Die Salbenmacherin

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Kapitel 9

Konstantinopel, Juli 1408

»Sie kommt zu sich.«

Die Worte klangen undeutlich – als ob ihr Sprecher meilenweit entfernt wäre. Zuerst dachte Olivera, dass sie träumte. Aber dann fand der Schmerz den Weg in ihr Bewusstsein und ließ sie aufstöhnen. Es war ein dumpfes Pochen an ihrem Hinterkopf. Ein Pochen, das sich anfühlte, als versuche jemand, mit einem riesigen Hammer zu ihrem Gehirn vorzudringen. Mit jedem Atemzug, den sie tat, schien der Schmerz sich weiter auszubreiten und sie einzuhüllen wie ein erstickender Mantel. Sie vernahm einen heiseren Laut, der einem Krächzen ähnelte. Und es dauerte einige Zeit, bis sie begriff, dass sie das Geräusch von sich gegeben hatte.

»Lieg still, Kind.« Etwas Kühles breitete sich über ihre Stirn aus. »Der Medicus muss die Wunde nähen«, hörte sie eine Stimme sagen, die sie als die ihrer Großmutter erkannte. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber ihre Lider waren bleischwer. Alles, was sie zustandebrachte, war ein kurzes Blinzeln.

»Flößt ihr etwas Mohnsaft ein«, dröhnte ein Bass. Kurz darauf schob sich eine Hand unter Oliveras Kopf und der Schmerz verwandelte sich in ein scharfes Stechen. Ehe sie den Mund zu einem Schrei öffnen konnte, setzte ihr jemand ein Gefäß an die Lippen. »Trink in kleinen Schlucken«, riet ihre Yiayia. »Dann geht es dir bald besser.«

Bitter und süß zugleich rann der Saft Oliveras Kehle hinab und um ein Haar hätte sie sich daran verschluckt. Hustend spuckte sie etwas davon wieder aus, dann sank sie ermattet zurück in die Kissen. Einige Augenblicke lang schien der Schmerz unerträglich, bis der Mohnsaft begann, Wirkung zu zeigen. Sie spürte kaum, wie man sie auf die Seite drehte. Auch der erste Stich der Nadel war nicht mehr als ein leichtes Zwicken. Das Gefühl, das sie einlullte und schläfrig machte, ähnelte der Benommenheit, welche sie nach dem Genuss von zu viel Wein empfunden hatte. Etwas wie Schwindel, nur angenehmer, legte sich über ihre Sinne. Während der Arzt sich an ihrem Kopf zu schaffen machte, merkte sie, wie sie zurück ins Reich der Träume abglitt.

Als sie das nächste Mal erwachte, fühlte sie sich besser. Zwar tat ihr Hinterkopf immer noch weh, aber das Pochen war abgeklungen. Allerdings quälte sie ein entsetzlicher Durst, der fast schlimmer war als die Schmerzen. Ihre Lippen, ihr Mund und ihr Rachen waren ausgedörrt, als ob sie tagelang die Wüste durchstreift hätte. Mühsam versuchte sie zu schlucken. Doch ihre Zunge klebte so fest an ihrem Gaumen, dass sie fürchtete, ein Stück Fleisch herauszureißen, wenn sie versuchte, sie zu lösen. Eine Gestalt saß an ihrem Bett, blickte auf sie hinab. Und nach einigen Lidschlägen erkannte Olivera, dass es sich um ihre Yiayia handelte.

»Wasser«, murmelte sie schwach. Die alte Frau griff nach einem Krug, füllte einen Becher und half Olivera, sich aufzurichten.

