Die Salbenmacherin

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Ich weiß nicht, wie er es bewerkstelligt, dass sein Glas keine Verfärbungen aufweist«, sagte Philippos, als sie ihre Pferde wieder bestiegen. »Für mich grenzt es beinahe an Hexenwerk.« Er lachte, als er den Ausdruck auf Laurenz’ Gesicht sah. »Keine Sorge, es geht alles mit rechten Dingen zu.«

Laurenz ärgerte sich über das belustigte Funkeln in den Augen des Griechen. Um sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihm das Gerede von Hexen war, gab er seinem Hengst die Sporen und trabte einige Schritte voraus. Obschon die Sonne höher am Himmel stand als bei ihrer Ankunft, erschien ihm die Hitze nach der stickigen Glashütte weniger drückend. Die Luft wirkte beinahe frisch. Während der Zeit, die sie bei dem Phiolarius verbracht hatten, waren die Straßen voller geworden. Dutzende von Fuhrwerken schlängelten sich vom Hafen die Straßen hinauf und überall hatten fliegende Händler ihre Stände errichtet. Bunt gekleidete Frauen in offenen Sänften zogen genauso die Blicke auf sich wie das funkelnde Geschirr der Kamele und Pferde. Überall wieselten Boten zwischen den Beinen der Zug- und Reittiere hindurch, während die Marktschreier lautstark ihre Ware feilboten. Wesentlich langsamer als auf dem Hinweg legten Philippos und Laurenz die wenigen Meilen zum Haus des Griechen zurück. Auch dort herrschte inzwischen reges Treiben, weshalb Philippos sich kurz nach ihrer Ankunft von Laurenz verabschiedete. Allein mit den Knechten sah er sich unschlüssig im Hof um. Was sollte er jetzt anfangen? Sein Blick suchte den überdachten Gang im ersten Stock ab. Doch egal, wie sehr er sich anstrengte, es war weit und breit kein Zeichen von Olivera zu entdecken.

Kapitel 5

Konstantinopel, Juli 1408

Beinahe drei Tage vergingen, ehe Olivera Laurenz wieder aus der Nähe sah. Drei Tage voller Unsicherheit, Ärger und Sehnsucht. Zwar hatte sie ihn mehr als einmal aus der Ferne erspäht, allerdings nie länger als ein paar flüchtige Augenblicke.

»Es ist besser, wenn die Männer ihre Angelegenheiten ohne uns besprechen«, wiederholte ihre Yiayia am Morgen des dritten Tages die Ansicht, die drohte, Olivera in die Verzweiflung zu treiben. Wie um Himmels willen sollte sie Laurenz betören, wenn sie keine Gelegenheit dazu hatte? Wie sollte sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen, wenn man sie von ihm fernhielt? Es war zum Verrücktwerden!

»Ich fürchte, wir müssen auf den Markt«, murmelte ihre Großmutter – blind für den Aufruhr, der in ihrer Enkelin herrschte. Sie hob den Deckel eines großen Tongefäßes und kippte es, um besser hineinsehen zu können. Seit über zwei Stunden standen sie und Olivera bereits wieder in der Arzneiküche und bereiteten die Salben und Tinkturen zu, die Oliveras Vater im Laden verkaufte.

»Der Medicus hat Kyphi bestellt und ich habe kaum mehr genügend Zutaten«, stellte die alte Frau nach einigem Graben in weiteren Behältern fest. »Mir scheint, ohne Kyphi würde er bei so manch eingebildetem Kranken nicht wissen, was er tun soll.« Sie lachte leise, und Olivera musste wider Willen ebenfalls schmunzeln.

Das uralte Allheilmittel, das teils als Trank verabreicht, teils als Mittel zur Einreibung verwendet wurde, erfreute sich äußerster Beliebtheit bei den reichen Patienten. Vermutlich lag es daran, dass es sündhaft teuer war, dachte Olivera nicht zum ersten Mal.

»Außerdem haben wir kaum noch Amber«, stellte ihre Yiayia nach dem Anheben von drei weiteren Deckeln fest. Sie griff nach einem kleinen Büchlein und einem Federkiel. »Steig auf die Leiter und sieh nach, was sonst noch fehlt«, trug sie ihrer Enkelin auf. Olivera tat, wie geheißen, und schon bald hielt ihre Großmutter eine lange Liste in der Hand.

