Populismus, Hegemonie, Globalisierung

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Nur mit den Werken radikaldemokratischer Theoretiker wie z. B. Jean-Jacques Rousseau und später im Gefolge der Französischen Revolution und auch der popularen Reformbewegungen, die im Kontext des industriellen Kapitalismus und moderner Klassenformationen aufstiegen, entstand das Interesse an einem Staat auf der Grundlage eines universellen Systems der Repräsentation, verankert in einer schwachen Version des ›souveränen Volkswillens‹ (wie ihn Rousseau nannte) oder des Gemeinwillens. Dies wurde der Prototyp für die formalen Prozesse der repräsentativen Staatsführung. Dieses liberal-demokratische Herrschaftssystem musste sich hin zum ›liberalen‹ Staat transformieren. Dieser Prozess wurde in Großbritannien erst mit den Reformbewegungen der popularen und Arbeiterklasse des frühen 19. Jahrhunderts eingeleitet und war nicht vor dem erreichten Wahlrecht von Frauen im 20. Jahrhundert vollendet.

Der Staat und gesellschaftliche Interessen

Die Gesellschaft ist angefüllt mit machtvollen und konkurrierenden Interessen. Auf wessen Seite ist die Staatsmacht nun eingespannt? In welchem Interesse funktioniert der Staat?

Gesellschaftliche Interessen sind sehr schwierig zu definieren. Die meisten Interessen konfligieren: Arbeiter brauchen höhere Einkommen, wollen aber den Preis für ihre Arbeitskraft nicht derart verteuern, dass sie ihre Lohnarbeit gefährden. Interessen sind auch historisch bestimmt: sie verändern sich im Laufe der Zeit und unter anderen Bedingungen. Geschichte erzeugt ›neue‹ Bedürfnisse und dementsprechend auch neue Interessen. Es gibt keine festgeschriebene, ewige Liste verallgemeinerter Bedürfnisse, die man einfach aus dem ›Menschsein‹ ableiten könnte. Unsere Interessen sind gesellschaftlich und kulturell bestimmt. Zudem können uns Interessen nicht schlicht auf der Grundlage unserer kollektiven Identitäten oder sozialen Position zugeordnet werden. Nicht alle ›Kleinbürger‹ wollen die Welt wie einen Kaufladen betrieben sehen. Nicht alle Arbeiter wollen eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft. Nicht alle Bosse verfolgen ihr Interesse, indem sie die Armen immer weiter ausbeuten. Interessen neigen dazu, sich in bestimmten Weisen als eine Folge unserer sozialen oder Klassenposition, unserer Bildung und unserer Perspektiven herauszubilden. Aber es gibt keine festgeschriebene und unveränderliche Agenda der Klasseninteressen, die den gesellschaftlichen Gruppierungen formell zuschrieben werden kann, losgelöst von dem Prozess, in dessen Verlauf Interessen geformt und verändert werden, umkämpft sind und durch Kämpfe transformiert werden. Wenngleich die materiellen Interessen einen besonders starken Antrieb für das aktive Handeln bilden, sind sie nicht unwiderstehlich. Arbeitslosigkeit treibt nicht alle Arbeitslosen zwangsläufig dazu an, die Linken zu wählen. Probleme lassen sich nicht allein dadurch lösen, dass man sich auf die ›materiellen Interessen‹ beruft – auch wenn sie zugleich zu bedeutend sind, um sie außer Acht zu lassen. Auch ›Köpfe und Herzen‹ sind interessenlastig. Diese Voraussetzungen müssen berücksichtigt werden, wenn wir Theorien analysieren oder wenn wir Handlungen und Strategien von Gruppen erklären und uns dabei auf ihre Interessen beziehen, die sie gegenüber dem Staat durchsetzen wollen.

Staatstheorien können auch dahingehend kategorisiert werden, wie sie gesellschaftliche Interessen und den Staat begreifen. Wie schon erwähnt, vertritt der Staat in liberalen Theorien die Interessen von individuellen Staatsbürgern. Seine Funktion ist das Schaffen von Bedingungen, unter denen Leben, Leib und Eigentum der Individuen geschützt und ihre ›Rechte und Freiheiten‹ gesichert werden können. In dieser Lesart werden Individuen als autonome Einheiten angesehen, angetrieben durch Eigennutz und durch ihr natürliches Wesen, das sie besitzergreifend konkurrieren lässt. Das ›Interesse‹ solcher Individuen dem Staat gegenüber ist die Öffnung der Gesellschaft für diese Antriebskräfte, aber zugleich, dass er den Zusammenbruch der Gesellschaft und ihr Zerfallen in einen destruktiven Wettbewerb verhindert: Hobbes’ Krieg aller gegen alle.

