Buch lesen: «Der Krimi in Literatur, Film und Serie», Seite 4

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2.3 Konzeptionelle und kontextuelle Grundlagen

Auf die durchgreifenden Veränderungen von einer relativ homogenen hierarchischen mittelalterlichen Ordnung zu einer arbeitsteilig organisierten ‚Disziplinargesellschaft‘ (FoucaultFoucault, Michel) wurde bereits hingewiesen. Der Prozess der zunehmenden Individualisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft führt zu einem „allgemeine[n] Druck übermäßiger Komplexität und Kontingenz, der zum Aufbau interner Strukturen der Selbstmotivation, Informationsverarbeitung und Lernfreiheit“ (Luhmann 2016, 30) führen kann, aber nicht muss, schließlich sind „fremde Perspektiven“ durch „Unzuverlässigkeit“ gekennzeichnet (ebd.). Niklas LuhmannLuhmann, Niklas stellt weiter fest: „Dem anderen Menschen wird nicht nur das erwartete Verhalten, sondern ineins damit auch die dazu passende Erwartungshaltung zugemutet. Der andere soll sich nicht nur komplementär verhalten, er soll auch komplementär erwarten“ (Luhmann 2016, 34).

Die Entwicklung der (post-)modernen Gesellschaften hat folglich dazu geführt, dass Freiheit zunehmend als „eine zweischneidige Angelegenheit“ angesehen worden ist (Bauman 2003, 27). Dies betrifft auch das Rechtswesen: „Im Laufe des Vollzugs der neuzeitlich-bürgerlichen Gesellschaftsvorstellung werden die Normen der Moral kontingent, historisch, gesellschaftsabhängig und im Falle des Rechts durch Entscheidungen positiviert“ (Luhmann 2016, 96). Der Ständestaat wird von einer „neue[n] Ordnung“ abgelöst, „die in erster Linie in ökonomischen Begriffen definiert wurde“ (Bauman 2003, 10). Die Folge ist, dass Menschen ‚frei‘ auch in dem Sinn sind, dass dauerhafte Sozialbeziehungen und lineare Erwerbsbiographien die Ausnahme, soziale und berufliche Mobilität aber die Regel geworden sind. Dies führt zu Friktionen zwischen Wunsch und Wirklichkeit: „Die Selbstbehauptungsfähigkeiten individualisierter Menschen reichen in aller Regel nicht hin, um das zu erreichen, was man gemeinhin als Selbstkonstitution bezeichnet“ (Bauman 2003, 46). Zygmunt BaumanBauman, Zygmunt bringt es auch auf die Formel: „Die Freiheit kommt, wenn sie irrelevant geworden ist“ (ebd.).

Die scheinbare Vielfalt der Wahlmöglichkeiten hat Orientierungslosigkeit zur Folge:

Die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ist wie ein kaltes Büffet, dessen überladene Platten die Kapazität der stärksten Esser übersteigen. Die Gäste sind Konsumenten, und ihr größtes Problem ist die Auswahl bei der Speisenfolge, das sich auf die Entscheidung reduziert: Was sollte man weglassen? Das Problem ist nicht der Mangel, sondern das Überangebot der Auswahl. (Bauman 2003, 78)

Dies betrifft die Wahl von Lektüren wie die aller anderen Produkte ebenso wie die Wahl des Lebensstils, des Berufs, des Partners – soweit nicht ökonomische, soziale oder kulturelle Grenzen die Wahlmöglichkeiten stark einschränken und in bestimmte Bahnen lenken. Die Globalisierung hat die Macht der großen Konzerne und damit den Verlust des Vertrauens in frühere Strukturen gefördert. Richard Sennett fasst es so zusammen: „Das Fehlen von Vertrauen kann auch durch die flexible Ausübung von Macht entstehen“ (Sennett 2010, 195).

