium des Staates verfolgt werden. Lloyd George bot den Konservativen sogar mehrmals – ohne das Wissen seiner liberalen Kollegen – einen Handel und die Bildung einer nationalen Koalitionsregierung an (und zusätzlich, seinen Parteichef Asquith zu opfern). Er berief dazu eine Verfassungskonferenz ein, um die Pattstellung wegen des Budgets zu umgehen. Er veröffentlichte ein mehrdeutiges Memorandum, um für die National Insurance parteienübergreifende Unterstützung zu gewinnen; ›gemeinsame Aktion‹ in der Sache der ›nationalen Neuorganisation‹ – ein ›nationales Programm‹ gegen die ›extremen Parteigänger der politischen Splittergruppen innerhalb der Parteien; eine ›größere Lösung‹, um den Gefahren der Zeit entgegenzutreten. »In diesen Zeiten steht das Parteiensystem den höchsten nationalen Interessen ernsthaft im Wege«, sagte Lloyd George nach dem Scheitern seiner Initiative (Scally 1975: 210; vgl. Lloyd George 1933: 23). Der Angriff auf das Parteiensystem war ernsthaft eröffnet – und von einer Basis innerhalb des Staates aus.

1912 unternahm er noch einen dritten Versuch einer ›großen Koalition‹: diesmal angesichts der drohenden Gefahr eines Ausscherens nach rechts in den Rängen der Irischen Unionisten in der Frage der Home Rule für Irland, und am Vorabend des Krieges wiederum schlug er eine weitere Koalition der Gemäßigten vor, »um eine nationale Lösung für einige der großen Probleme unserer Zeit zu erreichen«. Zu diesem Zeitpunkt trainierten unionistische Ulstermen und abwesende Oberhaus-Tories bereits heimlich; die Armee in Curragh weigerte sich, nach Norden zu marschieren, um Ulster daran zu hindern, sich unabhängig zu machen, und ranghohe konservative Abgeordnete erwogen ernsthaft einen Aufstand Ulsters gegen Westminster. Die ›bonapartistische‹ Stoßrichtung von Lloyd Georges Laufbahn zu dieser Zeit ist deutlich erkennbar – die Suche nach einer nationalen Lösung durch Eindämmung (containment). (›Bonapartistisch‹ nach dem Modell Napoleon Bonapartes, in einer krisenhaften Pattsituation als starker Mann aufzutreten, der sich anbietet, im ›nationalen Interesse‹ Ordnung zu schaffen.) Seine Ambitionen realisierten sich zu diesem Zeitpunkt nicht. Aber wie wir sehen werden, gab der Krieg ihm seine Chance; und 1916 gab er Asquith den Laufpass und übernahm die Führung der Kriegskoalitionsregierung. Und als der Krieg vorbei war, erhielt er sich seine politische Basis durch eine neue Koalition, machte seinen Frieden mit den Konservativen, ließ die liberale Sache im Stich und übernahm – von einer Basis weit innerhalb des Nationalstaats aus – die Lenkung des Prozesses, durch den die Arbeiter und die Frauen endlich die Erlaubnis erhielten, Teil ›der Nation‹ zu werden.

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