Die pluralistische Vorstellung von Interessen und vom Staat erkennt an, dass moderne Gesellschaften nicht nur aus konkurrierenden Individuen bestehen. Es gibt große gesellschaftliche Gruppierungen – Klassen, ökonomische oder andere ›Interessengruppen‹ –, deren Interessen durchaus konfligieren können und in der Gesellschaft miteinander wetteifern. Um der ›freien Gesellschaft‹ willen muss es zulässig sein, dass dieser Wettbewerb fortschreitet; aber es muss nicht zugelassen werden, dass dieser Wettbewerb in Gewalt als Mittel der Konfliktbewältigung umschlägt. Eine ›Autorität‹ ist erforderlich, die die Konkurrenz innerhalb einer festgelegten Ordnung von ›Spielregeln‹ gewaltfrei hält; aber die ebenso gewisse gemeinsame Kompromisslösungen zustande bringt, die geeignet sind, den Konsens der Mehrheit des Volkes zu gewinnen. Dieser Schlichter ist der Staat. (Natürlich existieren noch weitere wohldurchdachte pluralistische Ansätze.)

Der liberal-demokratische oder reformistische Ansatz argumentiert, dass es jenseits der Partikularinteressen, die der Staat repräsentiert, noch etwas anderes geben muss: z. B. die Gesellschaft oder die Gemeinschaft als ein Ganzes. Der Hüter dieses ›Gemeininteresses‹ ist der Staat. Der Reformismus erkennt an, dass, indem Individuen, Gruppen oder Klassen frei sind, um für ihren eigenen Vorteil in liberalen Marktwirtschaften zu konkurrieren, ein Bereich oder eine Klasse einen größeren Anteil an Wohlstand, Kapital, Profit und Macht akkumulieren wird. Der Staat muss daher zweifellos eingreifen, um die Bedingungen für eine Ausweitung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zu schaffen, ohne den zugrunde liegenden Wettbewerbsrahmen zu zerstören.

Aber was, wenn konfligierende Interessen aus der Gesellschaftsstruktur selbst heraus entstehen? Marxistische Auffassungen vom Staat argumentieren, dass Klassen die tragenden Interessengruppen in der Gesellschaft sind; ihre Interessen stehen unvermeidlich im Widerstreit zu anderen (der Klassenkampf, nicht nur friedvolle Konkurrenz); diese Interessenkonflikte werden von der Struktur kapitalistischer Gesellschaften erzeugt. Klasseninteressen sind eigensinnig und strukturbedingt. Die Staatsmacht wird deswegen monopolisiert, entweder unmittelbar durch die herrschenden Klassen der Gesellschaft, oder sie wird eingespannt, um deren Gemeininteressen auszuweiten, zu schützen oder voranzubringen. 1884 schrieb Engels über die demokratische Republik: »In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus.« (MEW 21: 167)

Manche marxistische Auffassungen sehen den Staat als ein strukturelles Element, das beim Austarieren der Gewichte dem Gemeininteresse der herrschenden Klasse systematisch seine Überlegenheit sichert. Eine andere Auffassung sieht den Staat dergestalt eingreifen, dass er die Bedingungen für das ganze System erhält oder schafft, um es profitabler für die zu gestalten, die darin bereits bevorteilt sind. Es gibt gewiss noch weitere Auffassungen in marxistischer Perspektive.

Solch vielfältig bestimmte – liberale, pluralistische, reformistische, marxistische – Auffassungen zielen darauf ab, alle möglichen Diskussionen über den Staat zu vermitteln. Diskussionen über den Staat mögen sachlich bestrebt sein, diese Auffassungen im Lichte empirischer Untersuchungen zu prüfen und weiterzuentwickeln. Aber all diese Debatten sind von ideologischen und theoretischen Vorverständnissen geprägt.