Diese Entwicklung zu einer auf Kontingenz gestellten Gesellschaft hat zu zwei Gegenbewegungen geführt. Die erste begreift, wie dies Wolfgang WelschWelsch, Wolfgang gezeigt hat, Pluralität als große Errungenschaft dieser Entwicklung (Welsch 2002, 6). Sie setzt auf Kritikfähigkeit mündiger Bürger, auch bei der Auswahl und Lektüre der (massen-)medialen Angebote: „Postmoderne Auffassungen des Ich, wie zum Beispiel die Salman Rushdies, betonen Bruch und Konflikt, aber nicht die Kommunikation zwischen den fragmentierten Teilen des Ich“ (Sennett 2010, 198). Wenn aber die Verbindungen zwischen den „fragmentierten Teilen des Ich“ der Einzelne selbst herstellen muss, also eine starke Individualität gefordert ist, wird es problematisch – denn woher sollen die Angebote kommen, eine solche Stärke zu erlangen?

Die zweite kultiviert ideologische, teils auch totalitäre Vorstellungen, die es ermöglichen, die Kontingenz scheinbar zum Verschwinden zu bringen. Matthias DrobinskiDrobinski, Matthias hat es 2012 in der Süddeutschen Zeitung so formuliert: „Ob Christen, Juden, Muslime, Tierschützer oder Nichtraucher – unter ihnen allen gibt es einen Glauben, der weltweit die höchsten Zuwachsraten hat: den Fundamentalismus. Er ist der höchstpersönliche Ausweg aus der Individualismusfalle“ (Drobinski 2012). Solche Angebote sind deshalb verführerisch, weil sie den Menschen die Wahlentscheidungen und somit das Denken abnehmen. Die Übernahme von Mustern genügt, denn diese enthalten Handlungsdirektiven und basieren auf Versprechungen, die aber, weil sie der komplex gewordenen Realität entgegenstehen, illusorisch sind und bleiben. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb haben Illusionen, die für Realität gehalten werden können, Konjunktur. Es hat schließlich Tradition (vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis zum Wahlprogramm der AfD), Authentizität zu suggerieren, die es nicht gibt (vgl. Bhabha 2007, 179), und das historische Gedächtnis (das zeigen würde, dass alles nicht einfach da, sondern Ergebnis von Kontingenz geprägter Entwicklungen ist) auf diese Weise zum Verschwinden zu bringen (vgl. Bhabha 2007, 237).

Die Folge ist eine paradoxe Situation: Donald Trump kommt bei den Wähler*innen besonders gut an, die am meisten durch ihn verlieren; die Fremdenfeindlichkeit ist dort am stärksten, wo es am wenigsten Fremde gibt. (Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man witzeln: Der Glaube versetzt Zwerge.) Wobei der größte Teil der Bürger*innen oft gar nicht wählen geht oder sonst wie politisch handelt, weil er mit der Komplexität postmoderner Gesellschaften überfordert ist: „Apathie ist die logische Reaktion auf das Gefühl, nicht gebraucht zu werden“ (Sennett 2010, 202).

Mit diesen wenigen Bemerkungen kann nur ein weitaus komplexerer Nährboden angedeutet werden, aus dem heraus – um in der Metapher zu bleiben – Krimis als Sumpfblüten oder Orchideen (oder etwas dazwischen) wachsen und ihre Fans finden (oder auch nicht). Einige weitere Aspekte des Krimis gilt es noch etwas näher zu beleuchten.

2.4 Diskurse von (poetischer) Gerechtigkeit

Adolf LoosLoos, Adolf hat 1908 einen drastischen Vergleich gezogen: „Das kind ist amoralisch. Der papua ist es für uns auch. Der papua schlachtet seine feinde ab und verzehrt sie. Er ist kein verbrecher. Wenn aber der moderne mensch jemanden abschlachtet und verzehrt, so ist er ein verbrecher oder ein degenerierter“ (Loos 2019, 10). Loos macht zurecht darauf aufmerksam, dass die Auffassung von dem, was als Verbrechen gilt, zeit- und kulturabhängig ist – und sein Text illustriert dies gleich unfreiwillig durch die höchst problematische Perspektive auf ‚das‘ Kind als amoralisch und auf ‚den‘ Papua als ‚das Andere‘. Auch literarische Texte verhalten sich entsprechend zu den Normen und Werten der Zeit, zugleich lassen sie sich aber – als der Kunst zugehörend und somit potenziell überzeitlich rezipierbar – auch auf die Normen und Werte der jeweiligen Rezeptionszeit beziehen.

