Populismus, Hegemonie, Globalisierung

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Staatsgewalt ist nicht einfach ›erzwingend‹ als eine ihrer wesentlichen Ausführungsweisen. Das Recht, Gehorsam zu erzwingen, hat keinen Sinn ohne die Fähigkeit, es zu tun. Staatsgewalt ist zuerst eine Frage der Fähigkeit, erst dann eine Frage des Rechts. General Pinochet hatte vielleicht kein ›Recht‹ dazu, Salvador Allende im Jahr 1973 zu entmachten, aber er hatte die ›Fähigkeit‹, die Macht zu ergreifen und den Staat zu stürzen. Selbst dort, wo der Staat als Vertrag gefasst ist, wo freie Individuen ihm freiwillig angehören, hat das Volk nicht die Freiheit, beliebig wechselnd zu entscheiden, staatstreu oder landesverräterisch zu sein oder nicht. Auch der konsensorientierteste Staat erhält sich ein Fundament durchsetzungsfähiger Gewalt.

Das ist der Grund, folgt man Friedrich Engels, warum viele Staatstheoretiker so oft von der ›Instanz bewaffneter Männer‹ sprechen – eine spezialisierte Polizei als ›Vollstrecker‹ der Ordnung, getrennt vom Rest der Bevölkerung. Dies unterstreicht auch Webers berühmte Ausführung, dass der Staat »[erfolgreich] das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt« (ebd.). Beachte ›Monopol‹! Es ist maßgeblich, dass der Staat, wenn er souverän ist – die höchste Autorität –, innerhalb seines Rechtssystems keine andere Macht mit physischem Gewaltvermögen tolerieren kann, die mächtiger ist als der Staat selbst und faktisch nicht seiner Gerichtsbarkeit oder seiner Kontrolle unterliegt. Rebellion ist die Zurückweisung des Staates. Deshalb reagieren moderne Staaten so empfindlich auf den Grenzbereich zwischen ›gewaltfreiem‹ und ›gewalttätigem‹ Protest oder zwischen legitimer und illegitimer Gewalt. Daraus folgt: Wenn der Staat den popularen Protest einzuhegen wünscht, ist es taktisch günstig, die Opposition als ›gewalttätig‹ darzustellen, gleich ob es wahr ist oder nicht.

Dies legt nahe, dass die Schlüsselfrage nicht einfach die nach der Gewalt oder der Macht des Staates ist, sondern es ist die Frage nach der Legitimität. Gewiss ist der Staat physisch in der Lage, viele Dinge zu tun, einschließlich Foltern von Gefangenen, Verschwindenlassen lästiger Bürger oder Auslöschen ganzer ethnischer Gruppen. Aber was Weber im Sinn hatte, war nicht, was der Staat vernichten kann, sondern was in der Gesellschaft hinsichtlich des Staatshandelns als rechtens und angemessen angesehen wird, z. B. legitime Gewalt.

Die Frage nach der Legitimität umfasst das ganze Spektrum, das man sanktionierte Vorherrschaft nennen könnte – wobei physische Gewalt nur ein extremer, spezieller Fall ist. Wenn der Staat reguliert, leitet, Gesetze verabschiedet und ›legitim‹ erzwingt, dann, weil er Anspruch auf die Autorität erheben kann, es zu tun. Autorität ist Macht, zu deren Ausübung der Staat befugt oder ›autorisiert‹ ist.

Die Legitimität der Staatsmacht, in modernen Gesellschaften zu herrschen, kann sich aus jeder der folgenden Weisen ergeben:

1.Der Staat kann sich auf die seit langem bestehende, übliche und traditionelle Weise berufen, mittels der der Staat faktisch in der Vergangenheit geherrscht hat. Was Weber »die Autorität des ewig Gestrigen« nennt, ist einen sehr weiten Weg zur Schaffung einer rechtsstaatlichen Legitimität gegangen.

2.In Zeiten extremer Gefahren oder Erschwernisse für den Staat können Personen, Gruppen oder gesellschaftliche Kräfte mit herausragenden oder charismatischen Fähigkeiten die Legitimität erlangen, besondere Macht im Staat auszuüben: Diktatoren, Militärführer, Anführer von popularen Bewegungen, die dafür das vorherige Regime, die Präsidenten in Kriegszeiten etc. stürzen.