»Mastix, Eisenkraut, Kardamon, Galgantwurzel, Zimtrinde, Iris, Zeder, Myrrhe, Benzoe und Dachsfett«, las die alte Frau vor. Sie tauchte den Federkiel erneut in die Tinte und murmelte: »Alraune, Schwefel und Mohn werden auch immer benötigt.« Ihr Blick glitt über die kleinen Gefäße, welche die Wand neben der größeren der beiden Feuerstellen säumten. »Und vom Süßholz ist auch nicht mehr so viel da, wie ich dachte.«

Olivera trat schuldbewusst einen Schritt zurück. Hoffentlich sah ihre Großmutter ihr das schlechte Gewissen nicht an, das sie bei diesen Worten auf die Lippe beißen ließ! Ihre Hand wanderte zu dem Säckchen in ihrer Tasche. Wenn doch nur endlich der geeignete Moment kommen würde! Sie sah resigniert dabei zu, wie ihre Yiayia die Liste vervollständigte. Wie lange würde Laurenz noch in Konstantinopel sein? Wie viel Zeit blieb ihr noch, um ihn an sich zu binden und ihr Ziel zu erreichen? War es dafür bald schon zu spät? Am liebsten hätte sie ihrer Enttäuschung lautstark Luft gemacht.

»Lauf und sage den Sänftenträgern, dass wir in einer halben Stunde aufbrechen wollen«, unterbrach die Stimme ihrer Großmutter ihr Brüten. »Und bring eine Flasche Wasser mit, es ist schon wieder so furchtbar heiß.«

Froh, der Arzneiküche zu entkommen, drückte Olivera sich durch die Tür nach draußen, wo sie sich unauffällig nach Laurenz umsah. Der Hof wimmelte an diesem Tag nur so von Läufern, Trägern, Fuhrwerken und Knechten, sodass es eine Weile dauerte, bis sie ihn im Schatten des Torbogens entdeckte. Dort steckte er den Kopf mit einem seiner Begleiter zusammen. Beide gestikulierten in Richtung Stadt. Sein Anblick sandte das inzwischen wohlbekannte Gefühl durch Oliveras Körper und sorgte dafür, dass ihre Beine sich plötzlich schwach anfühlten. Warum sehnte sie sich nur so entsetzlich danach, ihn zu berühren? Die Finger über seine hellen Wangen gleiten zu lassen und seine Lippen auf den ihren zu spüren? Sie unterdrückte ein Stöhnen und biss die Zähne aufeinander. Ein unsinniger Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sie war genauso sündig wie Eva im Paradies! Vermutlich hatte diese den Apfel genauso schmerzlich begehrt wie sie den Mann, der sich Nacht für Nacht in ihre Träume schlich. Als er den Kopf hob und zu ihr hinübersah, war es beinahe, als würde sein Blick sie verbrennen. Einen Augenblick lang stand sie reglos da und starrte ihn an, bevor sie sich einen Ruck gab und sich auf unsicheren Beinen wieder in Bewegung setzte. Vorbei an Brunnen und Kräutergarten, überquerte sie den Hof, schlug die Augen nieder und floh in die Küche. Sobald sie eine Holzflasche für ihre Großmutter gefüllt hatte, drückte sie sich durch einen Seitenausgang zurück ins Freie und machte sich auf den Weg zum Lager. Dort waren die Männer ihres Vaters damit beschäftigt, Säcke, Ballen und Kisten zu stapeln. Doch als Olivera die Sänftenträger ausfindig gemacht hatte und ihnen auftrug, in einer halben Stunde zum Aufbruch bereit zu sein, schüttelte der Ältere der beiden bedauernd den Kopf.