Literatur macht die Leser*innen immer auch zu Richter*innen über das Verhalten der Figuren: „The literary judge […] is committed to neutrality; properly understood“ (Nussbaum 1995, 86). Allerdings beeinflusst der Text mit seiner Strategie, Handlung und Figuren in (s)einer spezifischen Weise zu präsentieren, das Urteilsvermögen; manchmal wird dies – je nach Anlage des Texts – bei der Lektüre offensichtlicher, manchmal weniger offensichtlich. SchillerSchiller, Friedrich beispielsweise zeigt in Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre deutlich, dass die Taten des Protagonisten vor allem auf die sozialen Rahmenbedingungen zurückzuführen sind, auf seine Herkunft und das Verhalten anderer ihm gegenüber. Aus dieser Sicht erscheint das Urteil am Schluss als ungerecht.

Zudem ist festzuhalten, dass der Krimi auch deshalb ein besonders anspruchsvolles künstlerisches Genre sein kann, weil er durch seine Rätselstruktur immer auch nach einem übergeordneten Sinn fragen und auf diese Weise nicht nur sich selbst als Literatur, sondern auch den Konstruktionscharakter von Wirklichkeit thematisieren kann:

In der Detektivliteratur, die die Wahrheit künstlich unzugänglich macht, wird der besondere Zugang des fiktionalen Diskurses zu dem, was in ihm als wahr ausgesagt werden kann, gewissermaßen noch einmal in die Fiktion eingeführt. Ihre Entstehungsbedingungen betreffen daher den Status des fiktionalen Diskurses selbst, nämlich die Art und Weise, in der er sich schließt. (Niehaus 2003, 375)

Beispiele für die Metafiktionalität von Krimis werden immer wieder zu nennen sein, ohne dass auf diesen Aspekt genauer eingegangen werden könnte (zu Literatur und Metafiktion vgl. v.a. die Arbeit von Mader 2017). Die Dreifachstruktur ‚generelle außersprachliche Realität – konkrete gesellschaftlich-kulturelle Realität – fiktionale Realität‘ ist noch durch eine dreifache zeitliche Struktur zu ergänzen: ‚Zeit der Handlung – Zeit der Entstehung und Veröffentlichung – Zeit der Rezeption‘. Dies wird im Krimi besonders am Beispiel von Normen verhandelt. Es betrifft nicht nur Gesetze, sondern auch Verhaltensweisen, also juristische wie moralische Normen, die sich durch die Zeit verändern oder innerhalb einer Zeit als im Wortsinn frag-würdig dargestellt werden können.

Schon allein die Frage nach dem, was unter Gerechtigkeit verstanden werden kann, eröffnet ein schier unermessliches Diskurspotenzial:

Keine andere Frage ist so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage so viel kostbares Blut, so viel bittere Tränen vergossen worden, über keine andere Frage haben die erlauchtesten Geister – von Platon bis Kant – so tief gegrübelt. Und doch ist diese Frage heute so unbeantwortet wie je. Vielleicht, weil es eine jener Fragen ist, für die die resignierte Weisheit gilt, dass der Mensch nie eine endgültige Antwort finden, sondern nur suchen kann, besser zu fragen. (Kelsen 2016, 9)

Die Vokabel ‚resigniert‘ ist angesichts des ursprünglichen Veröffentlichungsdatums von Hans Kelsens Schrift – 1953 – nur zu verständlich, steckte doch allen noch der Schrecken des Krieges und des Holocausts ganz unmittelbar in den Knochen. Aus heutiger Sicht scheint – abgesehen von zentralen Werten, wie sie in der UN-Menschenrechtscharta festgelegt sind – die Pluralität von Meinungen eher eine Stärke demokratisch verfasster Gesellschaften zu sein. Auch die, wie sie korrekt heißt, „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, eine rechtlich nicht bindende Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948, lässt noch genug Spielraum für Interpretationen und Adaptionen.