Aus dem Englischen von Victor Rego Diaz

1Anmerkung der Herausgeber: Während im Englischen diese Begriffsumdeutung im selben Begriff ›civil society‹ fortgeschrieben ist, erfolgte im Deutschen eine Begriffsverschiebung von ›bürgerlicher Gesellschaft‹ zu ›Zivilgesellschaft‹.

Die Entstehung des repräsentativen/interventionistischen Staates, 1880er–1920er Jahre

Einleitung: 1880er–1920er Jahre. Ein prägender Moment

Der Zeitraum zwischen den 1880er und den 1920er Jahren war für die britische Gesellschaft prägend. Viele der herrschenden Muster und Verhältnisse, die den Charakter der britischen Gesellschaft und die Rolle des Staates in den früheren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bestimmt hatten, erodierten oder wurden transformiert. Neue gesellschaftliche Kräfte betraten die politische Bühne, kämpften um eine breitere Repräsentation im Staat und gewannen diese auch in einem signifikanten Ausmaß. Tatsächlich wurde das gesamte Feld der politischen und industriellen Repräsentation in diesen Jahrzehnten umgebaut; das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte wurde erheblich verändert. Das Wesen des Staates veränderte sich nicht über Nacht; alte Auffassungen im Sinne des Laissez-faire wurden langsam hinterfragt, neue ›Philosophien‹ des staatlichen Handelns nahmen Gestalt an, das Ausmaß der staatlichen Aktivität vergrößerte sich und der Staat begann, den Weg für neue, interventionistischere Handlungsweisen zu ebnen.

Ein zentraler Faktor in den Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft in diesem Zeitraum ist die Verschiebung im Wesen der Repräsentation. Unter ›Repräsentation‹ verstehe ich hier in einem sehr weiten Sinne jede Art und Weise, wie Klassen oder andere gesellschaftliche Kräfte in der Gesellschaft Macht im oder Einfluss über den Staat gewinnen, um ihn ihren Interessen besser anzupassen. Formal war der Höhepunkt dieses Prozesses der Schritt zum allgemeinen Erwachsenenwahlrecht – ein Prozess, der in Großbritannien erst am Ende dieses Zeitraums abgeschlossen war. Unter ›Intervention‹ verstehe ich all die Arten, wie der Staat in die Gesellschaft eingreift, um sie in eine bestimmte Richtung zu führen, bestimmte Politiken abzusichern oder eine bestimmte Struktur in den gesellschaftlichen Verhältnissen aufrechtzuerhalten. Dieser Prozess vergrößert den Handlungsspielraum des Staates und definiert die Zivilgesellschaft neu. In diesen vier Jahrzehnten machte der britische Staat in dieser Richtung beträchtliche Fortschritte.

 

Wir haben uns entschlossen, einen Abschnitt der Geschichte des britischen Staates zu behandeln, der sich in diesen beiden Punkten als kritisch erwiesen hat. Zwischen dem Reform Act von 1867 und dem Representation of the People Act von 1928 wurde Großbritannien zum ersten Mal eine vollwertige, formale Massendemokratie. In demselben Zeitraum gab die britische Gesellschaft ihr Bekenntnis zum Laissez-faire auf, und zwischen dem Staat und den gesellschaftlichen Kräften entwickelten sich Beziehungen einer interventionistischeren Form. Der Begriff ›interventionistischer Staat‹ sollte wahrscheinlich am besten den 1960ern und 1970ern vorbehalten bleiben, als der ›Interventionismus‹ für den britischen Staat eine Zeitlang zur normalen und regulären Arbeitsweise wurde. Es ist aber allgemein anerkannt, dass der kritische Schritt in diese Richtung in der Periode zwischen den 1880ern und den 1920ern seinen Anfang nahm. Es ist daher angebracht, diesen Zeitraum als ›prägend‹ anzusehen, sowohl in Bezug auf die moderne Demokratie als auch bezüglich des interventionistischen Staates.

Da diese Veränderungen sich im selben Zeitraum vollzogen, liegt die Frage nahe, ob diese beiden Prozesse in Verbindung stehen oder nicht. Steht der ›Aufstieg der Demokratie‹, der seinen Höhepunkt in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts fand, im Zusammenhang mit dem ›Anstieg des Interventionismus‹ und ›kollektivistischeren‹ Staatskonzepten, die für dieselbe Periode typisch sind? Wird der Staat etwa interventionistischer, weil er nun repräsentativer geworden ist? Und wie wurde dieser scheinbare Widerspruch gelöst? Was geschah mit den Klassenverhältnissen in der Gesellschaft, als der Staat ›demokratisiert‹ wurde? Wenn die populär-demokratische Basis des Staates erweitert wurde, legitimierte dies eine Ausweitung seiner interventionistischen Macht?