»Es tut mir leid«, sagte er, »aber da müsst Ihr erst Euren Vater fragen.« Er wies mit dem Kinn auf den hinteren Teil des Gebäudes, wo sich das Tuchlager befand. »Er hat ausdrücklich befohlen, die Waren heute noch zu verstauen.«

Olivera wandte den Kopf und zählte die Wagen. Fünf Fuhrwerke – übermannshoch beladen – würden die Knechte bis in den Nachmittag hinein beschäftigen. Der Träger zuckte entschuldigend die Achseln. Er bückte sich nach einem Sack. Diesen warf er sich schnaufend über die Schulter, dann verschwand er in einer der engen Gasse zwischen den Warenbergen.

»Ich könnte Euch und Eure Großmutter begleiten.« Die Stimme erklang so dicht hinter ihr, dass sie mit einem leisen Schrei zusammenfuhr. »Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken«, sagte Laurenz, der sich ihr lautlos genähert hatte.

Als sie zu ihm aufblickte und das Lachen in seinen Augen sah, schoss ein Gefühl wie flüssiges Feuer durch ihre Adern. Amüsiert musterte er sie von oben bis unten und zu ihrem grenzenlosen Ärger wurde ihr klar, dass sie schon wieder errötet sein musste. »Natürlich kann ich keine Sänfte tragen«, scherzte er. »Aber als Geleitschutz wären ich und meine Männer gewiss zu gebrauchen.«

Olivera wollte ihn anlächeln, aber der Versuch misslang kläglich. Zu heftig hämmerte das Herz in ihrer Brust. Ihre Gesichtsmuskeln schienen ihr nicht mehr gehorchen zu wollen. Hilflos rang sie nach Worten, nach irgendetwas, das Eindruck auf ihn machen würde. Aber ihr Kopf war wie leer gefegt.

»Wo bleibst du, Kind?«, errettete ihre Großmutter sie nach einer scheinbaren Ewigkeit schließlich aus der peinlichen Lage. Wie ein schwarzer Racheengel kam diese über den Hof geeilt – erstaunlich flink für ihr Alter – und baute sich vor Laurenz auf. »Hatte ich nicht gesagt, du sollst die Sänfte bereitmachen lassen?«, schalt sie ihre Enkelin. Sie musterte den jungen Mann kühl und schob Olivera zur Seite.

»Vergebt mir«, sagte Laurenz mit einem bezaubernden Lächeln. »Ich habe sie aufgehalten. Aber …«

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, da Oliveras Großmutter ihm mit einer ungehaltenen Geste das Wort abschnitt.

»Geh zurück ins Haus, Kind«, befahl die alte Frau. Doch Oliveras Beine wollten ihr nicht gehorchen. Ehe ihre Yiayia weiter schimpfen konnte, erklang der Bass ihres Vaters aus den Tiefen des Lagerhauses.

»Was ist hier los?«, fragte er mit einem Stirnrunzeln. »Ihr streitet doch nicht etwa?« Sein Blick wanderte von dem missfälligen Gesicht seiner Mutter zu dem betreten dastehenden jungen Mann.

»Ich habe den Damen angeboten, sie zu begleiten«, erwiderte Laurenz, der sich erstaunlich schnell wieder fasste. »Da die Träger beschäftigt sind …« Er zuckte die Achseln.

»Und du hast etwas dagegen?«, fragte Oliveras Vater die Großmutter des Mädchens.

Die alte Dame presste die Lippen aufeinander. »Es ist nicht schicklich«, murmelte sie, was dem Hausherrn ein Lachen entlockte.

»Schicklich, schicklich«, prustete er und schüttelte den Kopf. »Wenn du seine Begleitung nicht willst, dann müssen deine Einkäufe eben bis übermorgen warten. Ich kann keinen Mann entbehren.« Er machte Anstalten, sich abzuwenden.

 

»Was sollen die Leute denken?«, schoss Oliveras Großmutter zurück.

»Nichts!«, war die Antwort, die nun auch Olivera schmunzeln ließ. »Viele Damen gehen in Begleitung zum Markt. Man wird Euch überhaupt keine Aufmerksamkeit zollen.« Er verdrehte die Augen. An Laurenz gewandt sagte er: »Das wird Euch auch ein wenig zerstreuen. Begleitet die beiden und lasst Euch von ihnen den Basar zeigen.« Mit diesen Worten ließ er die kleine Gruppe stehen. Kurz darauf wurde er von den Schatten im Inneren des Gebäudes verschluckt.