Das angesprochene Diskurspotenzial kann sich in der Literatur, die bekanntlich nicht an die Grenzen der Realität gebunden ist, noch einmal vervielfachen und es wird zu zeigen sein, dass die Antworten nicht nur zeitlich und kulturell bedingt sehr unterschiedlich ausfallen können, sondern dass sie auch immer, angesichts der Individualität der Protagonist*innen des Verbrechens und seiner bei aller Vergleichbarkeit stets vorhandenen Singularität, eine gewisse Unschärfe aufweisen. Gerade Literatur hat, weil sie polykontextuell, polyperspektivisch angelegt und polyvalent ist, das Potenzial, darauf aufmerksam zu machen: „literature and the literary imagination are subversive“ (Nussbaum 1995, 2). Es hilft auch nichts, wenn eine spezifische Auffassung von Gerechtigkeit vorausgesetzt wird. Damit würde nur, wie in der Trivialliteratur üblich, überdeckt, dass es hinter dieser Setzung keine überzeugende Begründung gibt.

Wenn es um Gerechtigkeit geht, lässt sich etwa die sogenannte Goldene Regel anführen: „Was du nicht willst, das man dir tue, das tue auch einem anderen nicht; oder, positiv ausgedrückt: Was du willst, dass [sic] man dir tue, das tue du auch den anderen“ (Kelsen 2016, 34f.). Das Problem ist nur, dass Menschen unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen haben. Das kennen wir bereits vom Schenken an Geburtstagen und an Weihnachten: Wenn wir das verschenken, das wir selber gern geschenkt bekommen würden, können wir fast sicher sein, dass die oder der Beschenkte sich nicht freut. Immanuel Kant hat mit dem Kategorischen Imperativ versucht, die Regel etwas anspruchsvoller auszuführen: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1974, 51). Doch auch hier ist die Individualität der entscheidende Störfaktor: Wenn ich möchte, dass der Staat stärker Schokolade subventioniert als Brot, dann haben nur diejenigen etwas davon, die wie ich gern Schokolade essen.

Auch die Frage nach dem Einsatz von Gewalt wird so fragwürdig, etwa Gewalt gegen Frauen, die bis vor nicht allzu langer Zeit staatlich legitimiert war, etwa wenn der Ehemann sein angebliches Recht auf Beischlaf ausübte, oder Gewalt gegen Kinder, wenn es in der Schule und später dann immerhin noch innerhalb der Familie bis vor nicht allzu langer Zeit erlaubt war, Kinder körperlich zu züchtigen. Immer noch gibt es Gesetzgebungen, die fragen lassen, ob sie das Gewaltmonopol des Staates nicht missbrauchen – etwa wenn die Abtreibungsgegner weiterhin bestimmen können, dass Abtreibungskliniken und -ärzte nicht durch Werbung auf sich aufmerksam machen dürfen.

Michel FoucaultFoucault, Michel hat hierfür die Begriffe der Bio-Macht und der Bio-Politik geprägt:

Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. (Foucault 1983, 166)

Foucault hat weiter festgestellt: „[…] verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerungen schießen aus dem Boden und eröffnen die Ära einer ‚Bio-Macht‘“ (Foucault 1983, 167). Nun ist es Aufgabe des Staates, der auch in den westlichen Demokratien immer noch ein Gewaltmonopol hat (wie sollte es sinnvoll an Einzelne delegiert werden?), Regelungen zu finden, die das Individuum auch in seiner körperlichen Integrität und Selbstbestimmtheit möglichst schützen. Doch wie weit muss man das Individuum vor sich selbst schützen, etwa durch Verbote von Drogen oder durch hohe Steuern auf Tabak? Wieviel Zwang darf der Staat im Interesse der Gemeinschaft aller Bürger auf größere oder kleinere Gruppen oder auch auf einzelne Individuen ausüben?