»Besser?«, fragte sie, nachdem sie den Becher wieder abgestellt und Olivera zurück in die Kissen gedrückt hatte. Olivera nickte. In der Tat kam es ihr vor, als kehrten mit dem Wasser all ihre Lebensgeister zurück. Auch das durch die Fenster hereinfallende Sonnenlicht stach nicht mehr wie ein Messer nach ihren Augen, wirkte viel eher golden und beruhigend. Sie sah sich suchend im Raum um. Doch sowohl der Medicus als auch die Mägde hatten ihre Kammer wieder verlassen. Nur ihre Yiayia war noch bei ihr – so wie früher, wenn sie als Kind an einem Fieber oder Bauchschmerzen erkrankt war. Die alte Frau betrachtete sie mit einer Mischung aus Sorge und … Olivera wandte hastig den Blick ab. War es Strenge? Oder Ärger? Sie drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Was war nur geschehen? Ganz offensichtlich war ihr Plan fehlgeschlagen. Aber warum? Alles, woran sie sich noch erinnern konnte, war der Geschmack des Süßholzes auf ihrer Zunge. Sie zog verstohlen die Wangen ein und suchte in ihrem Mund nach Überresten der Süße. Die nächsten Worte ihrer Großmutter ließen sie jedoch inmitten der Bewegung erstarren.

»Ich weiß, was du vorhattest«, sagte ihre Yiayia vorwurfsvoll. »Dachtest du denn ernsthaft, du könntest mir etwas vormachen?« Sie klang verletzt.

Olivera spürte Scham in sich aufsteigen. Am liebsten hätte sie sich in einem Mauseloch verkrochen und wäre nie wieder daraus hervorgekommen.

»Einen Hysterike-Anfall vorzutäuschen!« Die alte Frau schnaubte und erhob sich. »Was soll ich deinem Vater sagen?«, fragte sie, während sie ihre Röcke glatt strich. »Dass seine Tochter sofort verheiratet werden muss, weil ihr Uterus sonst austrocknet? Denkst du im Ernst, dass du ihn so dazu zwingen kannst, deinem Willen nachzugeben?«

Olivera schwieg, da genau dies ihr Ziel gewesen war.

»Hatte ich dir nicht gesagt, dass du dich gedulden sollst?« Ihre Yiayia trat ans Fenster und sah einige Zeit schweigend in die Ferne. Dann stieß sie hervor: »Das war unglaublich töricht von dir!« Sie fuhr sich mit der Hand über das silberne Haar. »Du hättest dich ernsthaft verletzen können.«

Olivera spürte Tränen in sich aufsteigen. »Yiayia«, bat sie kleinlaut. »Bitte schimpfe nicht.« Ihre Lippen bebten. »Du musst mir helfen!« Sie schob sich in eine sitzende Position. Augenblicklich wurde ihr schwindelig und sie hielt sich den Kopf – als könne sie so verhindern, dass der Raum sich weiter um sie drehte. »Yiayia«, wiederholte sie, sobald sich die Benommenheit etwas gelegt hatte. »Bitte!« Sie krallte die Finger in die Decke und wickelte diese um sich. »Ich kann mich doch nicht gedulden«, flüsterte sie.

»Warum kannst du dich nicht gedulden?«, fragte die alte Frau. Sie kehrt dem Fenster den Rücken und trat zurück an das Bett.

»Weil es schon bald zu spät ist«, murmelte Olivera.

Ihre Großmutter legte die Stirn in Falten, dann trat Verstehen in ihren Blick. »Der Vogel«, sagte sie. »Ich hätte es mir denken können.« Sie ließ sich wieder auf der Bettkante nieder.

Olivera griff nach ihrer Hand und betrachtete einige Atemzüge lang die dunklen Flecken auf der faltigen Haut. »Ich liebe ihn so sehr!«, hauchte sie schließlich. Und dann sprudelte alles aus ihr hervor: die lang gehegte Sehnsucht nach Laurenz’ Rückkehr; die Freude und Aufregung, als ihr Wunsch endlich erhört worden war; der Besuch des Marktes und das Gefühl der Leere, als er sie im Hof allein gelassen hatte. »Bitte, Yiayia«, flehte sie erneut und drückte die Hand ihrer Großmutter so fest, dass diese mit einem Keuchen protestierte. »Bitte!« Oliveras Stimme klang heiser. »Wenn ich ihn nicht heiraten kann, dann will ich keinen!« Ihr Blick suchte den der alten Frau.