3.Staatsgewalt wird legal erworben. Dies ist die vorherrschende Weise der Legitimität in modernen liberalen Demokratien. Die Macht wird formell festgelegt und beansprucht, wird in einem formalen, korrekten öffentlichen Verfahren eingesetzt, nimmt Gestalt an durch das Recht, durch Regulierungsvorschriften, durch die Verfassung oder verschiedene ›Gründungsdokumente‹. Das Recht ist ein abstraktes System von Regeln: für alle eingeführt und gültig, universell anwendbar, nicht nur für den Einzelfall. Daraus folgt: Wenn Macht legal erworben wurde, trägt sie den Stempel der Legitimität. Legalität und Legitimität sind in modernen Rechtsstaaten eng miteinander verknüpft. Die Tatsache, dass die Macht, die legal bestimmt wird, durch denselben Prozess widerrufen werden kann, legt nahe, dass sie nicht absolut ist und ewig währt, sondern vorbehaltlich, veränderlich bleibt – und somit ein Prüfstein für den willkürlichen Gebrauch der Staatsgewalt ist. Legalität garantiert weder, dass der Staat solche Macht innehaben sollte, noch dass er sie ordnungsgemäß nutzt.

4.In modernen, liberal-demokratischen Staaten umfasst Legitimität die Formen, durch die die Bürger repräsentiert werden oder durch die sie in formalen Wahlverfahren zustimmen, dass der Staat Macht ausüben soll. Dies bedeutet, dass jeder Staat, der erfolgreich den Anspruch monopolisiert, dass er »dem Volk gibt, was es wünscht«, gut aufgestellt ist, um seinen eigenen Mächten und Politiken Legitimität zu verleihen.

Die Frage nach der Souveränität

Die Auffassung vom modernen Staat ist eng verkpnüft mit der Vorstellung von Souveränität. Souveränität bedeutet, dass der Staat die höchste Autorität ist und daher weder einer ausländischen Macht noch einer rivalisierenden Macht im Inland unterworfen ist. In Russland gab es zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution im Jahr 1917 nicht ein, sondern zwei miteinander konkurrierende Machtzentren: die Kerenski-Regierung und die rivalisierenden ›Sowjets‹ der Arbeiter, Soldaten und Bauern. Dies war eine Situation der ›dualen Macht‹: die Stabilität des Staates war deswegen eindeutig ›provisorisch‹. Der Staat »kann innerhalb seines eigenen Territoriums keine Rivalen als gesetzgebende Macht und als Objekt der Gefolgschaftstreue haben« (Skinner 1978: 351).

Andere Machtzentren innerhalb des Staates müssen ihm untergeordnet werden; oder der Staat delegiert Macht an sie, z. B. bestimmte Machtbefugnisse an lokale Autoritäten; der Staat ermächtigt andere gesellschaftliche Kräfte oder – bei einem Mangel an Gesetzgebung – er ›bewilligt‹ ihnen die entsprechende Aufgabe und Funktion.

Der Staat ist kein alleiniges Machtzentrum; er hat viele Zentren der Autorität. Aber es muss eine stringente bzw. hierarchische Machtordnung bestehen. Richter verfügen über sehr umfangreiche Machtbefugnisse in ihren Gerichten; aber sie müssen den Präzendenzfällen, die ihre Gerichte beschließen, und auch bei ihren Gerichten eingelegten Berufungen folgen, weil die Gerichte in der rechtlichen Hierarchie über ihnen stehen – in einer geschlossenen Machtkette bis hin zum Britischen Oberhaus als rechtsprechende Berufungskommission. In diesem Sinne ist die Vorstellung vom modernen Staat zentralistisch.

Souveränität ist ebenso in komplexer Weise an das ›Territorium‹ gekoppelt. Es hat sich als unmöglich erwiesen, den Begriff ›Staat‹ im Verhältnis zu einer Bevölkerung ohne dauerhaftes Siedlungsgebiet zu gebrauchen. Die Bindung zum Land bleibt ein machtvolles Element im Komplex der Haltungen und Gefühle, die für Souveränität mobilisiert werden. Daher winden sich Nationalismus und Nation eng um die Wurzeln des modernen Staates. Z. B. argumentierte Enoch Powell während des Kriegs um die Falkland-Inseln im Jahr 1982, dass die britische Souveränität an diesem menschenfeindlichen Fleck Erde an sich hafte, selbst wenn kein einziger Siedler mehr auf den Inseln verbleibe. Der Staat muss der »alleinige Träger des Imperiums (der Herrschaft) innerhalb seiner eigenen Territorien sein« (352).

