Buch lesen: «NESTOR», Seite 8

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XV

Großalarm

Grafula hatte sich vor dem Eintreten von Miss Simmons gerade noch zurück verwandeln und wieder anziehen können. Neben seinen kläglichen Flugkünsten war das mit der Fledermausnummer verbundene Nacktsein die zweite Peinlichkeit, die ihm diese besondere Fähigkeit ausgesprochen verleidete.

Miranda zerrte an dem schlecht gebundenen Knoten von Chief Inspector Fazzolettis Krawatte, der immer noch bewusstlos in seinem Sessel hing und öffnete den obersten Hemdknopf.

Philander war sich für derlei Maßnahmen zu schade. Erste Hilfe war nicht sein Bereich, schon gar nicht für einen zweitklassigen Polizisten. Aber er befand sich in England und war gut beraten den zuständigen Beamten, zumindest in der Anfangsphase eines solch brisanten Falles, einzubinden.

Das die Sekretärin, den ohnmächtig in seinem Sessel sitzenden Chief Inspector jetzt aufbinden musste, war nun wirklich zu lächerlich.

»Atmet er noch?«, fragte der Superintendent, ohne zu vertuschen, dass ihm beide möglichen Antworten gleich recht waren.

»Ich denke schon …« Miranda war sich gar nicht so sicher und ging deshalb mit ihrem Ohr verblüffend nah an Fazzolettis Mund und Nase heran.

»Haaatschi!!!«, brüllte es aus eben dieser, in und eben diesem Moment.

»Er atmet noch«, stellte Philander fest und schaute Grafula dabei gleichgültig an.

Miss Simmons fasste an ihr nun taubes Ohr, taumelte Richtung Bürotür und brabbelte irgendetwas von ekliger Sauerei.

Der Superintendent stemmte seine Hände breit gespreizt auf Fazzolettis Schreibtisch und beugte sich weit zu dessen Gesicht hinunter und flüsterte: »Mein lieber Mann! Sie wissen, wie man mit Frauen umgeht. Alle Achtung!« Er machte eine kurze Pause. Dann flüsterte er noch leiser weiter: »Und jetzt werden sie mir zeigen, wie sie mit diesem Fall umgehen … und wenn mir nicht gefällt, was ich sehe, gehen sie wieder Streife!«

Philander richtete sich auf und sprach in normaler Lautstärke weiter: »Trommeln sie Ihre Truppe zusammen, Fazzoletti. Ich will diesen Nigglepot haben … und zwar lebendig!«

»Ja, Sir«, antwortete der Chief und machte kein Hehl daraus, dass er Philander für diesen Auftrag hasste.

»Kommen sie, Grafula! Unsere Leute haben jetzt viel zu tun, da stören wir nur. Was halten sie von Tee in meinem Büro?«

»Ich würde ihnen Gesellschaft leisten!«, sagte er und dachte: »Ich hab’ ihn soweit! Ich hab’ ihn soweit!« Und sofern man Freudentänze denken kann, dachte er auch diese.

»Chief«, sagte Fazzolettis Vorgesetzter im Gehen, »ich erwarte ihren ersten Bericht heute Abend um 18 Uhr.« Dann verließen er und Grafula sein Büro und nahmen alle gute Hoffnung des Chief Inspectors gleich mit, der sehr verlassen in seinem Büro saß und sich vorstellte, wie sein beruflicher Alltag auf der Straße aussehen würde.

»Simmons! Sofort in mein Büro«, brüllte er in die Sprechanlage und drückte dabei wieder auf Sammelruf.

Es dauerte eine Weile, bis Miss Simmons bei ihm auftauchte, denn noch immer machte ihr rechtes Ohr Probleme und sie war auch nicht wirklich erfolgreich gewesen, den Rotz von ihrem Kostümjäckchen zu entfernen.

Das »Was wollen sie?« mit dem Miranda antwortete, wehte wie ein eiskalter Wind durch den Raum und ihrem Vorgesetzten fröstelte tatsächlich.

»Wir haben da ein Problem«, stellte er unverdrossen fest, denn es war bereits elf Uhr. Es blieben nur noch sieben Stunden Zeit, um irgendetwas zu berichten.

»Nein, Chief. Sie haben da ein Problem«, entgegnete sie kurz und war im Begriff das Büro wieder zu verlassen.

Fazzoletti stutzte kurz, bemerkte aber schnell, dass eine Kurskorrektur die Sache noch ins Reine bringen könnte.

