Populismus, Hegemonie, Globalisierung

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Aufgrund dieser inneren Spannungen zwischen verschiedenen und sich überlagernden Quellen der Macht und der Autorität, befand sich der feudale Staat also ständig in einer Zerreißprobe. Die Monarchie trachtete danach, sich als eigenständige Autorität hervorzuheben. Die Lords hingegen nutzten ihre Ländereien und ihre lokale militärische Macht, um die tendenzielle Zentralisierung der königlichen Autorität zu kontrollieren. Der feudale Monarch war daher kein ›Souverän‹, sondern nur ein Suzerän: ein besonders begrenzter Typ der säkularen Autorität.

Innerhalb dieses lose verknüpften Gefüges des Feudalismus tauchten konkurrierende Zentren der Macht mit einem deutlich andersartigen Herrschaftssystem auf. Die Städte standen aufgrund ihrer privilegierten Rechte außerhalb des klassischen feudalen Systems. Sie hatten eine andere soziale und politische Struktur, da sie von Handel und Handwerk dominiert wurden und weil sie Finanzzentren waren. Mittelalterliche Städte waren »Inseln im Meer des Feudalismus« (Pirenne 1969), mit einer großen und wohlhabenden Klasse an Kaufleuten, ausgebildeten Handwerkern, Kunstgewerblern und Lohnarbeitern. Die größeren Städte bildeten ein autonomes Herrschaftssystem heraus – wie bei der italienischen Kommune –, das auf dem Loyalitätseid einer ›Gemeinschaft‹ gleicher Bürger gründete. Die führenden Bürger erhielten das Recht, die Stadt als Körperschaft im Rahmen der Stadtverfassung selbst zu verwalten. Innerhalb der Städte setzte sich ein Repräsentationssystem entlang des Besitzstandes durch: die höheren Statusgruppen – Geistlichkeit, Adel und die Elite der Bürger – hatten Repräsentationsrechte. Jenseits davon bildete sich eine Vielzahl besitzständisch besetzter Versammlungen und Parlamente, Reichstage und Stadträte heraus, die mit dem Herrscher oder den führenden Familien einer Stadt und des sie umgebenden Territoriums in Verbindung standen. Die großen Städte Norditaliens und Flanderns waren Beispiele dieses gesellschaftlichen Entwicklungstyps im späten Mittelalter. Die ›Bürger‹ waren die Vorreiter dieser Klasse, die erstmals in den mittelalterlichen Städten wirkungsvoll Macht ausübten und die Basis einer aufkommenden ›bourgeoisen‹ städtischen Klasse formen sollten.

Die Kirche war über das gesamte Zeitalter hinweg die wichtigste konkurrierende Machtinstanz für die feudale Aristokratie. Sie verfügte über großen Reichtum und institutionelle Macht, setzte eine Art konkurrierendes Netzwerk innerhalb von und zwischen Staaten ein, beanspruchte religiöse Herrschaft: all dies trieb sie an, mit den säkularen feudalen Strukturen zu wetteifern – mit Königen, Prinzen, Herzögen und mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches selbst. Die Kirche errang die Ansprüche einer höheren Autorität in säkularen wie in religiösen Angelegenheiten, denn, wie Augustinus darlegte: was sonst ist die Geschichte der Kirche als »der Marsch Gottes in der Welt« – eine Ansicht, die säkulare Herrscher weit unter Christus’ Vikaren auf Erden und ihren religiösen Agenten einordnete. Vom 12. Jahrhundert bis zur Reformation, bevor der universelle Machtanspruch der Katholischen Kirche verfiel und ›nationale‹ Kirchen in Verbindung mit stärkeren und einheitlicheren nationalen Monarchien entstanden, herrschte ein unendlicher Kampf zwischen dem Papsttum und den weltlichen Herrschern über die Grenzen des Religiösen und Säkularen. Der Anspruch des Papsttums auf eine einzige und souveräne religiöse Macht provozierte auf der anderen Seite die Forderung der Monarchie nach einer uneingeschränkten, unabhängigen, säkularen Autorität. Letzteres war der Keim der modernen Auffassungen von Souveränität.