Dieses Kapitel soll nicht nur zeigen, wie sich diese Übergänge tatsächlich historisch vollzogen, sondern auch Antworten auf einige weitergehende theoretische Fragen austesten und provisorische Lösungen finden. Wie definieren oder beschreiben wir theoretisch die Beziehung zwischen ›Gesellschaft‹ und ›dem Staat‹? Welche Art der theoretischen Perspektive ermöglicht uns die zufriedenstellendste Erklärung, warum sich diese Beziehungen zwischen der Gesellschaft und dem Staat zu bestimmten historischen Zeitpunkten so signifikant verschoben haben?

Die gängigste Beschreibung dieser Übergänge basiert auf einer liberaldemokratischen und reformistischen Perspektive. Sie könnte als ›der Triumph von Demokratie und Reform‹ zusammengefasst werden. Die britische Gesellschaft sei – nicht ohne starken Widerstand und im letzten Moment nachgebend – fähig gewesen, so wird behauptet, die Herausforderung von Massendemokratie und Reform aufzunehmen, ohne dass dies zum Untergang oder Umsturz des gesamten Systems geführt hätte. Dies zeigt, dass zwischen Staatsform und Gesellschaft kein festgelegtes, determinierendes Verhältnis besteht – oder, um es exakter auszudrücken, zwischen dem Staat und seiner determinierenden ›Basis‹, der Wirtschaft. Schließlich blieben die britische Gesellschaft und Wirtschaft kapitalistisch, und das in dem Zeitraum, als der Staat demokratisch wurde. Jene, die im Besitz der kapitalistischen Industrie waren und sie kontrollierten, akkumulierten weiterhin Kapital, häuften Reichtum an und dominierten das Wirtschaftsleben. Die Wirtschaft ist heute weiterhin kapitalistisch organisiert und funktioniert nach kapitalistischen Maßstäben. Wenn jedoch die wirtschaftliche Basis tatsächlich die Staatsform bestimmen würde, dann müsste die wirtschaftlich dominante Klasse herrschen und die Gesellschaft auch politisch dominieren. Sie würde ihre wirtschaftliche Macht dazu gebrauchen, den Staat politisch zu kolonisieren, und selbst die formale Demokratisierung der politischen Macht verhindern. Die Minderheitsklasse, die die Wirtschaft kontrolliert, würde verhindern, dass politische Macht in die Hände der Mehrheitsklassen der Gesellschaft fällt. Die Tatsache, dass ›Demokratie‹ wirklich eingeführt wurde, wird daher als Zeichen dafür gelesen, dass das System reformiert werden kann. Wirtschaftlicher Reichtum und ökonomische Macht können von politischer Macht getrennt werden. Die Wirtschaft bestimmt die Natur des Staates nicht völlig. Jenen, denen politische oder gesellschaftliche Rechte fehlen, können ›Rechte erteilt‹ werden, ohne das gesamte Klassensystem zu stürzen. Oder wie Thomas H. Marshall (1992), einer der führenden Exponenten dieser reformistischen, liberal-demokratischen Perspektive es ausdrücken würde: Das kapitalistische Klassensystem kann ›gemäßigt‹ werden, ohne den Kapitalismus als solchen zu zerstören. Der Zeitraum 1880 bis 1920 erlebte so die große Aussöhnung zwischen Kapitalismus und Demokratie.