Diese betrachtete ihre Enkelin einige Momente lang forschend, ehe sie einen tiefen Seufzer ausstieß. »Ist dir klar, was es bedeutet, wenn du seine Gemahlin wirst?«, fragte sie schließlich.

Olivera nickte eifrig. »Ja«, erwiderte sie.

»Er wird dich mit in die Fremde nehmen.« Ihre Yiayia hob warnend den Zeigefinger. »Du wirst weit, weit fort sein von allen, die dich lieben. Die Reise birgt viele Gefahren und du wirst deinen Vater und deine Brüder vielleicht niemals wiedersehen.« Sie befreite sich vom Griff ihrer Enkelin und strich ihr sanft über die Wange. »Und mich auch nicht«, fügte sie hinzu.

Die Tränen, die Olivera so tapfer zurückgehalten hatte, brachten ihre Augen erneut zum Schwimmen. »Ich weiß, Yiayia«, sagte sie erstickt. »Aber ich liebe ihn mehr als alles andere auf der Welt. Wenn ich ohne ihn leben muss, will ich lieber gar nicht mehr leben!« Die Vorstellung, Laurenz nie wiederzusehen, ihn ziehen zu lassen und für immer zu verlieren, war wie ein Dolch, der ihr das Herz aus der Brust schnitt. Ein Schluchzen raubte ihr die Stimme.

»Es ist eine Sünde, so zu reden«, schalt ihre Großmutter lahm. Doch dann zog sie ihre Enkelin an sich und presste das tränennasse Gesicht der jungen Frau an ihre Brust.

Als Oliveras Weinen nach beinahe zehn Minuten endlich abebbte, trocknete sie ihr die Wangen. »Du solltest noch ein wenig schlafen«, versetzte sie bedrückt. »Der Schlaf reinigt die Seele.«

Obgleich Olivera vom Weinen erschöpft war, griff sie erneut nach der Hand ihrer Großmutter. »Versprich mir, dass du mir hilfst«, flehte sie. »Versprich es mir.« Die Hoffnung, dass alles gut sein würde, wenn sie wieder erwachte, war wie eine süße Droge.

Eine scheinbare Ewigkeit verstrich, ohne dass die alte Frau etwas sagte. Dann ließ sie vernehmbar die Luft durch die Nase entweichen und entgegnete: »Ich verspreche, dass ich mit deinem Vater reden werde. Mehr kann ich dir nicht versprechen. Und jetzt schlaf und sammle Kräfte. Wenn du wirklich die Frau dieses Laurenz werden willst, wirst du schon bald zu einer sehr anstrengenden Reise aufbrechen.« Trauer schwang in ihren Worten mit.

Olivera spürte den Stachel der Reue. Dieser verlor jedoch an Schärfe, als ihre Yiayia sich erhob und Anstalten machte, die Kammer zu verlassen. Vielleicht würde ihr sehnlichster Wunsch schon bald in Erfüllung gehen!

*

Als ihre Yiayia am nächsten Tag zu ihr kam, um ihre Wunde zu versorgen, schüttelte sie den Kopf, bevor Olivera in sie dringen konnte.

»Ich habe ihn noch nicht gesprochen. Er ist sehr beschäftigt.«

Es kostete Olivera einige Mühe, ihre Enttäuschung zu schlucken. Doch ein Blick in die Augen ihrer Großmutter sagte ihr, dass diese ihr Versprechen nicht vergessen würde. Behutsam half die alte Frau Olivera, sich aufzusetzen und etwas zu essen. Dann trug sie eine kühlende Salbe auf den Hinterkopf ihrer Enkelin auf und bettete diese wieder in den Kissen. Eine Zeitlang saß sie schweigend auf der Bettkante, während Olivera ihre Hand hielt und gegen die überwältigende Müdigkeit ankämpfte. Es ist wie früher, dachte sie, während der Daumen ihrer Großmutter immer und immer wieder über ihren Handrücken strich. Die Geborgenheit, die sie allein durch die Gegenwart ihrer Yiayia empfand, sorgte dafür, dass sie sich unvermittelt in ihre Kindheit zurückversetzt fühlte; zu dem Tag, an dem ihre Mamá zu Gott gegangen war. Damals hatte sie nicht begreifen können, warum es nicht mehr ihre Mutter war, die sie abends zu Bett brachte. Aber irgendwann hatte sie aufgehört, sich in den Schlaf zu weinen und ihre Yiayia war an die Stelle der Frau getreten, an die sie sich kaum mehr erinnern konnte. Eine Weile ließ sie sich treiben und versuchte, in Gedanken zu längst vergessenen Tagen zurückzukehren.