Wie das baskische Volk eine leidenschaftliche Loyalität für ein von Spanien getrenntes Territorium zeigt, verteidigt die Mehrheit der nordirischen Katholiken ihre Loyalität für eine geeinte irische Republik; aber in keinem dieser Fälle ist das ›Territorium‹ ihr Staat. ›Territorium‹ und ›Staat‹ sind daher nicht dasselbe. Dennoch hat das Territorium Bedeutung für die Definition von Souveränität, zum Teil im Sinne der ›Zugehörigkeit‹ (Loyalitätsempfindungen) als einem wichtigen Bestandtteil für die Mitgliedschaft in einem Staat; aber hauptsächlich aufgrund der Notwendigkeit, die Grenzen der Macht und Rechtszuständigkeit festzulegen. Es muss einen Weg geben, zu bestimmen, welche Teile im Staat vereint werden, wie weit seine räumliche Herrschaft reicht, wo die Grenzen seiner Herrschaft verlaufen und wo die Zuständigkeit eines anderen Staates beginnt. Dies wird als ›territorial‹ bezeichnet – selbst wenn, wie im Fall der meisten Imperien, die Territorien nicht aneinandergrenzen, sondern weltweit verstreut sind.

Die Ansprüche auf Souveränität sind sicher nicht strikt ›rechtmäßig‹, aber sie gründen gänzlich im Besitz eines Territoriums oder in dessen Eroberung mit Gewalt. Der größte Teil des britischen Imperiums des 19. Jahrhunderts wurde durch solche Mittel erworben. Aber wenn Herrschaft effektiv durchgesetzt wurde – wenn der ›Besitz‹ vollständig und unbestritten ist –, wird die de facto-Souveränität der eingedrungenden Macht anerkannt. Großbritannien verblieb, als es erfolgreich die argentinische Okkupation der Falkland-Inseln bezwungen hatte, als ›souveräne Macht‹ – die einzige »ohne Rivalen innerhalb [des Territoriums] als gesetzgebende Macht und Objekt der Gefolgschaftstreue« –, wie auch immer die (sehr komplexe) rechtliche Position aussieht.

Eine öffentliche und separate Autorität

Eine weitere der charakteristisch modernen Vorstellungen vom Staat ist die des Staates als einer öffentlichen Macht, unabhängig vom Herrscher und von den Beherrschten.

Im Absolutismus waren Herrscher und Staat, Individuum und Öffentlichkeit oft ununterscheidbar. Die moderne Vorstellung vom öffentlichen Wesen des Staates entstand demnach im Zuge des Kampfes gegen den Absolutismus. In der modernen Auffassung sollte der Staat nichts Geheimes, keine private Angelegenheit sein. Es ist etwas im Gange in der Welt, allseits bekannt und anerkannt, es nimmt die Macht einer etablierten rechtmäßigen Autorität ein, allgemein bewährt durch öffentliche Prozesse. Deshalb wurde es notwendig, zwischen Staatsamt und Amtsinhaber zu unterscheiden. Die Staatsmacht wurde neu als abstrakte Macht bestimmt, unabhängig von den aktuellen Amtsinhabern. Herrscher kommen und gehen, aber die Autorität des Staates lebt weiter: »Der König ist tot. Lang lebe der König!« Das Amt im Staate kann somit als unpersönlich hinsichtlich seiner Rollen, Befugnisse und Funktionen bestimmt werden.

 

Das ist ein Teil des umfassenderen Prozesses, in dem die Staatsmacht nun als systematisch und planvoll begriffen wurde, und nicht mehr als willkürlich und unberechenbar. Der Staatsmacht wird nicht mehr unterstellt, dass sich ihre Praktiken je nach Laune und Willkür des Herrschers wandeln – wie es seinerzeit Edward Coke, Oberrichter, im 17. Jahrhundert während des Kampfes des Parlaments gegen den König auf den Punkt brachte: es sei recht für das Recht, sich »mit der Fußgröße eines Justizministers« zu wandeln. Das mächtigste Druckmittel, das gegen einen König eingesetzt werden konnte, der Anspruch auf Göttlichkeit erhob und dessen willkürliche Launen keine Restriktion erfuhren, war das Beharren darauf, dass seine Herrschaft veranwortungsvoll und durch das Recht begrenzt sein sollte. Das Recht verlieh dem Volk ein öffentliches Kriterium, um das Staatshandeln zu bemessen. Dies wurde in die rechtsstaatlichen Grenzen der Herrschaft eingeschrieben, die die Bedingungen förmlich festlegen, unter denen der König seine Herrschaft im Staat ausüben bzw. nicht ausüben kann, und/oder die durch Gewohnheit und Tradition des Volkes anerkannt werden.