»Miranda … wir, und mit wir meine ich, sie und mich, wir haben es zum ersten Mal mit einem wirklich übernatürlichen Phänomen zu tun. Ich verspreche es ihnen, denn ich habe es mit meinen eigenen Augen fast ganz gesehen.«

»Fast ganz?«, fragte sie skeptisch nach.

»Nun, ich war ja ein wenig abwesend, aber was ich bis dahin gesehen habe, war alles andere als irgendwie auch nur ein bisschen normal.«

»Ehrlich?«

»Miranda? Vertrauen sie mir etwa nicht?«

Natürlich vertraute sie ihrem Chef kein Stück, aber wenn er selber sagte, sie hätten es mit etwas Übernatürlichem zu tun, dann hatte das Gewicht. Fazzoletti glaubte normalerweise nie an solche Dinge. Miranda Simmons hingegen hatte seit Jahren keine TV-Reportage über merkwürdige Dinge beim Pyramidenbau, Kartenlegen, Außerirdische und paranormalem im Allgemeinen und Besonderen verpasst. Sie war besessen von der Vorstellung, es gäbe etwas da draußen, dass nicht zu erklären sei. Nur deshalb war sie in diesem Vorzimmer gelandet. Miss Miranda Simmons wollte als Erste, zumindest aber als Zweite dabei sein, wenn irgendetwas in dieser Art passieren würde.

Das einzig Unnormale in all den Jahren war allerdings Fazzoletti, der keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich wenigstens um die stichhaltigsten Hinweise zu kümmern. Und jetzt das!

»Stimmt das? Gibt es diesen Zeitreisenden wirklich?«

»Vermutlich ja …« Der Chief knetete mit der rechten Hand sein Kinn durch.

»Und sie glauben das?«

»Ich muss ja … wenn sich dieser Untote hier vor meinen Augen in eine Fledermaus verwandelt, wird das mit dem Zeitreiseheini wohl auch stimmen«, erläuterte Fazzoletti matt.

»Sie brauchen Hilfe!«, freute sich Miranda.

»Wollen sie mich etwa zum Psychiater schicken?«

»Quatsch! Ich glaube das alles sowieso, aber wenn sie diesen Fall lösen wollen, brauchen sie jemanden, der Erfahrung mit solchen Dingen hat. Jemand der Psi-Experte ist, einen Ufologen, jemand der pendeln kann, einen Profi in Sachen Para-Archäologie, einen Sachverständigen für Zeitverschiebungen ...«

»Möchten sie vielleicht zum Psychiater?«, unterbrach Fazzoletti seine Sekretärin.

»Sie brauchen mich!«, überhörte Miranda die Bemerkung ihres Vorgesetzten.

»Gewiss«, sagte er und verdrehte die Augen.

»Bevor wir loslegen, benötigen wir alle verfügbaren Informationen über diesen Zeitreisenden und dann wollen wir doch mal sehen, ob er sich unserem Zugriff entziehen kann!«

Fazzoletti berichtete ihr von dem Gespräch mit Philander und Grafula. Sie selbst sorgte außerdem dafür, dass auch aus dem Vorzimmer des Superintendents ein umfangreiches Dossier über Grafula und dessen Informationen eintrudelte.

Beides unterzog sie einer eingehenden Prüfung und sagte dann zu Fazzoletti, der sich aus purer Langweile wieder seinen Fußballwettquoten zugewandt hatte: »Chief … wir sollten einen Großalarm ausrufen!«

»Großalarm? Simmons, jetzt übertreiben sie aber. Wenn ich einen polizeilichen Großalarm ausrufe, bin ich meinen Posten noch schneller los, als wenn ich gar nichts mache«, war die Antwort und dann schnäuzte er sich die Nase. »Verdammte Stauballergie!«

»Wer spricht denn hier von der Polizei, Chief Inspector?«, antwortete sie kopfschüttelnd.

»Wen sollen wir denn sonst alarmieren? Die Pizza-Boten vielleicht?«, entgegnete er genervt und betrachtete die Rotzfarbe in seinem Taschentuch.

»Violet-reality.com!«, triumphierte Miranda.

»Bitte was?«, riss es den Chief aus seiner Analyse.

»Die Violette Realität … meine Freundinnen und ich«, sagte sie und setzte sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch.

»Sie wollen im Ernst mit einem Damenkränzchen den vermutlich gewieftesten Verbrecher aller Zeiten stellen? Mädchen, sie sind nicht ganz bei Trost. Machen sie Ihre Zahlenrätsel und ich kümmere mich alleine um diesen Fall!« Fazzoletti schüttelte den Kopf und begrub das Gesicht in seinen Händen.