 

»Hast du Pappous geliebt, Yiayia?«, fragte sie plötzlich. Sie wusste nicht, wo die Frage herkam, nur dass sie ihr auf einmal durch den Kopf schoss.

Ihre Großmutter wandte den Kopf und blickte versonnen auf sie hinab. »Ja«, gab sie nach einigen Momenten zurück. »Auf eine Art habe ich ihn geliebt.«

Olivera runzelte die Stirn. Was meinte ihre Yiayia damit? Konnte man einen Mann anders lieben, als sie Laurenz liebte?

»Wir waren einander seit unserer Kindheit versprochen«, fuhr ihre Großmutter fort. »Als ich mit ihm vor dem Altar stand, wusste ich nicht, was ich für ihn empfinden sollte.« Sie lächelte schwach. »Er war kein einfacher Mann. Aber irgendwann habe ich wohl angefangen, ihn zu lieben.«

»Wie wusstest du, dass er dich auch liebt?«, fragte Olivera.

»Das wusste ich erst, als er in meinen Armen gestorben ist«, war die rätselhafte Antwort. Die alte Griechin erhob sich und drückte Olivera einen Kuss auf die Handfläche. »Ich liebe dich, Kind. Du bist wie eine Tochter für mich.« Sie strich Olivera eine Strähne aus dem Gesicht. »Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du glücklich wirst.«

Oliveras Augen füllten sich mit Tränen.

»Schlaf noch etwas«, sagte ihre Yiayia. »Ich sehe später noch einmal nach dir.« Mit diesen Worten ließ sie ihre Enkelin allein und verließ leise die Kammer.

Kapitel 10

Konstantinopel, Juli 1408

Vier Tage später war Olivera wieder auf den Beinen. Ihr Kopf schmerzte nur noch gelegentlich, und der Medicus hatte erklärt, dass die Wunde gut verheilte. Zur Sicherheit trug ihre Großmutter täglich zweimal etwas Goldene Wundsalbe auf – damit sich keine Fäulnis bilden konnte. Am Vortag hatte eine der Mägde den wundersamen Vogel in Oliveras Kammer gebracht, damit sie sich an seinen Kunststücken ergötzen konnte. Wenngleich ihre Großmutter das Tier mit einem missfälligen Blick bedacht hatte, war ihm ein Platz auf Oliveras Fensterbank zuteil geworden. Im Augenblick kletterte der Vogel mithilfe seiner Krallen und seines Schnabels an den Stäben des Käfigs empor und beobachtete Olivera mit klugen Augen.

»Was bist du doch für ein lustiger Kerl«, sagte sie mit einem Schmunzeln. Sie steckte vorsichtig den Finger durch die Gitterstäbe und strich über seinen grauen Kopf.

»Kerl«, wiederholte das Tier. Es gab ein Geräusch von sich, das klang wie das Klappern von Geschirr.

Olivera lachte. »Wie soll ich dich nennen?«, fragte sie ihn.

Er rieb den Kopf an ihrem Finger. Doch bevor sie sich einen geeigneten Namen für ihn überlegen konnte, öffnete sich die Tür und ihre Großmutter erschien auf der Schwelle. Etwas an ihrer Haltung, an der Art, wie sie die Hände vor dem Bauch faltete, verriet Olivera, dass sie endlich mit ihrem Vater gesprochen hatte. Augenblicklich zog sich das Herz der jungen Frau zusammen. Wenngleich sie versucht hatte, die Aufregung zu verdrängen, kehrte diese mit ganzer Macht zurück. Plötzlich war der Vogel vergessen. Alles schien unwichtig außer dem, was ihre Großmutter ihr mitzuteilen hatte.