Der Staatsapparat

Ein besonderes Merkmal des modernen Staates, das die Vorstellung vom Staat als ›öffentlicher Gewalt‹ kennzeichnet, ist die Ausweitung des institutionellen Staatsapparates – der »sich vergrößernde Apparat der bürokratischen Kontrolle«, der »ausgeprägte Machtapparat« in Skinners Worten. Es gab eine lang anhaltende Debatte darüber, ob die Begriffe ›Regierung‹ und ›Staat‹ austauschbar sind. Das komplexe Wesen des Staates kann nicht auf die Weisen reduziert werden, mittels deren die institutionelle Maschinerie der Regierung funktioniert. Der Staat umfasst eine viel größere Bandbreite an Aufgaben als die technischen und administrativen Fragen, wie die Maschinerie der Regierung arbeitet. Die Begriffe ›Regierung‹ und ›Staat‹ beziehen jeweils sehr unterschiedliche Bedeutungsebenen ein. Andererseits sollte der Staat eine abstrakte und allgemeine Kraft sein, muss seine Macht materialisiert werden – d. h. er muss eine wirkliche, konkrete, gesellschaftliche Organisationsform mit realen Aufgaben erlangen; er muss über reale Ressourcen verfügen und sie gebrauchen können, mittels einer Reihe von Verfahren in den Apparaturen der modernen Staatsmaschine. Dies zeichnet die Macht des modernen Staates mit weiteren besonderen Merkmalen aus: das Phänomen der Bürokratie und die Formung eines rational-technischen administrativen Ethos einer Regierung im großen Stil. Staatsapparate erwerben eigenständige politische und strategische Ausprägungen. Sie können eine Machtbasis für recht verschiedene Interessen werden, mit einer eigenen, ›relativ autonomen‹ Effektivität in Bezug auf die Handlungsweise des Staates.

Staat und Gesellschaft

Bislang haben wir erwogen, was der Staat ist. Nun müssen wir zum Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft übergehen. Wo enden die Grenzen des Staates und wo beginnen die der Gesellschaft? Wie sind die Beziehungen zwischen ›Staat‹ und ›Gesellschaft‹ zu verstehen?

Der Staat geht mit öffentlichen Angelegenheiten einher – res publica: Gesellschaft, insbesondere in der liberalen Tradition, ist verknüpft mit dem Privaten. Mit öffentlich ist alles gemeint, was direkt vom Staat besessen, organisiert oder verwaltet wird. Das Private ist alles, was außerhalb der direkten Kontrolle des Staates liegt; also das, was freiwilligen, nicht vorgeschriebenen Arrangements überlassen wird, die von privaten Individuen organisiert werden. Es gibt in der modernen Gesellschaft zwei durch und durch ›private‹ Sphären. Eine ist die Familie: Persönliche, familiäre, emotionale und sexuelle Beziehungen wurden lange als eine ›häusliche‹ Angelegenheit betrachtet, in die der Staat sich nicht einmischen sollte. Die Familie mit ihrer Autorität, die üblicherweise nur dem männlichen Haushaltsvorstand zugestanden wurde, wurde früher als Modell für den Staat angesehen: der Herrscher als ›Vater seines Volkes‹. Die häusliche Sphäre wurde lange wie ein Himmel betrachtet: ein ›Ort der Zuflucht aus der öffentlichen Welt‹. Die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat hat eine spezifische geschlechtliche Prägung angenommen: das Öffentliche ist die Sphäre der Arbeit, Autorität, Macht, Verantwortlichkeit, der Gestaltung der Welt durch Männer; das Private ist das ›häusliche Reich‹, in dem Frauen und weibliche Tugenden herrschen. Diese Unterscheidung gründet demnach auf einer bestimmten geschlechtlichen Arbeitsteilung und ist eines der wesentlichen Mittel, mit dem der Ausschluss von Frauen aus öffentlichen Angelegenheiten begründet und abgesichert wurde. Die Aufrechterhaltung des Trennungszusammenhangs öffentlich/privat durch den Staat wird zuweilen zu Hilfe genommen, um die patriarchale Schlagseite des Staates zu veranschaulichen.