Absolutismus

In der Krise des Feudalismus zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert tauchte aus den Trümmern mittelalterlicher Institutionen eine neue Staatsform auf, die in jenen unabhängigen, national vereinten Renaissance-Monarchien in Ländern wie Frankreich, Spanien und England verankert ist: der moderne Absolutismus. Dies bezog die Stärkung einer einheitlichen territorialen Herrschaft mit ein; die Einnahme schwächerer und kleinerer Territorien durch stärkere und größere; die Verschärfung des Rechts, der Ordnung und der Sicherheit im ganzen Königreich; die Anwendung einer mehr »zentralistischen, dauerhaften, berechenbaren und effektiven« Herrschaft, mit ihrer Macht, die sich auf einen einzigen, souveränen Kopf fokussiert (Poggi 1978: 61). Mehrere Faktoren trugen zu seinem Aufstieg bei: der Niedergang der feudalen Leibeigenschaft; die Umwandlung feudaler Abgaben in Geldzins; die Ausweitung von Markt und Handel; die Verdrängung feudaler Militärverpflichtungen durch anwachsende, neue, professionelle, stehende Heere; die zunehmend zentrale und beständige Steuererhebung durch den Staat (was wiederkehrende Aufstände der Armen gegen die Steuereintreiber provozierte).

Der absolutistische Staat ist der Übergang zwischen den vielen Variationen des feudalen Staates und dem ›bürgerlichen‹ Verfassungsstaat, der sich – zuerst in England – im 17. und 18. Jahrhundert herausbildet. Innerhalb des Absolutismus untergruben die Entwicklungsbewegungen des Handels, des Marktes und des Kapitals die dichten lokalen Strukturen des Feudalismus und schufen einheitlichere, staatsweite, nationale Ökonomien. Die territorialen Grenzen stimmten zunehmend mit den Grenzen überein, innerhalb deren der Staat ein einheitliches System des Rechts, der Ordnung und der Verwaltung effektiv durchsetzen konnte. Der ›Merkantilismus‹ stieg zur dominanten ökonomischen Doktrin des Absolutismus auf und legitimierte eine leitende Rolle des Staates und der Krone in Handelsunternehmen. Diese Staaten nahmen demzufolge zunehmend einen ›nationalen‹ Charakter an – wie der Protonationalismus des elisabethanischen Englands. Beziehungen zwischen Staaten ermöglichten »die Installierung eines verbindlichen Regeln verpflichteten zwischenstaatlichen Informationsaustauschsystems, mit dessen Hilfe entsprechender Druck ausgeübt werden konnte« (Anderson 1979: 47), fortdauernd gefestigt mittels formaler Diplomatie und dynastischer Heiratsallianzen – obwohl Anderson uns daran erinnert, dass der »lange Umweg über die Heirat […] vielfach direkt zum kurzen Weg des Krieges zurück« führte (48). Die staatlichen Bürokratien wurden um Ämter erweitert, die mit aufstrebenden Adelsfamilien und anderen Angehörigen des Hofes besetzt wurden. Wechselnde Allianzen bildeten sich im Verhältnis zur Krone heraus und um. Der Adel suchte Ämter und Vorteile am Königshof. Absolute Monarchien nutzten zeitweise diesen Adel, zeitweise forcierten sie Allianzen mit anderen Elementen – z. B. mit merkantilen Klassen – als eine Möglichkeit, die Macht des Adels zurückzudrängen. Aber diese Höfe waren Beigaben der Herrschaft des Monarchen, nicht Mitwirkende an der Herrschaft. Der absolutistische Herrscher »herrschte von seinem Hofe aus, nicht vermittels des Hofes«; und das Recht wurde nicht »eine Rahmenordnung für Herrschaft«, sondern vielmehr »ein Werkzeug der Herrschaft«, angepasst an die souveräne Macht des Thrones (Poggi 1978: 70).

Im 16. Jahrhundert besiegelte Jean Bodin diese Entwicklung mit der Doktrin vom »göttlichen Recht der Könige«. Partnerschaftliche Herrschaft zwischen Monarch und Volk, eingeschrieben in die Ständeordnung im späten Feudalismus, verwelkte unter dem Absolutismus. In Frankreich wurden die Generalstände zwischen 1614 und 1789 nicht einbestellt, und ihre Einberufung löste den Prozess aus, der in die Französischen Revolution mündete. In England führten die Herrschaftsweisen der Stuart-Könige und ihre Steuererhebungen ohne Einwilligung des Parlaments zur Englischen Revolution der 1640er Jahre.