Ferdinand von SchirachSchirach, Ferdinand von, der auch berühmte Kriminalerzählungen und -romane geschrieben hat, hat in seinem Theaterstück Terror von 2015 – unter dem Titel Terror – Ihr UrteilTerror – Ihr Urteil von Lars KraumeKraume, Lars verfilmt und 2016 in der ARD, zeitgleich im ORF und im SRF ausgestrahlt – die Frage gestellt (und durch das Publikum beantworten lassen), ob die Bundeswehr ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abschießen darf, das die Terroristen in einem vollbesetzen Fußballstadion zum Absturz bringen wollen. Darf der Staat aktiv werden und unschuldige Passagiere töten, um eine größere Zahl unschuldiger Fußballfans zu retten?

Die skizzierten Fragen nach dem Verhältnis von individuellen und gruppen- oder staatsspezifischen Interessen spielen bei der Motivierung und bei der Beurteilung von Verbrechen eine zentrale Rolle. Ulla HahnHahn, Ulla schildert in ihrem Debütroman Ein Mann im HausEin Mann im Haus (1991) den Fall einer Frau, die ihren Geliebten, der ihr immer wieder vorgelogen hat, er werde für sie seine Frau verlassen, in einen Keller sperrt, vergewaltigt und foltert, bis sie ihn schließlich, solchermaßen physisch und psychisch gedemütigt, wieder freilässt. Hier stellt sich die Frage nach der poetischen Gerechtigkeit: Die Sympathien der Leserinnen, aber sicher auch der aufgeklärten Leser werden bei der Protagonistin Maria Wartmann sein, eingedenk einer langen Tradition straffreier Misshandlungen von Frauen durch Männer und des rücksichtslosen Verhaltens Hans Egons, des örtlichen Küsters und Chorleiters. Dazu kommt die bereits in der Namensgebung und Berufsbezeichnung erkennbare Ironie der Schilderung, die ebenso wie die kunstvolle Sprache gegen einen banalen Realismus arbeitet und so Reflexionsanreize setzt.

Gerechtigkeit und poetische Gerechtigkeit sind demnach zu unterscheiden, zumal es sich bei Figuren nicht um Menschen handelt und literarische Texte oder Filme Versuchsanordnungen bieten, die vielleicht an mögliche Fälle in der Realität angelehnt sind, sich aber nicht genau so in der Realität zugetragen haben oder zutragen werden.

2.5 Rationalität und Emotionalität

Zunächst einmal ist festzustellen, „daß Lesen von Literatur generell ein hochgradig emotionaler Vorgang ist“ (Anz 1998, 23). „Literature is in league with the emotions. Readers of novels, spectators of dramas, find themselves led by these works to fear, to grief, to pity, to anger, to joy and delight, even to passionate love“ (Nussbaum 1995, 53). Wenn schon allgemein für die Rezeptionssituation eine Analogie von Lektüre und Drogenkonsum gezogen werden kann: „Nietzsche schließlich erklärte den Rausch überhaupt zur Bedingung und Wirkung von Kunst“ (Anz 1998, 55), dann erhöhen besondere Handlungsreize wohl noch die „narkotische Wirkung“ (ebd.). Sex and Crime, Eros und Thanatos, Liebe und Tod setzen die stärksten Reize und wenn das Leben nicht sicher und mit Gefahr verbunden ist, oftmals in Tateinheit mit extremen Leidenschaften, dann sind wohl kaum stärkere Narkotika denkbar. Dazu passt auch, dass Conan DoyleConan Doyle, Arthur seinen emotional offenbar niemals ausgelasteten Meisterdetektiv Sherlock Holmes mit Drogen Selbstexperimente durchführen lässt.

Thomas AnzAnz, Thomas hat weiter darauf hingewiesen, dass Menschen so in den Stand gesetzt werden, durch die Zivilisation brachliegende anthropologische Konstanten zu bearbeiten. Die Gattung musste sich schließlich erst etablieren: „Lust ist in auffälliger Weise mit Tätigkeiten verbunden, die aus evolutionsbiologischer Perspektive dem Überleben dienen“ (Anz 1998, 56). Aber: „Die Lustprämien bleiben freilich auch dann wirksam, wenn die durch sie motivierten Tätigkeiten zum Überleben nicht mehr oder nicht andauernd nötig sind“ (ebd.). Die veränderten Lebensweisen im Zivilisationsprozess machen es erforderlich, entweder Disziplin zu trainieren und Impulse zu unterdrücken oder Ventile zu schaffen, die im Idealfall zur zivilisatorischen Entwicklung beitragen. Deshalb wäre es auch „problematisch“, Fiktionen „als mehr oder weniger sublimierte sexuelle oder auf andere Objekte verschobene narzißtische Lust zu erklären“ (Anz 1998, 95).