Die andere ›private‹ Sphäre in liberalen Gesellschaften ist die der Wirtschaft und des Freihandels. In der Zeit des Merkantilismus nahm der Staat im Wirtschaftsleben eine stark direktive Rolle ein. Aber mit der zunehmenden Bedeutung einer privat getragenen kapitalistischen Wirtschaft – auf der Grundlage von Privateigentum und Lohnarbeit, Kapitalverkehr und Marktgesetzen – setzte sich auch zunehmend die Auffassung durch, dass der Staat ›die Wirtschaft in Ruhe lassen‹ sollte (laissez-faire), den Marktkräften erlauben sollte, ohne Staatseinmischung zu wirken, und die Regulierung des Wirtschaftsverkehrs allein den privaten Individuen überlassen sollte, die hierfür freiwillige Verträge aushandeln. Es waren Adam Smith und die frühen Volkswirtschaftler (und nach ihnen Marx), die für diese gesamte Sphäre der ›privaten‹ wirtschaftlichen Aktivitäten in kapitalistischen Gesellschaften den Begriff bürgerliche Gesellschaft prägten.

Diese Abgrenzung ist allerdings beileibe nicht mehr so konturenscharf, wie sie einst war. Beachte die ›öffentlichen Schulen‹, die aber privat gegründet wurden! Dies stellt einen anderen Gebrauch des Begriffs ›öffentlich‹ dar im Vergleich zu dem, den wir zuvor erörtert haben. Der zweite Gebrauch kennzeichnet Dinge als ›öffentlich‹, weil sie im ›öffentlichen Raum‹ stattfinden. Sie wurden formell und institutionell gegründet, wie öffentliche Unternehmen; oder sie finden in der Gesellschaft vor den Augen anderer statt, wie öffentliche Versammlungen. Im gleichen Sinne repräsentiert die öffentliche Meinung die Sichtweisen des Volkes – jedoch außerhalb des Bereichs der staatlichen Verfügungsmacht. Der Begriff ›Zivilgesellschaft‹ weitete sich aus, um alle Formen des sozialen Umgangs oder der freiwilligen Vereinigung abzudecken, ob ökonomisch oder nicht – vorausgesetzt, diese Praktiken wurden nicht vom Staat organisiert oder kontrolliert1. In modernen liberal-demokratischen Gesellschaften existiert heute eine Reihe von gemischten oder hybriden öffentlich-privaten Formen.

Diese Verwirrung – öffentlich = Staat und öffentlich = im öffentlichen Raum – entstand im 18. Jahrhundert. Die aufstrebenden Geschäftsleute und Akademiker nutzten ihre Führungsposition und platzierten ihren Einfluss in der Zivilgesellschaft mittels ihrer privaten wirtschaftlichen Interessen und Geschäfte und auch mittels der Einrichtung unzähliger privat gegründeter und kontrollierter freiwilliger Vereinigungen, Clubs, Handelskammern, Forschungsgesellschaften, Bibliotheken, Wohlfahrtsvereine, Fonds, Berufsverbände etc. Diese Aktivitäten stärkten ihre gesellschaftliche Macht und Autorität und zwangen den Staat zunehmend, sie in formaler und ›öffentlicher‹ Weise vermehrt zu berücksichtigen. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass in diesen ›öffentlichen‹ Vereinigungen Männer vorherrschend waren. Es waren vermögende Männer, ›öffentliche Personen‹. Im gleichen Zuge wurden Frauen zunehmend in die ›getrennte häusliche Sphäre‹ abgesondert.

Die Grenzen zwischen ›Staat‹ und ›Zivilgesellschaft‹ waren nie festgeschrieben, sondern ständig im Wandel. Öffentlich und privat sind keine natürlichen, sondern gesellschaftlich und historisch konstruierte Teilungen. Eine der Weisen, mittels der der Staat seine Reichweite ausdehnte, war das Ziehen neuer Grenzen zwischen öffentlich und privat und damit auch die Neuaufstellung der Definition des Privaten, was das Intervenieren des Staates in Bereiche legitimierte, die bisher als unantastbar galten.