Verfassungsstaat oder Vertragsstaat

Gerade weil er jedes Element der Herrschaft innerhalb eines säkularen Zentrums vereinigte und konzentrierte und auch Anspruch auf eine absolute Herrschaft erhob, die säkular und national war, half der Absolutismus einen Pfad zum ›bürgerlichen‹ Verfassungsstaat zu bahnen oder einen Weg dorthin vorzubereiten. In England (wo der wesentliche Konflikt im 17. Jahrhundert aufbrach) und Frankreich (später, am Ende des 18. Jahrhunderts) wurden Teile des niederen Landadels neben entstehenden Händler-Klassen, städtischen Handwerkern und Arbeiterklassen in einen ›vermischten‹ Streit gegen die Ansprüche des Absolutismus, die Macht des Hofes und die Starrheit des Merkantilismus hineingezogen. Die Expansion des Handels dieser neuen ›Nationalstaaten‹ untergrub den Absolutismus. Als Folge der Aufstände gegen dieses Ancien Régime beschleunigte sich die moderne bürgerliche Entwicklung. Am Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich die britische Ökonomie durch das Anwachsen der marktförmigen Landwirtschaft und Lohnarbeit, das ungebremste Wirken der Gesetze des ›freien Marktes‹, den sich ausdehnenden Verkauf und Erwerb von Grund und Boden, die vollständig ausgeformten Auffassungen von Privateigentum, die allgemeine Auflösung einer alten ›moralischen Ökonomie‹ und die Vorherrschaft eines agrarischen Kapitalismus. Eine neue Art von bürgerlicher Zivilisation begann sich zu manifestieren. Die Klassen waren mit dieser Entwicklung eng verbunden – die merkantilen Klassen, aber auch Teile der Klasse der Grundeigentümer, die ihr Eigentum zunehmend als ›fixes Kapital‹ einsetzten; sie traten als neue, machtvolle soziale Gebilde in der Gesellschaft auf. Aufgrund ihrer Vorherrschaft in der ›Zivilgesellschaft‹ nahmen sie allmählich eine dominierende Position im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ein. Dann begannen sie für eine Beteiligung an Staatsmacht und Herrschaft zu kämpfen. Die Prinzipien des Marktes und des Vertrages, die die Grundlage ihres wachsenden Wohlstandes bildeten, wurden zum ersten Mal die Metapher für eine neue Auffassung vom Staat: ein Vertragsstaat, in dem Macht geteilt wurde; das Recht der oberen und mittleren Schichten der Gesellschaft, neben dem Herrscher an der Macht zu partizipieren, wurde durch die Verfassung garantiert und formalisiert.

 

Der lange Prozess hin zu einer Ausweitung der Basis des Gesellschaftsvertrages wurde im Zuge der Revolution von 1644 und der parlamentarischen Phase in England initiiert und mündete in eine gemäßigte und gemischte Form der ›parlamentarischen Monarchie‹. Unter den Bedingungen dieses konstitutionellen Systems fand die Industrialisierung statt. In den finalen Stadien richteten sich die Kämpfe auf die Ausweitung des Wahlrechts und die Schaffung eines umfassend demokratischen Staates im 19. Jahrhundert. In Frankreich zog sich der Niedergang des Absolutismus lange hin. Als er dann erfolgte, waren die popularen Klassen – die wirklichen Außenseiter in dieser langwierigen Verschiebung der Macht – direkt in die Kämpfe involviert und das ›Reform‹programm nahm folgerichtig seine ›radikalste‹ Form mit der jakobinischen Forderung nach »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« an. Diese wurden eher von kapitalistischen denn von feudalen Formen ökonomischer und politischer Verhältnisse dominiert, mit einem neuartigen Typ von Gesellschaftsstruktur und einem ganz anderen Gleichgewicht zwischen verschiedenen Klassen; sie wirkten im Geiste neuer Auffassungen von Herrschaft, Autorität und Macht und entwickelten neue, ›vertragliche‹, liberale und verfassungsmäßige Formen der Herrschaft. Das markierte den Anfang der ›bürgerlichen‹ Revolutionen und führte an die Schwelle zum ›modernen Staat‹.