Nun, Reformismus oder liberale Demokratie erklären die Entwicklungen so, weil sie die Verbindung von Gesellschaft und Staat auf eine bestimmte Art und Weise theoretisieren. Im Grunde beruht ihre Perspektive auf einer pluralistischen Theorie über die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Der Pluralismus in all seinen Varianten sieht das Klassensystem nicht als dominant an. Aus dieser Sicht ist ›die herrschende Klasse‹ nicht so homogen oder so einheitlich in all den verschiedenen Sphären des gesellschaftlichen Lebens (Wirtschaft, Politik, Kultur etc.), als dass sie Reformen daran hindern könnte, starke Wirkung zu entfalten. Für Pluralisten in der liberal-demokratischen Tradition hat die ökonomische Basis keine absolut bestimmenden Auswirkungen auf Politik oder Staatsform (was Karl Marx den politischen Überbau nannte). So kann sich ein Gliederungsprinzip – z. B. kapitalistischer Wettbewerb und Konzentration – für den Pluralisten in einem gesellschaftlichen Sektor durchsetzen (z. B. der Wirtschaft), während sich ein anderes Prinzip – Demokratie – im Bereich der Politik durchsetzt. Zudem hat der Staat keinen einheitlichen gesellschaftlichen oder Klassencharakter. Er ist zum großen Teil eine administrative Einheit, die den Wettbewerb zwischen verschiedenen Interessengruppen reguliert und Kompromisse aushandelt, die nicht im Interesse einer bestimmten Klasse sind, sondern der beste Kompromiss im Interesse jedes Teils – im Gemeininteresse. Für Pluralisten gibt es keine übergreifenden Klasseninteressen, die den Staat dominieren, weder im unmittelbaren noch im langfristigen Sinne.

Der Kontrast, den ich hier hauptsächlich darstellen möchte, besteht zwischen dieser reformistisch-liberalen Perspektive und der marxistischen Tradition. Marxisten würden argumentieren, dass die wirtschaftliche Macht über diesen Zeitraum weitgehend intakt in den Händen der herrschenden kapitalistischen Klassen blieb. Die Bedürfnisse des Kapitals oder die Interessen der kapitalistischen Klasse lieferten daher die wichtigsten Imperative für die Gesellschaft, die der Staat irgendwie zu erfüllen hatte. In diesem System ›Demokratie‹ einzuführen – den souveränen Volkswillen – löste diese fundamentale Verteilung von Reichtum und Macht nicht ab. Daher muss die Demokratie ein Weg gewesen sein, das Drängen der Arbeiterklasse nach mehr Macht und Partizipation am politischen Leben aufzunehmen und einzudämmen. Daher die klassische marxistische Behauptung: Die formale Demokratie setzt die beherrschten Klassen in einer dauerhaft sekundären oder untergebenen Position in die Machtgleichung ein. Sie mag ›dem Volk‹ die Illusion einer größeren politischen Macht geben; diese ist jedoch eher formal als real. Demokratische Zugeständnisse fragmentieren die Arbeiterklasse in einzelne Wähler und schwächen so ihre kollektive Macht gegenüber dem Kapital, konstruieren aber die irreführende Vorstellung, dass das Stimmrecht echte Macht bedeutet. Der ›Vormarsch der Demokratie‹ war also in Wahrheit die Form, in der die öffentliche Einwilligung der Beherrschten zur fortgesetzten Macht der herrschenden Klassen über sie gewonnen wurde.

Unter marxistischen Autoren gibt es grob zwei Auffassungen darüber, wie diese Determinierung des Staates durch die Wirtschaft funktioniert (vgl. Jessop 1982). Die erste leitet den Staat sozusagen von den ›Bewegungsgesetzen‹ oder Bedürfnissen einer kapitalistischen Wirtschaft ab (kapitaltheoretisch). So könnte man für unseren Zeitraum argumentieren, dass eine stärker entwickelte, vermehrt durch Großunternehmen geprägte Form der kapitalistischen Wirtschaft einen kollektivistischeren Staat gebraucht habe – und ihn bekommen hat! Die zweite erklärt die Staatsform über die Klassenverhältnisse und die Logik des Kampfes zwischen gesellschaftlichen Klassen (klassentheoretisch). Aus diesem Blickwinkel kann der kollektivistische und demokratische Staat in unserem Zeitraum nur als Produkt des Klassenkampfes erklärt werden.

In letzter Zeit sind unter manchen Marxisten Zweifel über den extrem logischen, rationalistischen Charakter des ›Kapitalansatzes‹ bezüglich der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft aufgekommen sowie über den instrumentalistischen Charakter von Erklärungen, die den Staat schlicht als ›Werkzeug‹ der kapitalistischen Klasse behandeln. Ein Problem beider Ansätze ist, dass sie den Staat im Grunde auf die Wirtschaft reduzieren – ob in Form des Kapitals als solchem oder in Form einer einheitlichen herrschenden Klasse. Die wirtschaftliche Basis determiniert Veränderungen im Staat: Die Bedürfnisse des Kapitals werden durch den Staat erfüllt; der Staat ist nur ein Werkzeug zur Erfüllung der Interessen der wirtschaftlich dominanten Klasse. Diese Ansätze scheinen besonders in ihren einfacheren Formen übermäßig reduktionistisch.