Ist der Staat autonom gegenüber der Gesellschaft?

Auch wenn die ›Separiertheit‹ des Staates von der Gesellschaft in den verschiedenen Staatsapparaten der Regierung und der Staatsmaschine institutionalisiert ist, heißt das deswegen nicht, dass der Staat von der Gesellschaft unabhängig ist. Wenn der Staat unabhängig wäre, dann wäre er gänzlich außerhalb des Spiels gesellschaftlicher Kräfte und Verhältnisse und triebe sich selbst an. Tatsächlich entspringt der Staat der Gesellschaft und wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn umfassen, machtvoll geformt und beschränkt. Zur gleichen Zeit stellt der Staat selbst ein organisiertes und verdichtetes Kräfteverhältnis dar, ausreichend separiert, um in die Gesellschaft in seinem Sinne zurückzuwirken, in sie zu intervenieren und sie zu formen.

Deshalb das relationale Wesen des Staates: Der Staat steht in kontinuierlicher Interaktion mit der Gesellschaft; er reguliert, ordnet und gestaltet sie. Wir haben bereits die Notwendigkeit betont, dass der Staat den Gehorsam seiner Untertanen verlangen oder ihnen ihre Pflichten auferlegen muss. Aber wir haben auch gesagt, dass dieser Prozess ›Zustimmung‹ einschließt – die allgemeine Bereitschaft der Bevölkerung, trotz vieler Vorbehalte die staatliche Herrschaft zu unterstützen und mit ihr konform zu gehen. In liberalen Demokratien wurde diese Zustimmung genau genommen durch das Wahlrecht und eine repräsentative Staatsführung formalisiert, auf der Grundlage einer territorial bestimmten Wählerschaft (hinzu kommen gewisse rechtsdefinierte soziale und Bürgerrechte). In diesem Fall helfen die Bürger, den gesetzgebenden Teil des Staates formal durch den Wahlvorgang zusammenzustellen und zu konstituieren. Solch ein Staat kann offensichtlich nicht autonom gegenüber der Gesellschaft sein. Das Entgegenkommen des Staates gegenüber der Gesellschaft erschöpft sich nicht in formalen Systemen der Volksrepräsentation. In solchen Gesellschaften ist die öffentliche Meinung oft das sensibelste Barometer für die Zustimmung des Volkes und die Wandlungen in seinen Einstellungen.

Der Staat kann nicht völlig außerhalb der sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse und Institutionen der Gesellschaft stehen. Eine seiner Hauptfunktionen ist das Bewahren von Recht und Ordnung; aber die ›Ordnung‹ in einem kommunistischen Staat ohne Privateigentum und mit seiner Verschmelzung von Wirtschaft und Politik ist sehr verschieden von der Ordnung in westlich-liberalen kapitalistischen Gesellschaften, die auf Privateigentum, Lohnarbeit, Transaktionen am Markt und der formellen Trennung zwischen Wirtschaft und Politik gründen. Staaten ›erhalten‹ nicht bloß die ›Ordnung‹ aufrecht. Sie erhalten besondere Formen der gesellschaftlichen Ordnung aufrecht: eine bestimmte Reihe an Institutionen, eine bestimmte Ausgestaltung von Machtverhältnissen, eine bestimmte Sozialstruktur und Wirtschaft. Der ›leere‹ Staat – ein Staat ohne gesellschaftlichen Inhalt – existiert nicht.

Da der Staat aus einer spezifischen Ausgestaltung sozio-ökonomischer Verhältnisse und Institutionen entsteht, reflektiert er bei seinen Staatshandlungen die Form, Struktur und Ausgestaltung dieser gesellschaftlichen Formationen. Eine feudale Gesellschaft kann nicht von einer kapitalistischen Staatsform regiert werden. Der kapitalistische Staat basiert auf einer Gesellschaft und ist für eine solche geeignet, die über Kapitalverkehr funktioniert: in der die Wirtschaft hinsichtlich ihrer Profitabilität beurteilt wird, wo Einnahmen von der systematischen Erhebung von Steuern abhängen, wo die Macht›pyramide‹ sich aus den Klassen der modernen Industriegesellschaft heraus bildet, nicht aus feudalen Ständen; und die allgemeine Gesinnung ist nicht religiös, sondern säkular und individualistisch mit einem demokratischen oder ›egalitären‹ Ethos. Trotz der formalen Trennung zwischen Wirtschaft und Politik gibt es gewichtige Gründe, warum beide bis zu einem gewissen Grad dazu tendieren, sich zu entsprechen.