Das Lesen hat viele Funktionen, etwa ‚realitätsbezogene Erkenntnisse‘ zu vermitteln oder „Mittel zur Bewältigung verschiedenster Lebenssituationen“ bereitzustellen (Anz 1998, 57). Die grundlegende und wichtigste Funktion aber ist es, eine „Simulationstechnik“ (Dieter Wellershoff) zu sein, also einen Möglichkeitsraum bereitzustellen, in dem alles Denkbare ausprobiert werden kann. Ohne diesen Frei-Raum gäbe es auch nicht die angesprochene „Bewältigung verschiedenster Lebenssituationen“, die nur in einem Lernzprozess im Rahmen eines Als-Ob stattfinden kann. Der durch Fiktionalität geschaffene Möglichkeitsraum der Literatur ist ein Spiel-Raum im besten Sinne. Im Anschluss an Friedrich Schiller, Johan Huizinga und andere hat Thomas AnzAnz, Thomas mit Blick auf die Postmoderne zusammengefasst: „,Spiel‘ steht für die lustvolle Befreiung von unlustvollen Zwängen“ (Anz 1998, 37). Freilich hängt es von den Rezipient*innen ab, von ihren Erwartungen und ihrem Vorwissen, wie weit sie bereit sind, aktiv mitzuspielen: „Wer von dem Komplexitätsgrad einer Reizkonfiguration in seiner Kompetenz überfordert oder unterfordert wird, reagiert auf die Schwierigkeiten mit Unlust“ (Anz 1998, 70).

Wie bereits der Hinweis auf SchillerSchiller, Friedrich und somit auf sein Werk Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von BriefenÜber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen von 1794 zeigt, ist das Spiel schon früh in der Moderne als Basis für eine Vermittlung von Konzepten, für eine „ästhetische Erziehung“, erkannt worden. Das Problem ist nur, Schiller diskutiert es in seiner literarhistorisch bedeutsamen Rezension über Bürgers Gedichte, dass es Autor*innen geben müsste, die dazu in der Lage sind, ästhetisch überzeugende und gesellschaftspädagogisch wertvolle Texte zu schreiben, und – dies ließe sich hinzufügen – Leser*innen, die dazu in der Lage sind, Lust am Lesen gerade solcher Texte zu haben. In der Rezeptionsästhetik hat man von dem ‚idealen Leser‘ gesprochen.

Das breit angelegte Bildungsprogramm der Aufklärung setzt – eigentlich bis heute – eine solche Lust voraus, doch zeigt die tägliche Arbeit von Deutschlehrer*innen und Dozent*innen in Schule und Universität, dass Schüler*innen und Student*innen oft ganz andere Prioritäten haben. Und das sind diejenigen, die vom System im Sinne einer staatsbürgerlichen Erziehung dazu motiviert werden, entsprechende Potenziale von Literatur zu nutzen. Für den größten Teil des Lesepublikums gibt es einen Literaturbetrieb, der sich immer mehr in den kommerziellen Sektor (ein Beispiel sind die Kundenbewertungen auf Amazon) und ins Internet verlagert. Dort sind es vor allem Fan-Seiten, die das Bedürfnis des Gesprächs über Literatur befriedigen, das sich freilich zum größten Teil auf die Einschätzung des Unterhaltungswerts beschränkt. Allerdings war, mit Harold BloomBloom, Harold gesprochen, das Lesen kanonischer Literatur schon immer eine ‚elitäre Angelegenheit’. Dass und weshalb das Bildungsprogramm, wie es mit SchillerSchiller, Friedrich auch Wilhelm von Humboldt und andere vor mehr als 100 Jahren entworfen haben, heute offenbar so nicht mehr funktioniert, wäre ein eigenes Thema.