»Chief! Sie verstehen da etwas falsch. Mitglieder der Violetten Realität sind auf der ganzen Welt vertreten. Wir sind vernetzt, wir bloggen, twittern, simsen und mailen den ganzen Tag, wenn wir nicht gerade telefonieren, um die wichtigsten Informationen um den Planeten jagen. Ihr Kerle braucht das Internet, damit ihr Fußballergebnisse lesen könnt. Wir Frauen lassen Nachrichten kreisen, Kochrezepte, Trennungsgerüchte, Modetipps, Beziehungs- und Erziehungsprobleme. Die Violette Realität ist ein Hort des Wissens und des Halbwissens. Was wir rausfinden wollen, finden wir heraus. Wen wir überführen wollen, den erwischen wir. Immer und überall. Wir überprüfen jedes Gerücht, wir entdecken jeden Urlaubsort von allen Prominenten, die nicht gefunden werden wollen und wir finden das letzte Paar Schuhe in Größe 39 … und sei es von Debile.«

Sie holte tief Luft.

»Wir wussten das George Clooney heiraten will, bevor er seine Braut gefragt hat, wir wissen welche Modemarke im nächsten Sommer angesagt ist und das sie seit 23 Jahren keine Freundin mehr hatten.«

»Wie bitte?«, fragte Fazzoletti erzürnt.

»Habe ich recht, oder nicht?«

»Es sind aber noch nicht ganz 23 Jahre, Miss Simmons!«

»Wir haben brauchbare Theorien für das Entstehen von Kornkreisen! Die Violette Realität weiß was sich in Area 51 befindet und wir kennen den Aufenthaltsort von Elvis Presley.«

»Und warum erzählen Ihre Lila Mäuschen das keinem?«

»Chief … wir sind Geheimnisträger! James Bond könnte von uns eine Menge lernen.«

»Also gut.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und blickten Richtung Fenster. »Wie wollen wir vorgehen?«

»Oh, ganz einfach! Wir machen uns seine Schwächen zunutze.« Sie stand auf und ging um den Schreibtisch herum.

»Hat dieser Nigglepot denn Schwächen?«

»Aber sicher! Laut Grafula ist er immer gut gekleidet und hat jede Menge Stil.«

»Und das bedeutet?« Fazzoletti half diese Aussage kein Stück weiter.

»Wissen sie wie viele Männer immer, also wirklich immer, gut gekleidet sind und dazu auch noch Stil haben?«

»Als wenn ich darauf achten würde.«

»Ich weiß, dass sie das nicht tun, aber wir machen es. Und ich kann ihnen sagen, Chief, dass können so viele nicht sein, nicht in London, nicht in England oder sonst auf der Welt«, sagte die Sekretärin selbstbewusst und schubste Fazzoletti von seinem Sessel. Dann tippte sie so flink auf der PC-Tastatur des Chief Inspectors herum, dass diese sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich gebraucht und nicht – wie sonst – nur benutzt fühlte.

Die Fenster auf dem Monitor öffneten und schlossen sich wieder. Programme, von deren Existenzen Fazzoletti noch nie etwas gehört hatte und deren Anwendung ihm völlig unbekannt waren (und blieben), wurden gestartet und wieder beendet, bis plötzlich der ganze Monitor violett leuchtete. Mittig prangte in hübschen, weißen Buchstaben auf Englisch Violet Reality und der Computer forderte die Benutzerin zur Passworteingabe auf.

»Können sie mal weggucken, Chief? Das ist geheim!«

»Was?«, antwortete dieser verdattert und drehte widerwillig seinen Kopf zur Seite. Dann fiel ihm ein, dass dieses sein Computer war und er, seiner Meinung nach, Anspruch auf dieses Wissen hatte. Aber da war Miranda schon fertig.