Es gibt jedoch einen subtileren, weniger reduktionistischen Weg, die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat zu analysieren, der sich in den Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1971/1991ff.) findet. Gramsci war ausreichend Marxist, um zu glauben, dass man der Beziehung zwischen Wirtschaft und Staat und der zwischen den grundlegenden Klassen der kapitalistischen Gesellschaft und den Kämpfen um den Staat viel Gewicht beimessen muss. Aber, so Gramsci, wir dürfen die Letzteren nicht auf die Erstere reduzieren. Wir müssen den Staat als das betrachten, was die spezifische Rolle der Schaffung von politischen und ideologischen Bedingungen erfüllt, in denen die ganze Gesellschaft den grundlegenden Trends oder Tendenzen der Gesellschaftsformation angepasst oder mit ihnen auf eine Linie gebracht werden kann. Die Bedingungen, unter denen diese ›Rekonstruktion‹ erfolgen kann, sind jedoch von der effektiven Beherrschung des politischen und ideologischen wie des wirtschaftlichen Terrains abhängig; ebenso von der Formierung eines gesellschaftlichen Blocks, der Teile verschiedener Klassen umfasst und den notwendigen Unterbau des Staates bildet; und von der Gewinnung eines signifikanten Teils der popularen Klassen für diesen Block. Diese Perspektive gibt dem Staat nicht nur eine signifikantere und relativ unabhängige Rolle. Sie verleiht auch den realen Auswirkungen, die die Ankunft der Demokratie auf Austragung und Ausgang von politischen Kämpfen um den britischen Staat hatte, sehr viel mehr Gewicht. Sofern Bedingungen für die politische Führung im Staat geschaffen wurden (denn für Gramsci gibt es keine bestimmende Notwendigkeit dazu), so repräsentiert dies einen Moment dessen, was er ›Hegemonie‹ nennt.

Wir haben vor allem eine liberal-demokratische, reformistische und pluralistische Perspektive einigen marxistischen Perspektiven (logisch, mechanistisch, ›gramscianisch‹) gegenübergestellt. Jede enthält bestimmte zentrale Aspekte, die diesen Zeitraum charakterisieren. Jede beruft sich auf bestimmte theoretische Annahmen. Jede beruht auf einer bestimmten Art, die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat zu verstehen. Ich möchte nun diese Erklärungen weiter untersuchen, nicht mit weiteren theoretischen Argumenten, sondern indem ich mich stattdessen einigen der tatsächlichen historischen Prozesse und Ereignisse dieser Periode zuwende.

Krise? Welche Krise?

Bisher haben wir nicht nur angenommen, dass in diesem Zeitraum ein Wechsel von einer Staatsform zu einer anderen stattfand, sondern auch, dass dieser als Ergebnis einer Krise der alten Ordnung eintrat, die dazu beitrug, die Bedingungen für das Auftauchen einer Reihe von neuen Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat zu schaffen.

Der Begriff ›Krise‹ selbst ist unter Analysten und Historikern ein Zankapfel. Manche erheben Einwände gegen seinen Gebrauch, da er davon auszugehen scheint, dass es einen entscheidenden historischen Wendepunkt gegeben habe und dass diesem etwas qualitativ anderes folgen musste. Andere sind grundsätzlich skeptisch gegenüber jedem allgemeinen Konzept, das versucht, eine Reihe komplexer historischer Trends mit dem Gebrauch einer einzigen solchen Verallgemeinerung zusammenzufassen. Sie würden seinen Gebrauch auf gewaltige historische Aufwallungen wie den englischen Bürgerkrieg und die Französische oder russische Revolution beschränken. Meiner Meinung nach wird der Begriff ›Krise‹ in Bezug auf einen Zeitraum durchaus zutreffend gebraucht, in dem ein signifikanter Bruch, Einschnitt oder Zusammenbruch der Prozesse oder Institutionen stattfindet, die die Basis für das Funktionieren einer Gesellschaft bilden. Eine Krise ist ein Einschnitt in die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Institutionen, die die Gesellschaft einen; oder die es ihr ermöglichen, sich auf derselben Basis wie zuvor zu erhalten und zu reproduzieren. In diesem Sinne wird der Begriff ›Krise‹ hier gebraucht.