 

Der Staat ist demnach nicht autonom gegenüber der Gesellschaft. Das heißt nicht, dass der Staat in Form und Funktion gänzlich durch die Gesellschaft bestimmt wird. Es gibt komplexe Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen der Form des Staats und der Art der Gesellschaft. Aber der Staat wird von der Gesellschaft mit der ultimativen Macht der höchsten Autorität ausgestattet, autorisiert, über der Gesellschaft zu stehen und sie zu regieren. Der Staat lässt sich nicht vollständig auf die Gesellschaft reduzieren. Etwas ist hinzugefügt, wenn Macht in der Gesellschaft in einer separaten und besonderen Herrschaftsinstanz organisiert wird. Aus dieser Perspektive scheint es klar, dass der Staat die Gesellschaft konstituiert, wie auch er selbst von ihr konstituiert wird. Staaten sind somit nicht autonom gegenüber der Gesellschaft. Sie sind nur ›relativ autonom‹.

Diese Frage, ob der Staat gegenüber der Gesellschaft autonom oder auf sie reduzierbar ist, ist eins der wichtigsten Kritierien, um die verschiedenen Theorien über den Staat voneinander zu unterscheiden. Schlichte pluralistische Theorien gehen davon aus, dass der Staat weitgehend autonom ist. Inputs von konkurrierenden Interessengruppen münden in den Staat ein: der Staat agiert als Schiedsrichter zwischen ihnen. Seine Neutralität gegenüber den verschiedenen Interessengruppen der Gesellschaft wird durch seine Separatheit und Autonomie garantiert. Schlichte marxistische Theorien wiederum halten den Staat für ein Werkzeug der herrschenden Klasse. Sein Gehalt, sein Ziel und seine Strategie sind identisch mit denen der herrschenden Klasse. Seine Funktion ist die Verwaltung der Gesellschaft zugunsten der Interessen der herrschenden Klasse. Seine ›Separatheit und Autonomie‹ sind eine Illusion, ein Trick, um die Machtlosen zu täuschen, damit sie denken, der Staat sei neutral und stünde über und neben solch verkommenen Vorgängen. Staatstheorien schwanken weitgehend zwischen diesen zwei Polen der ›Autonomie‹ und ›Identität‹.

Repräsentation und Konsens

Der Staat ist in gewisser Weise ›repräsentativ‹ gegenüber der Gesellschaft. Aber Repräsentation ist ein schlüpfriger Begriff. Der absolute Monarch fühlte, dass er ›der Vater seines Volkes‹ war und die Pflicht hatte, sein Volk zu behüten, sich um seine Wohlfahrt zu kümmern und seine Interessen zu vertreten. Aber das gemeine Volk hatte keine formalen Rechte der Repräsentation. Repräsentation ist nie ein einfacher, transparenter Prozess. Ein Abgeordneter des Parlaments mag sich Ihre Sichtweisen anhören und versuchen, ›diese‹ so gut er oder sie kann zusammen mit den Standpunkten anderer im Parlament zu ›repräsentieren‹. Aber es wäre naiv zu glauben, dass er oder sie das, was Sie sagen oder wünschen, direkt und ohne Modifikation weitervermittelt. Politiker und Politikerinnen können das Volk allgemein in dem Sinne ›repräsentieren‹, dass die einzelnen Bürger und Bürgerinnen etwas Bestimmtes erwarten – z. B. verschärfte Gesetze, Sicherheitspolitiken, die Wiedereinführung der Hinrichtung durch den Strang – wobei ›diese Einzelnen‹ nicht wissen, dass sie dies wollten, bevor es für sie formuliert wurde.

Die Vorstellung, dass der Staat bezogen auf ›Repräsentativität‹ und ›Konsens‹ definiert werden sollte, spielte für den Staatsbegriff bis zu den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts keine Rolle. Der wesentliche Bruch erfolgte mit Hobbes, der begann, Individuen als eigenständige, besitzergreifende und eigennützige Einheiten im ›Naturzustand‹, in Abwesenheit jeglicher Gesellschaft zu fassen und, daran anschließend, den Staat als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages zwischen einwilligenden Individuen zu erklären.