»Ich bin sofort wieder bei Euch«, entschuldigte Laurenz sich mit einer artigen kleinen Verneigung und eilte davon.

»Dein Vater ist ein Narr!«, erboste sich Oliveras Großmutter. »So etwas muss zu Gerede führen!« Die Falten um ihren Mund vertieften sich, als sie die Lippen aufeinanderpresste. »Diese Dummheit wird er noch bitter bereuen.«

Olivera schwieg. Zu viele unterschiedliche Gefühle hielten Widerstreit in ihr – Freude, Überraschung und Ärger über ihre Tölpelhaftigkeit. Warum hatte er nur diese Wirkung auf sie? Weshalb kam sie sich in seiner Nähe immer so ungeschickt und unscheinbar vor? Und wieso, in drei Teufels Namen, musste sie immer rot anlaufen wie eine Erdbeere, wenn er sie ansah? Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt. Mit albernem Gestotter würde sie ganz sicher keinen Eindruck auf ihn machen! Bevor sie sich weiter selbst zürnen konnte, erschien Laurenz wieder – gefolgt von zwei Begleitern.

»Ich nehme an, Ihr wollt zu Fuß gehen, nicht reiten?«, fragte er an Oliveras Yiayia gewandt. Diese nickte ungnädig. »Dann sagt mir, wohin Ihr wollt«, setzte Laurenz hinzu. Scheinbar beeindruckte ihn die abweisende Haltung der alten Frau nicht im Geringsten, da Olivera deutlich den Schalk in seinen Augen aufblitzen sah.

*

Nur mit Mühe verkniff Laurenz sich ein Lachen. Hätten Blicke töten können, wäre er ganz gewiss an Ort und Stelle ins Herz getroffen zu Boden gesunken. Der Missmut des alten Drachen hing beinahe greifbar in der Luft. Allerdings interessierten ihn die Gefühle der vertrockneten Vettel nicht im Geringsten. Alles, woran ihm etwas lag, war mit der bezaubernden Tochter des Hausherrn an seiner Seite über einen Markt zu schlendern, dessen Warenangebot ihm vollkommen gleichgültig war. Drei Tage lang hatte er vergeblich darauf gehofft, das Mädchen wiederzusehen. Doch selbst den Mahlzeiten waren die Damen ferngeblieben. Wodurch ihm der Aufenthalt in Konstantinopel erneut zuwider geworden war. Noch immer hielt der Goldschmied ihn hin, vertröstete ihn von einem Tag auf den anderen. »Bald, bald«, waren die Worte, die Laurenz allmählich an den Rand der Geduld brachten. Allerdings war ihm der Goldschmied im Augenblick so egal wie das Wetter im fernen Indien. Alles, was ihn in diesem Moment interessierte, war die feine Röte auf den Wangen seiner jungen Begleiterin; die schamhaft niedergeschlagenen Augen und das Heben und Senken ihrer Brust. Diese – sittsam verborgen unter einem senfgelben Gewand – zog seine Blicke immer wieder an. Genauso wie ihre wohlgerundete Rückseite, die ihm so verlockend erschien wie eine köstliche Frucht. Das Keifen der alten Hexe ließ die Gedanken an seidige Haut und pralle Rundungen allerdings verpuffen wie Rauch in einem Sturm. »Habt Ihr nicht gehört?«, fauchte sie.

Nein, dachte Laurenz. Laut sagte er: »Was immer Ihr wünscht«, und bot der alten Frau den Arm.

»Meine Enkelin wird mich stützen«, versetzte diese bissig und streckte besitzergreifend die Hand aus.

Als Olivera sich ein wenig vornüberbeugte, um ihrer Großmutter einen Korb abzunehmen und eine Flasche hineinzulegen, spannte sich der Stoff ihres Kleides. Laurenz ballte die Hände zu Fäusten, da sich ihre Hinterbacken deutlich unter der fließenden Seide abzeichneten.