 

Historiker unterschiedlicher Richtungen scheinen alle darin übereinzustimmen, dass das alte System in den 1880ern in eine solche Periode ernsthafter Schwierigkeiten eintrat. Sie stellen übereinstimmend fest: »Der plötzliche Wechsel von der führenden, dynamischsten Industriewirtschaft zur trägsten und konservativsten innerhalb von dreißig oder vierzig Jahren (1860/90–1900) bildet das Kernproblem der britischen Wirtschaftsgeschichte« (Hobsbawm 1969: 13). Ich würde sagen, dass es zur wirtschaftlichen Dimension der Krise vier Gedankengänge gibt:

1.Ein scharfer Rückgang in der wirtschaftlichen Leistung Großbritanniens: Preisdruck nach einem langen Hoch; Rückgang der Erträge; ein dramatischer Rückgang der Inlandsinvestition in die Manufakturproduktion; ein starker Rückgang der Hauptexportindustrien, die das Wachstum gestützt hatten. Die durchschnittliche Wachstumsrate in Großbritannien fiel von 3,6 Prozent in den 1860ern auf 2,1 in den 1870ern und 1,6 in den 1880ern.

2.Der Verlust der britischen Weltführung in Manufakturproduktion und Handel. Großbritannien wurde in diesem Zeitraum rasch von seinen sich industrialisierenden Rivalen überholt. Bis 1913 hatten sowohl Deutschland als auch die USA Großbritannien in den neuen chemischen Industrien, in der Elektrotechnik, bei Werkzeugmaschinen, Eisen und Stahl bezüglich Produktion und Export überflügelt.

3.Das langsame und schwerfällige Tempo, in dem Großbritannien bei der wirtschaftlichen Organisation auf eine modernere Basis überging (groß angelegte Produktion, neue Technologien etc.), auf der seine Rivalen sich industrialisierten. In diesen Ländern war die Industrie zunehmend konzentriert und in großen Konzernen oder Aktiengesellschaften zentralisiert; Fusionen und Zusammenschlüsse wurden geschaffen. Aus kleinen Familienunternehmen wurden größere Firmen und Wirtschaftseinheiten. Die Produktion wurde mehr und mehr auf Basis moderner ›Durchsatz-‹ und Fließbandverfahren organisiert, mit einer hochentwickelten Arbeitsteilung, einer viel größeren wissenschaftlichen und technischen Komponente pro Arbeiter, größerer Standardisierung und intensivierten Formen der ›wissenschaftlichen Verwaltung‹. Großbritannien bewegte sich langsam, sporadisch, ungleichmäßig und unvollständig in diese Richtung.

4.Die Kapitalbildung floss mehr und mehr aus der heimischen Produktion ab und in ausländische Investitionen und die Finanzierung des Handels. Die Überseeinvestitionen wuchsen von £ 1200 Millionen 1870 (als sie die heimischen Investitionen überholten) auf £ 4000 Millionen 1914 an, mit einem jährlichen Gewinn von £ 200 Millionen. Eine Auswirkung davon war, dass die ›imperialistische‹ Verbindung, die City und Finanz- und Versicherungsunternehmen gegenüber der Manufakturproduktion gestärkt wurden: Mit Wertpapieren und Aktien ›Geld zu machen‹ war der Ehrgeiz der neuen ›Plutokratie‹, im Gegensatz zum Unternehmen, dem sich die frühere Industriebourgeoisie gewidmet hatte – Dinge herzustellen. Großbritannien wurde aus der Werkstatt der Welt zu ihrem Finanzzentrum.