Entwicklung des modernen Staates

Es ist schwierig, die Ursprungsidee eines modernen Staates genau zu datieren, da das Wort ›modern‹ offen für verschiedene Interpretationen ist. Die nützlichste Definition bezieht sich nicht auf einen chronologischen Zeitraum, sondern auf das Auftauchen von bestimmten Merkmalen des Staates, die in zeitgenössischen Gesellschaften noch erkennbar sind. Diese Merkmale beschreiben Staaten, in denen Macht geteilt wird; in denen die Rechte auf Partizipation an der Regierung rechtlich oder verfassungsmäßig legitimiert sind; in denen Repräsentation umfassend, Staatsmacht vollständig säkular und die Grenzen nationaler Souveränität eindeutig bestimmt sind. Eine Staatsform dieses Typs tauchte sehr ungleichzeitig innerhalb Europas auf. Er manifestierte sich in Großbritannien bereits im 18. Jahrhundert, während er in Deutschland vor dem Ende des 19. Jahrhundert nicht anzutreffen war.

In Großbritannien bildete sich der klassische liberale Staat als Folge der parlamentarischen Zwischenregierung und des ›Großen Kompromisses‹ von 1688 während des 18. Jahrhunderts bis weit hinein ins 19. Jahrhundert heraus. Dies umfasst die Zeitspanne des agrarischen und frühen industriellen Kapitalismus und Großbritanniens Aufstieg zur Vormacht als Handels- und Produktionsmacht. Die zwei Bereiche sind organisch miteinander verbunden: Aufgrund der Forderungen der aufstrebenden Klassen, die mit dieser ökonomischen Entwicklung verbunden waren, war der Staat gezwungen, einen liberaleren und rechtsstaatlichen Pfad einzuschlagen. Diese Form des Staates wurde als ›liberal‹ bezeichnet: a. im Gegensatz zu den Rigiditäten des Ancien Régime und b. wegen seiner wesentlichen Funktion, die ›Rechte und Freiheiten‹ des Individuums zu garantieren. Die Organisationsprinzipien, die dem Handel und dem Gewerbe zu expandieren ermöglichten – der Freihandel, die Gesetze des Marktes und des Vertrages –, waren auch die Prinzipien, die die Beziehungen zwischen Staat und Individuum neu formierten. Individuen gingen mit dem Staat einen ›Gesellschaftsvertrag‹ ein, im Austausch für die Verteidigung ihrer Rechte und Freiheiten, die sie als ›natürlich‹ erachteten. Das macht die Individuen zum a priori des Staates, nicht umgekehrt. Diese Rechte sind sehr besondere: das ›Recht‹, Arbeitskraft zu kaufen und zu verkaufen; Privateigentum zu besitzen und darüber zu verfügen; ›frei zu handeln‹, außer jemand bevorzugt den Rechtsweg; (insbesondere vom Staat) ›unbehelligt eigene Privatgeschäfte zu tätigen‹; ›sein Zuhause als seine Burg zu verstehen‹.

Einmischung in diese Freiheiten können nicht mehr aus Lust und Laune der Krone oder des Staates erfolgen, sondern müssen rechtlich genehmigt sein. Selbst der Staat war dem Gesetz unterworfen, d. h. Herrschaft durch das Recht oder ›Rechtsstaatlichkeit‹. Der liberale Staat musste stark sein, um das Leben und das Eigentum der Individuen zu beschützen, um frei abgeschlossenen Verträgen Geltung zu verleihen und die Nation gegen äußere Angriffe zu verteidigen. Aber dieser Staat musste sich auch zurücknehmen und nicht in zu viele Bereiche intervenieren. Insbesondere sollte er sich aus ökonomischen Transaktionen heraushalten und sie dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen (die Wurzel der Doktrin des Laissez-faire).