Ein Grund dürfte sein, dass Menschen sich über ihre Emotionen, gerade wenn sie besonders stark sind, wenig Rechenschaft abzulegen pflegen und der Schritt zur Reflexion dann möglicherweise umso schwerer zu gehen ist. Im Anschluss an Sigmund FreudFreud, Sigmund stellt Thomas AnzAnz, Thomas fest: „Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit“ (Anz 1998, 73). Dies gilt aber eben auch für triebbasierte Wünsche, die man sich gar nicht gern einzugestehen wagt, etwa sexuelles Verlangen oder Aggressionen bis hin zum Wunsch, Gewalt auszuüben.

Figuren und Handlungen von Kriminalromanen stellen Möglichkeiten bereit, solche Wünsche auf codierte Weise zu erfüllen: „Autoren lassen ihre Figuren sterben oder am Tod einer geliebten Person leiden, um die Lesenden zu vergnügen. Das Glück beim Lesen profitiert vom Unglück“ (Anz 1998, 114). Befriedigt werden aber nicht nur egoistische Triebe wie der Triumph, anders als die Figuren weder leiden noch bereits sterben zu müssen und das Leiden anderer dabei sogar genießen zu können (Anz 1998, 128), sondern auch moralische (Anz 1998, 123), etwa in der Bestätigung der (In-)Korrektheit bestimmter Verhaltensweisen durch Lohn und Strafe – der Täter wird überführt, der Detektiv wird bewundert (vgl. auch Anz 1998, 136). Es ist gerade dieser ‚thrill’, es ist die aus der sicheren eigenen Position genossene „Angstlust“ (Anz 1998, 129f.), die Krimis so populär macht.

Es gibt auch Fiktionen, die diesen Codierungsprozess selbst thematisieren, etwa der von einer Freud-Lektüre inspirierte HitchcockHitchcock, Alfred-Film SpellboundSpellbound von 1945 (auf Deutsch mit dem leider trivialen Titel Ich kämpfe um Dich). John Ballantyne (gespielt von Gregory PeckPeck, Gregory) wird Zeuge, wie sein Freund Dr. Anthony Edwardes beim Skilaufen erschossen wird und abstürzt. Weil er durch einen Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg traumatisiert ist, fällt Ballantyne in eine Amnesie und denkt, er sei Edwardes. Als solcher tritt er dessen neue Stelle als Leiter eines Heims für Geisteskranke an. Die Ärztin Dr. Constanze Petersen (Ingrid BergmanBergman, Ingrid) hilft ihm, sein Gedächtnis wiederzufinden und beide entlarven in einer dramatisch inszenierten doppelten Analyse – der Psyche Ballantynes und des mörderischen Geschehens – den bisherigen Anstaltsleiter Dr. Murchinson als Täter. Er wollte seine Stelle nicht verlieren. Zentral gesetzt sind (in Anlehnung an FreudFreud, Sigmunds Konzept der Traumdeutung) Ballantynes Träume (gestaltet von keinem Geringeren als Salvador DalíDalí, Salvador), die das Verdrängte in symbolisch codierter Form an die Oberfläche treten lassen (die Waffe des Täters sieht aus wie ein deformiertes Rad). Unschwer ist die metafiktionale Anlage des Films zu erkennen, wobei die Analyse des Patienten (der selbst Arzt ist) zur Reflexion darüber anregt, sich als Zuschauer*in über die eigenen Aggressionstriebe klarer zu werden.

Die Kenntnis der Differenz von Fiktion und außerfiktionaler Realität muss bei solchen Interpretationen immer vorausgesetzt werden. Selbst HitchcockHitchcock, Alfred musste seinen (legendären) Produzenten, der sich nun eigentlich mit Fiktionen auskennen sollte, entsprechend beeinflussen:

Producer David O. SelznickSelznick, David O. wanted much of this movie to be based on his experiences in psychotherapy. He even brought his psychotherapist in on the set to be a Technical Advisor. Once, when she disputed with Sir Alfred Hitchcock on the workings of therapy, Hitchcock responded, ‚My dear, it's only a movie’. (Ich kämpfe um Dich 2019)