In seiner bahnbrechenden Studie über den Zeitraum 1910–1914 thematisierte George Dangerfield die eher politische Dimension der Gesellschaftskrise, wie der Titel seiner Studie The Strange Death of Liberal England (Der seltsame Tod des liberalen Englands) andeutet:

Ich bin mir natürlich bewusst, dass das Wort ›liberal‹ immer eine Bedeutung haben wird, solange auf der Welt noch eine Demokratie oder ein Überbleibsel einer Mittelschicht existiert; doch der echte Vorkriegsliberalismus – der sich, wie das noch 1910 der Fall war, auf den Freihandel, eine Mehrheit im Parlament, die Zehn Gebote und die Illusion des Fortschritts stützte – kann niemals zurückkehren. 1913 wurde er getötet oder tötete sich selbst. Und das ist auch gut so. (Dangerfield 1961: viii)

Dangerfield identifizierte den ›Bruch‹ mit zwei verwandten Faktoren: dem Kollaps der liberalen Partei – der politischen Formation, die die politische Szene über den gesamten Zeitraum der frühen Industrialisierung und den Aufstieg Großbritanniens zur weltweit führenden Macht auf der Basis des Freihandels stabilisiert hatte. Er bezieht sich jedoch auch auf die Auflösung des gesamten ideologischen Komplexes des Liberalismus. Dieser bezeichnet die Ideenströmung, mit der sich die breite Mehrheit der Menschen durch die ersten drei Viertel des Jahrhunderts ›gedacht‹ hatte. Der Liberalismus war der Fundus, aus dem die herrschenden Vorstellungen vom historischen Prozess geschöpft wurden.

Albert V. Dicey, der Apologet des viktorianischen Laissez-faire und ein bedeutender Professor der Rechtswissenschaft, lenkte in einem zu dieser Zeit veröffentlichten Buch, Law and Public Opinion in England (Recht und öffentliche Meinung in England), die Aufmerksamkeit auf das, was er als die große Verschiebung der ideologischen Auffassungen des klassischen Liberalismus weg von Staat und Rechtsprechung betrachtete:

Diese Meinungsströmung läuft seit etwa dreißig bis vierzig Jahren langsam immer stärker in Richtung Kollektivismus, mit der natürlichen Konsequenz, dass bis 1900 die Doktrin des Laissez-faire trotz des großen Anteils an Wahrheit, den sie enthält, ihren Griff auf das englische Volk mehr oder weniger verloren hatte. (Dicey 1963: xxxi)

Für Dicey war ›Kollektivismus‹ nur ein höflicher Ausdruck für ›Sozialismus‹. Er identifizierte das Ende des Laissez-faire mit dem Aufstieg der Arbeiterklasse zu politischer Macht, dem Verlust der Führung durch die liberalen Mittelschichten und dem wachsenden Einfluss eines fremden Glaubens – des Sozialismus.

Ein weiterer zentraler Aspekt dieser Periode ist das, was als ›Krise des Imperialismus‹ bezeichnet worden ist (Shannon 1974). Archibald P. Thornton (1959), einer der vielen Historiker des Imperialismus, stellte fest: »Er war eine Idee, die sich bewegte, eine Idee, die sich ausbreitete, eine Idee, die sich weiter bewegen und ausbreiten musste, um ihre Vitalität und Tugend zu bewahren.« Er wurde der Traum einer herrschenden Klasse; das Juwel in der Krone einer Monarchin (Queen Victoria – die ›große weiße Königin‹); der Rettungsanker einer nationalen Partei (die Basis für Benjamin Disraelis Bemühungen um einen populären Konservativismus). In Form eines ›Hurrapatriotismus‹ beflügelte er eine Zeitlang die Phantasie der Öffentlichkeit. Wir denken gewöhnlich bei ›Imperialismus‹ hauptsächlich an Großbritanniens Schicksal als koloniale und imperiale Nation im Ausland. Und tatsächlich intensivierte sich in dieser Zeit die Rivalität europäischer Nationen um die endgültige Aufteilung kolonialer Territorien und Märkte, die manchmal höflich mit ›Wettlauf um Afrika‹ umschrieben wird. Dennoch bezog sich ›Imperialismus‹ zu dieser Zeit immer sowohl auf die internationale als auch auf die innenpolitische Bühne. Seine politische Bedeutung entstand eben aus der Tatsache, dass er beide betraf. Er verknüpfte den Traum von einer großen imperialen Weltformation und das Versprechen einer geschützten Handelszone für britische Produkte mit der Vorstellung von einem Tauschgeschäft der Vorteile des Empire gegen nicht-sozialistische ›soziale Reformen‹ für die Arbeiterklasse im Inland. Paradoxerweise erlebte die imperiale Idee in diesem Zeitraum ihren Höhepunkt, er ist aber auch der Anfang der Krise des Imperialismus.