»Was hat er gesagt?«, fragte sie atemlos. Ihre Beine fühlten sich mit einem Mal seltsam schwach an. Alles, ihre Zukunft, ihr ganzes Leben hing von der Antwort ihrer Yiayia ab. Sie spürte, wie sich ihr Innerstes verkrampfte.

Das Gesicht der alten Frau wirkte traurig. Und es war diese Traurigkeit, die Olivera hoffen ließ. Einige zermürbende Augenblicke lang schwieg ihre Großmutter, bis sie schließlich tief Luft holte und verkündete: »Dein Vater wird mit dem jungen Mann sprechen. Wenn seine Forderung die Mitgift betreffend nicht zu hoch ist, wirst du seine Frau.«

Olivera stieß einen kleinen Schrei aus. Übermütige Freude schlug wie eine Woge über ihr zusammen. Die Schwere der vergangenen Tage fiel von ihr ab und ein überwältigendes Gefühl der Leichtigkeit ergriff Besitz von ihr. »Oh, barmherziger Vater im Himmel, ich danke dir«, flüsterte sie. Halb kopflos vor Glückseligkeit flog sie auf ihre Großmutter zu und fiel ihr um den Hals. »Danke, Yiayia. Danke, danke, danke!«, jubelte sie.

»Noch ist es nicht so weit«, wandte ihre Großmutter ein. Sie machte sich von ihrer Enkelin los. »Wie ich deinen Vater kenne, wird es Tage dauern, bis er Zeit dafür findet.«

Mit dieser Vermutung hatte sie allerdings unrecht. Keine zwei Stunden später schickte der Hausherr nach seiner Tochter. Diese befand sich inzwischen mit ihrer Großmutter in der Salbenküche, um Zutaten für empfängnisfördernde Tränke zu mischen.

»Er will Euch unter vier Augen sprechen«, ließ die ausgesandte Magd Olivera wissen.

Ihre Großmutter verzog erstaunt das Gesicht. »Dann solltest du ihn nicht warten lassen«, riet sie.

Das ließ Olivera sich nicht zweimal sagen. Hastig legte sie das Büschel getrockneter Wacholderbeeren in ihrer Hand zur Seite und wusch sich in einer Schale den Schmutz von den Fingern. Sie zitterte so sehr, dass sie um ein Haar das Gefäß umgestoßen hätte. Schwindelig vor Aufregung folgte sie wenig später dem Mädchen über den Hof zum Kontor ihres Vaters, der über einen Stapel Briefe gebeugt an seinem Schreibtisch saß. Als seine Tochter den Raum betrat, hob er kurz den Kopf und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sich zu setzen. Endlose Minuten verstrichen, bis er schließlich das letzte Schreiben zur Seite legte und aufblickte.

Er betrachtete seine Tochter mit geschürzten Lippen. »Dein Wohlergehen ist gefährdet, wenn du dich nicht bald vermählst, habe ich gehört«, kam er ohne Umschweife zum Thema. Er erhob sich und ließ einige Male die Schultern kreisen, um eine Verspannung in seinem Nacken loszuwerden.

Olivera nickte stumm.

»Loukia meinte, Laurenz Nidhard könnte der geeignete Gemahl für dich sein. Was sagst du dazu?«, fragte er.

Olivera glaubte, ihren Ohren nicht richtig zu trauen. Fragte ihr Vater sie tatsächlich nach ihrer Meinung? Sie schlug bescheiden die Augen nieder und murmelte: »Was immer du befiehlst, Baba.«

Ihr Vater schien zu überlegen. Schließlich klatschte er in die Hände und verkündete: »Dann sollte ich Laurenz wohl einfach fragen, was er davon hält.« Er ging zur Tür und rief einen seiner Knechte herbei: »Bring Laurenz zu mir. Sag ihm, es geht um etwas Geschäftliches.« Mit diesen Worten kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück und ignorierte seine Tochter, bis es einige Zeit später klopfte. »Kommt herein.«