Dieser ›liberale kapitalistische‹ Staat war freilich keine Demokratie. Die Mehrheit durfte nicht wählen, sich nicht frei versammeln, nicht veröffentlichen, nicht Mitglied einer Gewerkschaft werden, als Andersgläubige kaum einen Posten annehmen. Frauen durften weder wählen noch über Eigentum verfügen. Die Kämpfe der Mehrheit des gemeinen Volkes und der Arbeiterklassen, um diese politischen und Bürgerrechte für sich zu erlangen, bildeten die Grundlage der Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts. Sie veränderten zwar nicht die grundlegende Form des liberalen Staates, modifizierten ihn aber erheblich, indem sie seine Repräsentationsbasis und seine demokratische Substanz erweiterten. Am Ende wurde die ›Demokratie‹ in den liberalen Staat eingepasst, um jene hybride Variante zu schaffen, die vom klassischen Liberalismus unterschieden werden muss: den liberal-demokratischen Staat. In den letzten Jahren des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg wuchs der Wettbewerb zwischen den sich industrialisierenden Weltmächten: das war ein Gerangel zwischen den imperialen Mächten. Großbritannien verlor seine führende Wettbewerbsfähigkeit: andere Nationen industrialisierten schneller und überholten die Briten. Es gab einen neuen Antrieb, die britische Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die Gesellschaft zu modernisieren und sie ›effizienter‹ zu machen. Zusehends wurde das Argument gestärkt, dass der liberale, minimalistische, Laissez-faire-Typ des Staates diese Aufgabe nicht erfüllen könne. Großbritannien brauchte einen stärker steuernden, interventionistischen Staat, der in der Lage war, organisch im Interesse der ganzen Gesellschaft zu agieren und zu planen.

Dieser Schritt zum Kollektivismus wurde aus zwei Richtungen verstärkt: Unterstützung kam von den herrschenden Klassen im Namen einer größeren ›nationalen Leistungskraft‹; und auch von den arbeitenden Klassen, den Armen und den Arbeitslosen, weil sie glaubten, dass dem Industriekapitalismus nur durch den Staat Reformen auferlegt werden können, die ihre Lebensverhältnisse verbessern und weitergehende ökonomische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit herstellen würden. Den Egalitarismus vertretende Bewegungen und Sozialisten sehr verschiedener Couleur forderten dementsprechend eine erweiterte Rolle für den Staat. Die Reformer glaubten, dass es ohne Staatsintervention niemals eine angemessene Versorgung für die Armen, die Arbeitslosen, die Alten und die Kranken geben werde. Die Sozialisten argumentierten, dass der Wohlstand ohne Staatsintervention niemals gerechter geteilt werde. Die Arbeiterbewegung engagierte sich zu dieser Zeit für ›gesellschaftliches‹ (praktisch Staats-) Eigentum und für die Kontrolle der Leitungspositionen der Wirtschaft. Im Großen und Ganzen waren es die evolutionären und reformistischen Versionen dieser Programme, die in der britischen Arbeiterbewegung institutionalisiert wurden.

Kollektivistische Staatspolitik wurde nur langsam und ungleichmäßig umgesetzt. Trotz Anstrengungen in dieser Richtung zwischen 1906 und 1911 und zwischen den Weltkriegen erreichten diese ›reformistischen‹ Tendenzen ihren Höhepunkt erst mit dem Nationalisierungsprogramm und den sozialstaatlichen Maßnahmen der Nachkriegs-Labour-Regierung im Jahre 1945.

Die ›Entstehung‹ des Wohlfahrtsstaates wird mit Recht den reformerischen Sozialprogrammen der Liberalen Regierung von 1906 – 1911 zugeschrieben; aber seinen Höhepunkt erlebt er in der Zeit der Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er Jahren wurde zuerst Großbritannien und in Folge auch alle anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften ›Wohlfahrtsstaaten‹. Diese Tendenz wurde selbstredend von denen abgewehrt, die eine ›liberale‹ Auffassung von Staat gefährdet sahen, und von denen, die glaubten, dass sie ›überbesteuert‹ werden, um solch einen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Aber die Versorgungsempfänger – die Volksmehrheit – sahen ihn positiver. Die Basis für eine ›Nachkriegs-Vereinbarung‹ über den grundlegenden politischen Rahmen für die britische Nachkriegsgesellschaft ergab sich aus der stillschweigenden Übereinstimmung zwischen den zwei wichtigsten politischen Kräften. Dieser Konsens umfasste staatlich unterstützte oder finanzierte Wohlfahrt, Leistungen, Wohnungen, Bildung; ebenso Vollbeschäftigung und eine bedeutendere Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik (um die Katastrophen der Zwischenkriegsperiode zu vermeiden). Die ›Vereinbarung‹ wurde unter dem Namen ›Butskellism‹ bekannt: Gaitskell (Vorsitzender der Labour-Partei) und Butler (Anführer der Reformer der Tory-Partei), die die politische Aushandlung leiteten, waren auch Namensgeber der Vereinbarung. Nachträglich wurde sie auf ihren Chefberater Keynes zurückgeführt. Bildeten die politischen Reformen des 19. Jahrhunderts den ersten Schritt des Reformismus, der den liberalen Staat modifizierte, war Wohlfahrt der Folgeschritt: die Erweiterung der ›Bürgerschaft‹, die bestimmte soziale und ökonomische Rechte erhielt, und das Ende eines rigorosen Laissez-faire – genauso wie das beträchtliche Anwachsen des staatlichen Verwaltungsapparates.