Seit diesem Zeitpunkt stand das Regieren im Einverständnis im Zentrum der modernen Vorstellung vom Staat. In der liberalen Theorie wurde dies gänzlich individualistisch bestimmt. Die Klasse derer, deren Einverständnis zählte, war strikt beschränkt – obgleich dieses Einverständnis der Bevölkerung mittels einer universellen Sprache von ›Rechten und Freiheiten freier Engländer‹ zugestanden war. John Locke definiert ›Individuen‹ als besitzende Individuen und meint damit Männer. Frauen, nicht vermögende Arbeiter oder Dienerschaft sind nicht einbezogen. »Mit dem Ausdruck ›freie Männer‹ meinten die Whigs immer einen Mann mit eigenem Vermögen.« (Dickenson 1977: 68)

›Konsens‹ ist ein kritisches Konzept für alle Gesellschaftsverträge und liberalen Staatstheorien. Aber seine Bedeutung bleibt mehrdeutig. Muss Zustimmung positiv und begeistert sein? Kann Zustimmung stillschweigend, widerwillig, gewohnheitsmäßig erfolgen – oder erzwungen werden? Die Versöhnung der Theorie der Individualrechte und des Konsens mit der unveräußerlichen Tatsache der Staatsmacht bleibt seither eine heikle Frage für liberal-individualistische Staatstheorien.

Ein Staat sei notwendig, so argumentierte Hobbes, »um festzusetzen, auf welche Weise alle Arten von Verträgen zwischen Untertanen (wie Kaufen, Verkaufen, Tauschen, Leihen, Pachten und Verpachten) abgeschlossen werden« (zit. n. Macpherson 1967: 114; vgl. Hobbes 1984: 131). Hiermit ist ein Grundstein liberaler Staatstheorien in Marktgesellschaften und -ökonomien identifiziert. Theorien des Gesellschaftsvertrages hoben diese neuen sozio-ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts auf die Stufe eines abstrakten Prinzips. Hobbes hingegen konnte nicht erklären, wie seine Individuen im Naturzustand, in Abwesenheit jeglicher Gesellschaft, hinreichend »die gesellschaftlich erworbenen Verhaltensweisen und Begierden des Menschen« besitzen (Macpherson 1967: 35), die sie befähigen, ihre Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag zu formulieren. In Wirklichkeit werden Individuen nicht in ein natürliches Nichts hineingeboren, sondern in bereits funktionierende Gesellschaften, in bestimmte Sozialordnungen innerhalb gesellschaftlich geformter Verhältnisse und mit bereits bestehenden Pflichten gegenüber dem Staat. Ihre Zustimmung muss demnach ebenso gesellschaftlich geformt sein. Zudem muss Zustimmung nicht notwendigerweise spontan sein. Wir können machtvoll vom Staat beeinflusst werden, um zuzustimmen. Sie kann im wahrsten Sinne ›hergestellt‹ werden.

In liberalen Demokratien sind Konsens und Repräsentation oft untrennbar miteinander verbunden. Die konsensuelle Basis des Staates ist durch den formalen Prozess der repräsentativen Staatsführung besiegelt. Noch mal: das ›repräsentative‹ Wesen des Staates trat nicht zuerst mit der liberalen Demokratie auf. Die Armen und die Entrechteten konnten gegenüber den Mächtigen immer Beschwerden oder ›Bittgesuche‹ vorbringen. Absolute Herrscher fühlten sich verpflichtet, diese Repräsentationen anzuerkennen – wenn nicht zu einem anderen Zweck, dann um Rebellionen, Unruhen und Beutezügen vorzubeugen. Das System der Entsendung eines ›Vertreters‹ derer, die dem König Abgaben schuldeten oder die wünschten, ein Gesuch bei ihm vorzubringen, ließ im 13. und 14. Jahrhundert eine Fülle von unabhängigen Experimenten mit frühen Formen einer repräsentativen Staatsführung entstehen: die Grundlegung der modernen parlamentarischen Regierung (Hexter 1983). Keine dieser Formen allerdings entspricht den modernen Formen der demokratischen Repräsentation auf der Grundlage ›eine Person, eine Stimme‹.