*

Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte Philippos, wie Laurenz den Raum betrat und überrascht innehielt, sobald er Olivera erblickte. Das Aufleuchten seiner Augen verriet dem Griechen, was er bereits vermutet hatte: Er würde leichtes Spiel haben mit dem jungen Mann. Es kostete ihn einige Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen – allerdings wollte er mit keiner Regung verraten, wie sehr ihm gefiel, was er sah. Zuerst hatte er die Bitte seiner Mutter Loukia rundweg abschlagen wollen. Schließlich hatte er bereits deutlich gemacht, dass Olivera sich noch gedulden musste! Doch dann war ihm klar geworden, dass ihm kaum etwas Besseres passieren konnte. Wenn er seine Tochter mit Laurenz vermählte, würde er ihn für immer an sich binden. Der zunehmende Widerwille des jungen Deutschen war ihm nicht entgangen. Offenbar gefiel diesem schon lange nicht mehr, was sie taten, auch wenn er sich dabei eine goldene Nase verdienen konnte. Zu deutlich waren die Skrupel im Gesicht des Burschen zu lesen gewesen, als er die Kopfreliquiare beäugt hatte, als wären sie giftig. Was war denn schon dabei? Starben nicht ständig Menschen, um deren Verbleib sich niemand scherte? Was machte es da schon, wenn Leute wie er, der Goldschmied und Laurenz’ Auftraggeber Profit aus den Körpern dieser ohnehin von Gott Verstoßenen schlugen? Er schüttelte die Gedanken ab und trat auf Laurenz zu. Dessen Blick lag verstohlen auf Olivera. Er fuhr schuldbewusst zusammen, als Philippos sich ihm näherte.

»Du darfst gehen«, sagte dieser an seine Tochter gewandt.

Zufrieden registrierte er, wie Laurenz jeder ihrer Bewegungen mit den Augen folgte. So, wie der Junge Olivera ansah, würde sich die Mitgift sicherlich zu Philippos’ Vorteil aushandeln lassen. Er rieb sich innerlich die Hände.

»Habt Ihr jemals daran gedacht, Euch zu vermählen?«, fragte er gespielt beiläufig.

Laurenz erbleichte zuerst, dann schoss ihm das Blut in die Wangen. »Mich zu vermählen?«, stammelte er. »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Warum fragt Ihr?«, erkundigte er sich scheinheilig, aber sein Ton verriet ihn.

»Hm«, erwiderte Philippos. Auf keinen Fall durfte er zu eifrig erscheinen! Daher winkte er ab und hob entschuldigend die Schultern. »Nur eine Frage. Wenn Ihr nicht vorhabt, Euch zu verheiraten, ist sie nicht von Interesse.« Er steuerte auf die Tür zu, welche zu der Kammer neben der Treppe führte. Diese war inzwischen bis zum Bersten vollgestopft mit Kisten, da der Goldschmied eine weitere Ladung Behältnisse geliefert hatte. »Ich wollte Euch die neuen Armreliquiare zeigen«, log er und bedeutete Laurenz, eine Öllampe vom Tisch mitzubringen. »Andreas meint, in spätestens einer Woche könnt Ihr aufbrechen.«

Er hörte, wie sich der Atem des jungen Mannes beschleunigte. Philippos’ Mundwinkel zuckten, aber er zwang sich, ernst zu bleiben. Nur, wenn Laurenz den Köder von selbst schluckte, würde sich das Geschäft so abwickeln lassen, wie Philippos es sich vorstellte. Sonst würde ihn die Hochzeit seiner Tochter Unsummen kosten – und das konnte und wollte er sich im Moment nicht leisten. Sie begehrte diesen Mann, also würde er dafür sorgen, dass sie ihn bekam. Dass auch ihm ein Vorteil aus dieser Verbindung erwuchs, bereitete ihm keinerlei Gewissensbisse. Immerhin zwang er seine Tochter nicht dazu, einen Mann zu heiraten, den sie verabscheute! »Was sagt Ihr zu diesem Meisterwerk«, fragte er und griff nach einem edelsteinbesetzten, goldenen Arm. »Ist es nicht atemberaubend?«