Wie gerne er diese Verlockung von dem störenden Stoff befreien und mit seinen Händen erkunden würde! Er trat verstohlen von einem Fuß auf den anderen, da seine Männlichkeit sich stürmisch zu Wort meldete. Um keine Aufmerksamkeit auf den allzu freiliegenden Latz seiner Hose zu ziehen, faltete er hastig die Hände davor und setzte ein lammfrommes Gesicht auf. Vielleicht hätte er doch eine etwas längere Schecke anziehen sollen, dachte er. Wenn Olivera weiterhin eine solche Wirkung auf ihn ausübte, würde die alte Giftschlange ansonsten ganz sicher sehen, was in seinem Kopf vorging.

»Worauf wartet Ihr denn?«, fragte diese eisig. Etwas Unverständliches murmelnd zog sie ihre Enkelin auf das Hoftor zu. Und schon bald tauchten sie ein in das Gewimmel der breiten Straße, auf der neben Reitern und Fußvolk auch zahllose Fuhrwerke in Richtung Süden strömten. Wie vor drei Tagen steuerte Laurenz auf die Mauer zu, welche die reichen Viertel unten am Hafen umgab. In der Ferne konnte er bereits das Glitzern des Marmarameeres ausmachen, auf dem auch am heutigen Tag ein Wald aus Segeln im Wind schaukelte. Nach einigen hundert Schritten erreichten sie den Eingang des Venezianischen Viertels, und augenblicklich wurde das Getümmel noch dichter. Es war Laurenz bereits auf dem Weg zum Phiolarius aufgefallen, aber heute war der Eindruck noch stärker: Anders als im nördlich von ihnen gelegenen Teil der Stadt wirkte hier nichts vernachlässigt oder heruntergekommen. Während weiter landeinwärts ausgedehnte Obstgärten und Felder die Stadtteile voneinander trennten, pulsierte vor ihnen das Leben, egal wohin man sah. Die eng gedrängten Häuser und Warenspeicher ließen keinen Platz für Ziegen, wilde Rosenbüsche oder kleine Wäldchen. Und nach Ruinen oder halb verfallenen Häusern würde man hier vergebens suchen. Er blickte sich bewundernd um, als sie ein Haus mit schneeweißen Säulen passierten. Doch seine Bewunderung verwandelte sich innerhalb eines einzigen Lidschlages in heißen Schrecken. Es gelang ihm gerade noch, einen Warnruf auszustoßen, als sich ein Fass von der Ladefläche eines vorbeirumpelnden Fuhrwerkes löste.

»Gebt acht!«, rief er. Mit einem Satz war er bei den Damen und zog sie zur Seite, kurz bevor das Weinfass dort zerbarst, wo sie eben noch gestanden hatten. Ein Schwall seines Inhaltes ergoss sich über Oliveras Großmutter und durchnässte sie bis auf die Knochen. Ihre Enkelin hingegen kam mit einem feuchten Rocksaum davon, da sie ein Stückchen weiter getaumelt war, als die alte Frau.

»Oh, Heilige Mutter Gottes!«, zeterte es dicht an Laurenz’ Ohr. »Wie soll ich denn so auf den Markt gehen? Wir müssen augenblicklich wieder umkehren!«

Kapitel 6

Konstantinopel, Juli 1408

Oliveras Herz hämmerte in ihrer Kehle. Der Schreck war ihr bis ins Mark gefahren und ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Fassungslos verfolgte sie, wie der Kerl auf dem Bock des Wagens diesen ungerührt weiter durch die Menschenmenge lenkte und sich nicht einmal nach ihnen umsah. Hatte er denn nicht bemerkt, dass eines seiner Fässer sie um ein Haar erschlagen hätte? Sie wischte sich mit zitternden Händen einen Tropfen Wein aus dem Gesicht.

»Bringt uns zurück!«, hörte sie ihre Yiayia schimpfen. »Was für ein Tölpel!« Trotz ihres Zorns war das Gesicht der alten Frau totenbleich und ihre Lippen bebten. »Bitte«, fügte sie leise hinzu, dann sackte sie in die Knie. Hätte Laurenz sie nicht gestützt, wäre sie im Staub gelandet.