»Google können sie vergessen, Chief! Hier findet Frau wirkliche brauchbare Informationen.«

Während Miranda einen Suchtext eingab, fragte Fazzoletti die Sekretärin: »Wieviele lila Mäuschen gibt es eigentlich?«

»Ach, in England ein paar hunderttausend. Auf der ganzen Welt wohl einige Milliönchen.«

Der Chief Inspector staunte nicht schlecht und las den Suchtext: »Hallo ihr Süßen! Ich habe da einen Spezialauftrag für Euch. Ich suche einen Mann, der immer bestens gekleidet ist, ausgesprochen stilvoll auftritt, leider sehr eingebildet, dafür aber vermutlich unverheiratet und ganz sicher ausgesprochen wohlhabend ist. Sein Aufenthaltsort ist wahrscheinlich England, er ist ungefähr 185 cm groß, schlank, ca. 45 Jahre alt, hat mittelbraune Haare, blaue Augen und sein Name lautet Nestor Nigglepot. Küsschen, eure MIRANDA3007«

Kurz, nachdem Miss Simmons auf den Senden-Knopf geklickt hatte, wurden zeitgleich einige Millionen Textnachrichten an ebenso viele Handys auf der Welt geschickt und in Seldom House aktivierte sich Sofia schlagartig.

XVI

Viecher

Nach dem gemeinsamen Essen teilte sich die Gesellschaft um Nestor und Lilly auf. Nigglepot begleitete Judith und Aaron zum Hafen um eine Schiffspassage nach Syrakus zu ergattern. Lilly begleitete, mit Arf auf dem Arm, Darian und Roxanna zum Viehmarkt.

»Wie kannst du nur immer diesen Hund mitschleppen?«, wollte die Athenerin wissen.

»Na ja … ich bin ein Kind, und jedes Kind will doch irgendwann einen Hund haben.«

»In welcher Zeit lebst du eigentlich? Seit wann wollen Kinder Hunde haben? Falken oder Schlangen, vielleicht. Aber so einen kläffenden Köter? Unser Herr scheint ja einen Narren an dir gefressen zu haben, sonst hätte er dir und der Flohquaste einen Tritt verpasst«, ätzte die Frau.

»Pass auf auf deine Worte auf!«, sagte Darian bestimmt. »Herr Nestor hat gesagt, dass Lilly ihn vertritt, wenn er nicht dabei ist.«

»So weit ist es schon gekommen«, nörgelte Roxanna leise vor sich hin und Arf bewies eine gute Menschenkenntnis, denn er knurrte sie unablässig an.

Lilly war mit ihrer neuen Rolle als Abteilungsleiterin noch nicht vertraut, sonst hätte sie Roxanna ein paar passende Worte gesagt. Eingefallen wären ihr genug. Aber sie war ein Mädchen aus einer anderen Zeit, die im Umgang mit Sklaven nicht nur ungeübt war, sondern der auch jede Form von Machtausübung und Unterdrückung zuwider war. Sie wusste, dass, wollte sie ihre Rolle gut spielen, sie sich daran gewöhnen musste, nach oben zu buckeln, also Nestor nicht widersprechen, und nach unten treten also auf die anderen Sklaven Druck ausüben.

Fest stand, dass sie Roxanna im Auge behalten musste, denn von den Vieren, die zu ihrer kleinen Gruppe gestoßen waren, war die Frau aus Athen ganz sicher diejenige, von der am meisten Ärger ausging.

Sie erreichten den Viehmarkt. Lakis hatte ihnen zwar den Weg gesagt, aber Darian wusste ihn schon längst, denn er interessierte sich ja für Tiere und deswegen war er schon einige Male hier gewesen.

»Wofür braucht der Herr denn die Tiere genau?«, wollte er von Lilly wissen.

»Na ja, das Pferd ist zum Reiten gedacht und der Esel soll einen Karren ziehen.«

»Das weiß ich. Aber will er ein schnelles oder ein starkes Pferd? Braucht er einen jungen Esel, der viel tragen könnte oder einen alten Esel, der weit tragen würde?«

»Du stellst Fragen … was würdest du denn nehmen?«, fragte sie zurück.

»Tja, das kommt eben darauf an, was der Herr will. Habt ihr denn nicht darüber gesprochen?«

»Doch, doch«, log sie. »Ich wollte nur deine Meinung hören.«

»Ich würde ein starkes Pferd nehmen, das mich weit tragen könnte. Die Straßen und die Felder auf dieser Insel sind so uneben, dass ein schneller Galopp schwer möglich ist.« Dann schaute Darian zu den Eseln. »Und was die Grauen angeht … da sind ja nur drei. Ich würde den nehmen, der am gesündesten ist. Jung ist von denen eh keiner mehr.«

»Dann machen wir das so, wie du gesagt hast, Darian. Sprich mit den Händlern und versuch sie so weit wie möglich runter zu handeln, Roxanna kann dir dabei helfen. Ich schaue inzwischen nach einer Hundeleine«, sagte Lilly.

»Eine was?«, fragten die beiden anderen zeitgleich.