Wir müssen dieser Entwicklung die Auswirkungen gegenüberstellen, die die diversen zur selben Zeit in Europa auftauchenden radikalen Tendenzen auf die politischen Einstellungen und Wahrnehmungsweisen in Großbritannien hatten. Evolutionärer, reformistischer Kollektivismus gipfelte im Wohlfahrtsstaat. Revolutionärer Kollektivismus gipfelte in der Herausbildung kommunistischer Staaten: die bolschewistische Revolution in Russland im Jahr 1917; die Entstehung des kommunistischen China in den 1940er Jahren; und die Ausbreitung dieses Regime-Typs innerhalb Osteuropas nach dem Krieg, weitgehend im Schatten sowjetischer Okkupation. In diesem Modell ›übernehmen‹ der Staat und die Politik das ›Kommando‹. Der Staat absorbiert die wesentlichen Funktionen der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft und nimmt ihre positive Transformation in Angriff. Er führt ein Regime der nationalen Mobilisierung und strengen Reglementierung ein. Insbesondere das letzte Merkmal diskreditierte das Image des Kollektivismus in Großbritannien.

Parallel hierzu erfolgte der Aufstieg des faschistischen Staates: Mussolini in Italien, Hitler in Deutschland, Franco in Spanien, Salazar in Portugal. Paradoxerweise scheinen faschistische und kommunistische Staaten gemeinsame Merkmale zu teilen: sie sind Ein-Parteien-Staaten; sie sind diktatorisch in ihrer Form, ›faschistische Gewaltherrschaft‹ versus ›Diktatur des Proletariats‹. Diese Merkmale, die beide Staatsformen trotz ihrer radikalen Unterschiede in Politik und Ideologie teilen, erlaubten es Orwell, beide in einem gemeinsamen Modell zu synthetisieren: ein Bild vom Totalitarismus, das von da an die liberale Vorstellungswelt heimsuchte und nach 1947 im Zuge des Kalten Krieges zu einem Mahnmal erstarrte. Das ist der Moment, da die ›aufsteigende Kurve‹ der positiven Einstellung gegenüber dem Staat einen großen Umschwung erfuhr und unmerklich in eine ›absteigende Kurve‹ überging.

Diese Entwicklungsrichtung gewinnt im Lichte der 1960–70er Jahre an Kontur: Vorrangig unter ›sozialdemokratischen‹ (z. B. Labour-) Regierungen – aber nicht unähnlich unter konservativer Regierungsführung – wurde der liberal-demokratische Staat zunehmend ein interventionistischer. Dieser beteiligte sich an allen Sphären des Lebens. Er etablierte ein aktives Auftreten in der verbotenen Sphäre der Ökonomie. Der Staat besaß nun staatliche Unternehmen, war verantwortlich für die nationale Wirtschaftspolitik, übernahm die Feinabstimmung der Wirtschaft durch fiskalische und andere ›keynesianische‹ Maßnahmen, regulierte Einkommen und Löhne und stärkte eine alternative Form der Entscheidungsfindung jenseits des Parlaments – den Prozess einer korporatistischen Aushandlung zwischen Staat, Kapital (CBI) und Arbeit (TUC). Die Ausdehnung des Staates in die ganze Fabrik der Zivilgesellschaft und des Privatlebens hinein gehörte par excellence in diese Zeit.