»Das ist so ein Ding, das ich Arf um den Hals binden kann, damit er nicht wegläuft und ich ihn nicht die ganze Zeit tragen muss.«

Roxanna und Darian starrten sie ungläubig an.

»Auf Korfu geht heutzutage kein Hundebesitzer mehr ohne auf die Straße«, schwindelte sie schon wieder und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass es ihr sogar ein bisschen Spaß machte, den Anderen etwas vorzumachen.

»Da würde ich mal bei den Geschirrmachern fragen, die haben vielleicht einen kleinen Gürtel und ein Seil«, schlug Darian vor.

»Wenn ich dem Hund ein Seil um den Hals binden würde, bräuchte er bald keines mehr«, stellte Roxanna fest.

Lilly wollte zwar tatsächlich eine Hundeleine kaufen, aber zuerst hielt sie nach ein paar Metern inne, um den Mann und die Frau zu beobachten. Sie wollte wissen, wie sie sich vertrugen, wenn weder Nestor oder sie selbst in der Nähe waren.

Ein Team waren sie nicht, das konnte die Chinesin schon nach wenigen Augenblicken erkennen. Roxanna wollte ständig Recht behalten, während Darian mit wirklich stichhaltigen Argumenten dagegen hielt.

Leider konnte sie nur wenig verstehen, denn nicht nur die Tiere, Arf eingeschlossen, sondern auch jeder andere machte Lärm. Niemand schien in dieser Stadt das Wort Leise zu kennen, solange es hell war. Es wurde gehämmert, gesägt, geflucht, gesungen, gestritten und immer in einer Lautstärke, die selbst in London und in ihrer Heimatzeit jedem unangenehm aufgefallen wäre.

Die Menschen waren zwar weniger gehetzt, aber solange gearbeitet wurde, schien jeder darauf bedacht zu sein, dass alle anderen ihr Tagwerk auch hören konnten.

Außerdem stank es. Das war von einem nahegelegenen Viehmarkt auch nicht anders zu erwarten, aber es stank auch sonst überall in dieser Stadt. Das Wasser vom Hafen müffelte brackig und nach verdorbenem Fisch. Die Gerberei neben dem Viehmarkt verschlug einem den Atem und hinter jedem Haus gab es irgendwo eine Ecke, wo die großen und kleinen Geschäfte der Stadtbewohner hingeschüttet wurden. Ab und zu nahm ein Sklave gnädig einen Eimer Wasser und spülte den ganzen Mist auf die Straße. Aber es war heiß und Regen war hier scheinbar unbekannt, darum verbiss sich der Geruch in der Nase – kurzum, es war eklig.

Roxanna und Darian zankten sich noch immer und Lilly schlug den Weg zum Geschirrmacher ein. Sie fand auch schnell etwas Passendes für Arf, dem sie in den nächsten Tagen das ordnungsgemäße Erledigen von Geschäften beibringen musste, obwohl sie ein schlechtes Gewissen für liegengelassene Köttel in dieser Stadt nicht haben musste.

Der Hund war von der Hundeleine wenig begeistert, denn er hatte sich schnell daran gewöhnt getragen zu werden. Selber laufen konnte er zwar noch, aber für ihn war die Erfahrung neu, dass jemand anderes die Richtung vorgab.

Daran musste sich auch Roxanna gewöhnen, denn als Lilly wieder bei ihr und dem Perser ankam, waren die beiden noch immer uneins über die zu treffenden Kaufentscheidungen. Darum wollte das Mädchen zunächst wissen, welche Tiere überhaupt infrage kamen.

»Wir sollten den braunen Hengst hier nehmen. Seine Zähne sind gut, er lahmt nicht und ist stark«, meinte Darian.

Roxanna befand eine braun-weiße Stute für besser, konnte aber nicht sachlich begründen warum.

»Habt ihr denn schon nach den Preisen gefragt?«, wollte Lilly wissen.

»Der Hengst soll eine Mine und zwanzig Drachmen kosten, die Stute eine Mine und 10 Drachmen«, antwortete Darian nüchtern.

»Der Preis für den Hengst ist viel zu hoch! Der ist kaum eine Mine wert, verlass dich auf mich, Kind!«, mischte sich die Athenerin ein.

»Und was ist deiner Meinung nach die Stute wert?«, hakte Lilly nach.

»90 Drachmen … vielleicht eine Mine.« Roxanna bewegte ihren Kopf abschätzend hin und her.

»Viehhändler!«, rief das Mädchen laut genug, um gegen den allgemeinen Lärm anzukommen, und selbstsicher genug, um Darian und Roxanna ihren Führungsanspruch zu beweisen.

Lilly hatte inzwischen gelernt, dass Kinder, je nach Stand in dieser Zeit, oft mehr zu sagen hatten als manche Erwachsene. Aus Sicht dieser Kinder war das sicher eine der wenigen angenehmen Besonderheiten der Antike.

»Was willst du?«, rief ein unrasierter kleiner Mann mit sonnengegärbter Haut barsch zurück und wühlte abwesend in seinem Geldbeutel, als er auf die Drei zukam.

»Kaufen, mein Freund!«

»Hast du Geld?«, fragte der Viehhändler, der nicht wusste, welchen Stand Lilly in dieser Gruppe hatte.

»Hast du brauchbare Tiere?«, fragte Lilly eben so rustikal.

»Was darf’s denn sein?«

»Ich möchte den braunen Hengst haben«, sagte die Asiatin.

»Der ist nicht ganz billig«, begann der Mann das übliche Feilschritual, das Roxanna sehr souverän zu ihren Gunsten bestritt. Als sie fertig waren, holte der Händler tief Luft.

»Also gut … 94 Drachmen, aber ich werde meine Kinder in die Sklaverei verkaufen müssen, damit ich nicht verhungere!«

»Wieviele Kinder hast Du?«, wollte Roxanna wissen.

»Elf.«

»Dann stell dich nicht so an. Dafür kriegst du genug zu beißen.«

Der Händler lächelte zufrieden. Wenn jemand gut feilschen konnte, genoss dieser seine Hochachtung.

»Wir brauchen auch noch einen Esel und einen Karren«, sagte Lilly und ergänzte: »Darian, such dir einen aus.«

Und der Perser ging mit Sachverstand auf die drei Tiere zu und entschied sich schnell für den mit den dunkelsten Ohren: »Was soll die graue Stute hier kosten?«

»Ohh, ich würde sie nur ungern hergeben. Aber wenn ihr mir ein gutes Angebot macht, kann ich es mir ja überlegen«, gab der Viehhändler zurück.

Lilly blickte zu Roxanna, die das Kommando verstand und mit Darian einige leise Worte wechselte – diesmal ohne Streit, scheinbar reagierte sie auf Anweisungen unkomplizierter als ohne klare Angaben.

»45 Drachmen … und das ist noch zuviel!«

»Was redest du Weib? Dieses Tier stammt aus einer edlen Zucht und hat noch nie einem Herrn den Dienst verweigert. Sie ist mindestens das Dreifache wert!«

»47 und du machst das beste Geschäft deines Lebens!«

»Du willst mich beleidigen! Wenn du glaubst, dass diese Eselin so wenig wert ist, dann musst du mich für einen Abdecker halten. Unter 80 Drachmen gebe ich sie nicht her!«

»50 Drachmen und ich lasse dich nicht wegen Betrugs einkerkern!«

»Vor nicht einmal vier Tagen war ein ausgesprochen kluger Mann hier, der sagte: Ach, hätte ich nur eine Mine über … ich würde diesen Esel sofort kaufen! Und du bietest mir die Hälfte! Du kannst nicht bei Sinnen sein. 70 Drachmen, mein letztes Angebot!«

»55 Drachmen …«

»65 … Sonst zahle ich drauf!«

»60 Drachmen oder wir gehen«, sagte Roxanna.

»Einverstanden! Aber ihr zahlt sofort!«

Roxanna nahm die Münzen aus dem Geldbeutel, den Lilly ihr anvertraut hatte und das Mädchen sah ihr genau zu. Nur so konnte sie die Werte der unterschiedlichen Münzen kennenlernen. Erstaunlicherweise wurde der Beutel nur unmerklich leerer. Nestor Nigglepot war selbst im alten Griechenland offensichtlich ein sehr reicher Mann.

»Wenn ihr noch einen Karren sucht … dann geht zu meinem Schwager Hektor, zwei Straßen weiter, der hat Gebraucht- und Neukarren für jeden Geldbeutel.« Während er das sagte, schielte er auf den prall gefüllten Stoffsack in Roxannas Hand und ärgerte sich, dass er nicht besser gefeilscht hatte. Hier wäre mehr zu holen gewesen.

»Danke, Viehändler!«, sagte Lilly und wies Darian und die Griechin an, ihr zu folgen. Jeder hatte nun eine Leine mit Tier an der Hand und sie trotteten zu Hektor.