Hier brechen die Sichtweisen über den modernen liberalen, demokratischen Staat auf und polarisieren sich. Reformisten stützten grundsätzlich die erweiterte Rolle des Staates als ein Instrument für mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit. Einige ›Rationalisierer‹ glaubten, dass ein ›großer Staat‹ notwendig sei, um die komplexe Ökonomie und eine entwickelte Gesellschaft zu koordinieren. Andere Theoretiker wiederum waren der Ansicht, der fortgeschrittene Kapitalismus könne nicht überleben, ohne in eine Partnerschaft mit einem mächtigen Staat zu treten (›staatsmonopolitischer Kapitalismus‹). Sozialdemokraten sahen sich bestätigt, dass der Staat genutzt werden kann, um die ärgsten Effekte des kapitalistischen Wettbewerbs auszugleichen, ohne das System zu zerstören.

 

Andere wiederum wendeten sich energisch gegen die korporatistische Entwicklung insgesamt. Als die günstige britische Wirtschaftskonjunktur in den 1960er Jahren zu wanken begann, und noch entscheidender, als die weltweite kapitalistische Rezession sich ab der Mitte der 1970er Jahren vertiefte, war der interventionistische Staat weitreichender Kritik ausgesetzt. Er sei ineffizient und vergeuderisch: ein ›Verschwendungs‹-Staat. Zu viel Wohlfahrt, so wurde behauptet, habe die moralische Grundhaltung der Nation ausgehöhlt: der ›Versorgungs‹-Staat. Er wecke Erwartungen, die er nicht halten könne: der unregierbare Staat. Er stelle eine Bedrohung für die Rechte und Freiheiten des Individuums dar: ›schleichender Totalitarismus‹.

Was stattdessen vorgeschlagen wurde, war eine Umkehrung der bisherigen Entwicklung: Vorteil aus der Krise ziehen, um den ›Staat zurückzudrängen‹. Daher die Vorschläge, die Staatsintervention einzudämmen, Staatsbürokratie und öffentliche Ausgaben zu beschneiden, den Sozialstaat abzubauen, die staatlich geführten Unternehmen in die Privatwirtschaft zurückzuführen (›Privatisierung‹), den Trend zum Kollektivismus zu brechen, die Macht der Gewerkschaften zu begrenzen, den wettbewerbsorientierten Individualismus wieder zu stärken und die Doktrinen des Wirtschaftsliberalismus, die das Programm der ›Neuen Rechten‹ prägten, wieder durchzusetzen. In den 1980er Jahren wurde dieses Programm zum vorherrschenden Leitbild in Großbritannien. Es kennzeichnet eine Bewegung zur Restauration des Ideals vom klassischen liberalen Staat, aber unter den Bedingungen des Spätkapitalismus im 20. Jahrhundert: deshalb der neoliberale Staat.

Diese schematische Darstellung fokussiert auf eine außergewöhnliche historische Abfolge. Sie entwirft eine besondere Entwicklungslinie hinsichtlich des modernen ›großen Staates‹. Sie verdeutlicht, warum die Frage nach dem Staat wieder zum Kernpunkt in den Auseinandersetzungen der britischen Politik und in anderen liberalen Demokratien wurde.

Einige grundlegende konzeptionelle Auffassungen

Quentin Skinner (1978) erkannte in seiner Untersuchung The Foundations in Modern Political Thought, dass zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Vorstellung vom Staat – sein Wesen, seine Macht und sein Recht, Gehorsam zu verlangen – zum wichtigsten Objekt der Analyse im europäischen Denken wurde. Er identifizierte diesen Moment bei Hobbes, der sich in seinem Werk einer »ernsthafteren Untersuchung der Rechte des Staates und der Pflichten seiner Untergebenen« zuwandte. Im 17. Jahrhundert »können wir sagen, dass die moderne Welt betreten wird: die moderne Theorie des Staates muss erst noch entworfen werden, aber ihre Fundamente liegen vollständig vor« (349). Welche Merkmale und Charakteristiken des Staates lassen Skinner dies behaupten?

Das erste Element ist die Auffassung von ›der Macht‹ des Staates – ›sein Recht, Gehorsam zu verlangen‹. Natürlich, Staaten haben auch Pflichten gegenüber ihren Bürgern, z. B. ihr Leben und Eigentum zu schützen oder sie gegen äußere Angriffe zu verteidigen. Und Bürger haben normalerweise auch Rechte; obwohl diese vom einen zum anderen Staatstyp beträchtlich variieren. Aber Hobbes’ Betonung liegt auf Ersterem. Der Staat sei selbst eine Macht – die hauptsächliche und höchste Autorität – im Land. Und er übe diese Macht aus, indem er uns seine Herrschaft auferlege und von uns Gehorsam verlange. Der Staat habe viele andere Funktionen, aber im Wesentlichen gehe es beim Staat um Herrschaft.

Herrschaft kann viele Formen annehmen – Monarchie, Demokratie, Diktatur etc. Aber wo auch immer der Staat der Souverän ist – die höchste Autorität –, schließt dies die Unterwerfung seiner Untergebenen unter die Macht des Staates mit ein: es geht um ihre Beherrschung. Selbst in modernen Demokratien, in denen der ›Volkswille‹ angeblich der Souverän ist, bildet die Regierung, ursprünglich geformt und verantwortlich für die Maschinerie des Staates, eine Macht ›von oben‹, separat vom ›Volk‹, das half, diese zu formen.

Die Konzeption des modernen Staates bedingt demnach immer auch eine Vorstellung von Macht. Staatsmacht kann auf unterschiedliche Weise ausgeübt werden. Die Gesellschaft zu verwalten ist ein Teil der ›Macht‹ des Staates, so wie es auch die Kontrolle der Gesellschaft ist. Weiter gefasst kann ›Staatsmacht‹ als die Verdichtung dieser verschiedenen Weisen und Prozesse der Macht in einem Herrschaftssystem verstanden werden.

Demnach ist das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft seiner Form nach hierarchisch. Jemand oder eine Macht ›von oben‹ setzt die Regeln des Spiels für uns ›dort unten‹ fest. In einigen Fällen mit unserer Einwilligung, in anderen Fällen ohne sie; aber trotzdem richtet sich der Druck der ausgeübten Staatsgewalt nach unten. Dies schließt die Macht ein, Grenzen zu setzen, Zwänge durchzusetzen wie auch direkt zu intervenieren. Regeln erlauben es, gewisse ›Bewegungen‹ durchzuführen – und wieder andere auszuschließen: andernfalls hätten wir keine Verwendung für sie. Sie ordnen und organisieren ›das Spiel‹ und sie bestimmen die Norm und die Abweichung. Der Staat umgrenzt die Regeln der Gesellschaft (Legislative) und wendet sie an (Exekutive). Ein Teil dessen, was Herrschaft umfasst, muss folglich die Aufrechterhaltung einer gewissen Art von Ordnung sein, wie die Gesellschaft sich verhält. Der Staat muss, sollte sonst alles misslingen, über die Macht oder Fähigkeit verfügen, seinen Willen zu erzwingen. Wie Hobbes bemerkte: »Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit […] sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlasst, unseren natürlichen Leidenschaften entgegensetzt […]. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, alle Menschen auch die geringste Sicherheit zu bieten.« (1984: 131)

Die Macht des Staates schließt folglich den Einsatz von Gewalt ein, um die Anpassungen an seine Regeln, Gesetze und Regulierungen zu erzwingen. Zwang ist in keinem Fall das einzige Mittel, mit dessen Hilfe der Staat regiert. Historisch betrachtet hat bislang keine Form des modernen Staates vollständig auf Gewalt und Zwang verzichtet. Theoretiker überhöhen stellenweise die Bedeutung der Zwangsgewalt des Staates, weil sie davon ausgehen, dass der Staat nichts anderes als ein Mittel zum Zwang ist. Tatsächlich finden wir im Geschichtsverlauf nur sehr wenige Fälle, in denen der Staat beliebig lange ausschließlich durch die Anwendung nackter Gewalt regiert hat. Zwang und Konsens schließen einander nicht aus, sondern sind komplementär. Selbst in Militärdiktaturen, wie z. B. unter General Pinochet in Chile, bemühte man sich letztlich, einen Teil der ›Herzen und Köpfe‹ des Volkes zu gewinnen. Andererseits verzichtet kein Staat – selbst der demokratischste – auf seine Zwangsgewalt als eine Stütze, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, die Kriminalität zu bekämpfen, das Land zu verteidigen und die Einhaltung der Landesgesetze abzusichern. Der Soziologe Max Weber stellte fest: »Gewaltsamkeit [ist] weder das einzige noch auch nur das normale Verwaltungsmittel. […] Aber ihre Androhung und, eventuell, Anwendung ist allerdings […] [ein] spezifisches Mittel«, das den Staat kennzeichnet (1976: 29).