Der Viehändler hatte maßlos übertrieben, denn sein Schwager führte exakt zwei Eselskarren: einen Neuen und einen Gebrauchten. Lilly entschied sich für das Altfahrzeug, nachdem Darian seinen ordentlichen Zustand bestätigt hatte, und Roxanna handelte Hektor erwartungsgemäß von fünfunddreißig auf siebzehn Drachmen herunter.

Nestor Nigglepot, Judith und Aaron waren in der Zwischenzeit am Hafen gewesen und hatten sich umgeschaut. Für eine Stadt am Meer lagen erstaunlich wenige Schiffe im Hafen. Die meisten waren Nussschalen, die armseligen Fischern gehörten und wenig seetauglich wirkten. Nur eine große Galeere lag am Kai und wurde gerade entladen. Sklaven trugen säckeweise Getreide an Land oder schleppten volle Tonamphoren von Bord, die gut und gerne 50 Liter Fassungsvermögen hatten und mit Wein, Olivenöl, Honig oder Datteln gefüllt waren. Eine harte Arbeit und wenn die Männer ihre Fracht abluden, gingen sie, noch immer gekrümmt, zurück an Bord um eine neue Last zu nehmen.

Sie betrachteten das Treiben eine Weile und Aaron fragte Nigglepot: »Herr Nestor? Warum müssen wir eigentlich nach Syrakus?«

»Ach Junge, das ist eine wirklich komplizierte Geschichte. Kannst du nicht etwas leichteres Fragen, was du auch verstehen würdest?«, blockte Nestor in seiner typischen Art ab.

»Mhm … wenn ihr von der Insel Korfu kommt, warum seid ihr dann nicht direkt von dort nach Syrakus gefahren?«

»Noch eine Frage mit einer schwierigen Antwort … nächster Versuch!«

»Aaron!« Seine ältere Schwester stupste ihn unauffällig an, er möge doch mit der Fragerei aufhören.

»Aber ich soll doch was fragen«, konterte der Junge und versuchte es wieder: »Ist Lilly schon lange in eurem Besitz?«

»So etwas fragt man die Herrschaft nicht«, versuchte Judith ihren Bruder zurückzuhalten.

»Lass’ gut sein, Judith! Lilly ist, je nachdem wie man es betrachtet, schon seit einer Ewigkeit in meinen Diensten«, antwortete er mysteriös und forderte damit natürlich ungewollt die nächste Frage heraus.

»Was soll das denn heißen?«

Judith hatte es aufgegeben, Aaron zu bremsen.

»Warum müssen Kinder eigentlich immer so neugierig sein?«, fragte Nigglepot und wollte, dass es die anderen durchaus hörten.

»Ich hab’ es dir doch gesagt!«, schaute das Mädchen ihren Bruder böse an. »Der Herr will mit so etwas nicht gestört werden.«

»Wobei soll ich ihn denn stören? Der steht hier und glotzt, genau wie wir.«

»Ja, ich stehe hier und glotze … und frag mich warum ich hier eigentlich stehe«, dachte Nigglepot versehentlich laut.

»Siehst du! Den Herrn interessiert das sogar selber!«, triumphierte Aaron über seine Schwester, die den Zeitreisenden fragend ansah.

Nestor hatte erst jetzt gemerkt, dass er ungewollt für Verwirrung gesorgt hatte und war erleichtert, als er jemanden völlig aufgerichtet und ganz ohne Gepäck von Bord gehen sah.

»Da! Das muss der Kapitän sein! Kommt, wir fragen ihn!« Nigglepot schaute gar nicht zurück, sondern machte sich sofort auf, damit ihm der Mann nicht entwischte und die Geschwister liefen hinter ihm her.

»Kapitän!«, rief Nestor. »Kapitän, warten sie!«

Der andere Mann blieb verdutzt stehen und schaute auf die drei Menschen, die sich ihm näherten.

»Was wollt ihr?«, fragte er kühl, als Nestor ihn erreicht hatte.

»Wir suchen eine Überfahrt nach Syrakus.«

»Und da habt ihr an mein Schiff gedacht?«

»Ich zahle gut«, entgegnete Nestor protzig.

»Herr … wenn ich euer Geld wollte, würde ich euch eins über die Birne ziehen und dann hätte ich es!«, sagte der Seemann und machte deutlich, dass er keinen Respekt vor reichen Leuten hatte.

»Ihr seht mir nicht aus wie ein Pirat, Kapitän!«

Bei dem Wort Pirat rückte Aaron ganz nah an seine Schwester, die ihn fest an sich drückte.

»Wer auf diesem Meer ein Schiff hat, ist entweder Pirat oder Opfer. Wofür würdet ihr euch entscheiden?«, fragte der Kapitän.

»Ich würde vermuten … Pirat?«, sagte Nestor, als ob er überlegt hätte. Dann legte er freundschaftlich seinen Arm um die Schulter des Seemanns und sagte: »Mein Freund! Bringt mich, meine Sklaven, mein Pferd und meinen Eselskarren nach Syrakus – und wir beide werden auf dieser Fahrt nur etwas zu gewinnen haben.«

Der Kapitän schälte sich aus Nestors Umarmung und fragte geradeheraus: »Was habt ihr auf dem Kerbholz?«

»Kapitän, fragt ihr den Wein in den Amphoren auch, wie er den Empfängern wohl schmecken wird?«

»Wenn ihr verfolgt werdet, könnt ihr es sofort vergessen«, sagte der Kapitän misstrauisch.

»Wir werden nicht verfolgt und wir werden euch für die Fahrt angemessen bezahlen«, sagte Nestor, so beruhigend er konnte. Aber der Seemann hatte eine gute Menschenkenntnis und blieb auf Distanz.

»Der Preis wird sich verdoppeln, wenn ich gegenteiliges höre, Herr ...«, sagte der Kapitän.

»Nestor. Nestor von Korfu!«

»An Bord nennt man mich Dias. Wann wollt ihr reisen, Herr Nestor von Korfu?«

»Morgen früh, wenn es euch passt, Herr Dias.«

»Dann sehen wir uns hier, in der zweiten Stunde nach Sonnenaufgang, Herr Nestor!«

»Sehr gut … kommt Kinder, wir schlafen zeitig!«, sagte Nestor, als er mit Dias durch Handschlag handelseinig war und machte sich auf den Weg zur Herberge.

Der Steuermann, den weder Nestor, noch Judith oder Aaron bemerkt hatten, lehnte während des ganzen Gesprächs an der Reling und hatte gelauscht. Nachdem Nigglepot und die Geschwister außer Sicht waren, kam er zu Dias hinunter und sagte: »Interessante Kundschaft …«

»Was meinst Du?«, fragte der Kapitän.

»Wo kommt der Kerl her?«, fragte der Steuermann.

»Korfu … sagt er zumindest«, antwortete Dias.

»Das würde mich doch sehr wundern«, entgegnete der andere.

Dias lächelte beinahe unmerklich, aber der Steuermann verstand die unmissverständliche Geste des Kapitäns sofort.

Als Nestor und sein Gefolge die Herberge erreicht hatten, kamen auch Roxanna, Darian und Lilly mit den Tieren an, die von Lakis sofort in den Stall dirigiert wurden. Natürlich verdrehte er die Augen, als er Lilly mit Arf an seiner Leine sah.

»Darian, Roxanna, Judith, Aaron … geht schon mal in den Gastraum und bestellt Abendbrot für uns alle, Lilly und ich kommen gleich nach«, sagte Nestor.

»Ja, Herr!«, antwortete Aaron, die anderen nickten nur.

Nigglepot nahm Lilly beiseite und führte sie nach draußen, dann schaute er sich kurz um und ergriff leise das Wort.

»War irgendetwas besonderes?«

»Diese Roxanna ist eine schwierige Frau. Darian kommt nicht sehr gut mir ihr aus und mich kann sie – glaube ich – gar nicht leiden. Aber sie kann wirklich gut feilschen.«

»Und wie bist du zurechtgekommen, Lilly«

»Weißt du, Nestor von Korfu, so langsam gewöhne ich mich an das Lügen. Du bist ein guter Lehrer!«, antwortete sie.

»Ich muss doch sehr bitten, das mit der Ehrlichkeit hatten wir doch schon. Die Wahrheit glaubt einem doch sowieso kaum einer. Und dich habe ich noch nicht belogen, das steht mal fest«. Nestor klang nicht wirklich beleidigt.

»Hast du eine Überfahrt gefunden?«, wollte Lilly wissen.

»Ja, bei einem zwielichtigen Kapitän, der uns nicht wirklich wohl gesonnen sein dürfte. Aber alle anderen Schiffe sahen aus, wie schwimmende Särge. Wir müssen uns in Acht nehmen.«

»Hast du etwa Angst, Nestor von Korfu?«, ärgerte ihn das chinesische Mädchen.

»Junge Dame! Angst hatte ich das letzte Mal vor fast 2.500 Jahren«, gab Nestor eingebildet zurück.

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