»Meine Männer werden Euch nach Hause begleiten«, hörte Olivera ihn sagen. »Aber erlaubt mir, mit Eurer Enkelin die Einkäufe zu tätigen, die Ihr machen wolltet.«

Olivera sah, wie sich der Mund ihrer Großmutter zu einem Protest öffnete. Doch dann nickte sie und sagte resigniert: »Ihr habt recht. Ich brauche die Zutaten dringend.« Sie überlegte einige Augenblicke lang. Schließlich befreite sie sich von Laurenz’ Griff und rang darum, ihre Fassung wiederzuerlangen. »Du kommst mit mir«, sagte sie an einen der Knechte gewandt. »Und du wirst mit ihnen gehen.« Ihr Finger bohrte sich in die Brust des zweiten Mannes. Sie trat auf ihre Enkelin zu und kramte in der Tasche ihres Obergewandes, bis sie ein gefaltetes Blatt Papier zutage förderte. »Hier.« Sie drückte Olivera die Liste und eine Geldkatze in die Hand. »Du findest alles bei Muzaffer, dem Osmanen. Sag ihm, dass ich dich geschickt habe. Dann wird er nicht versuchen, den Preis in die Höhe zu treiben.« Ihre Augen bohrten sich in die des Mädchens. »Es sollte nicht länger als eine Stunde dauern, die Besorgungen zu machen«, fügte sie hinzu. Die Warnung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Olivera nahm ihr das Papier aus der Hand und versprach: »Wir sind zurück, ehe du den Wein aus deinem Haar gewaschen hast.« Sie beugte sich zu ihrer Yiayia hinab und küsste sie auf die Stirn. »Mach dir keine Sorgen.«

Als ihre Großmutter wenig später in der Menge verschwand, überkam Olivera ein seltsames Gefühl der Freiheit. Noch niemals zuvor war es ihr gestattet gewesen, alleine Einkäufe zu tätigen! Bevor sie richtig begreifen konnte, was sie empfand, fasste Laurenz sie am Arm und fragte mit einem Lachen in den Augen: »Wohin darf ich Euch zuerst geleiten?«

Olivera wusste genau, dass sie schon wieder die Farbe gewechselt hatte. Doch in diesem Augenblick schien das, was ihr sonst so viel Ärger bereitete, bedeutungslos. Alles, was zählte, war der Mann an ihrer Seite! Sie hob den Kopf und sah ihm das erste Mal direkt und ohne Scheu in die Augen.

»Der Basar ist dort hinten«, erwiderte sie. »Dort, wo die Fahnen zu sehen sind«, fügte sie hinzu.

Laurenz nickte. »Dann lasst uns keine Zeit verschwenden. Sonst wird Eure Großmutter böse.« Er grinste. »Und das wollen wir ganz gewiss vermeiden.«

Sein Grinsen steckte an. Olivera spürte Übermut in sich aufsteigen, fühlte, wie es in ihr brodelte und schäumte wie in einer Flasche mit Seifenlauge. Am liebsten wäre sie wie ein Kind davongestürmt und hätte ihn mit sich gezogen, so wie sie es früher oft mit ihren Brüdern getan hatte. Da sie sich jedoch vor ihm und seinem Knecht nicht völlig zum Narren machen wollte, rang sie die Ausgelassenheit nieder. »Der Eingang ist neben dem großen Kornspeicher«, sagte sie stattdessen gezwungen ruhig. Sie deutete auf ein Gebäude, dessen Dach alle anderen Gebäude überragte. »Muzaffers Laden muss ganz in der Nähe sein.« Jedenfalls hoffte sie, dass ihre Erinnerung sie nicht täuschte.

Da sie ihre Großmutter erst einige Male auf den Markt begleitet hatte, war sie sich nicht ganz sicher, ob sie den Drogisten auf Anhieb finden würde. Derweil Laurenz sie behutsam zurück auf die Straße dirigierte, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, der den Übermut zurückbrachte. Wenn sie so tat, als ob sie nicht wüsste, wo Muzaffers Stand sich befand, konnte sie den Ausflug vielleicht ausdehnen. Nicht einmal ihre Yiayia würde die Lüge durchschauen, wenn sie nur überzeugend genug war.

»Wartet«, bat sie Laurenz deshalb nach einigen Schritten und gab vor zu überlegen. »Ich glaube, das ist der falsche Eingang.« Sie hob entschuldigend die Schultern. »Es sieht alles so ähnlich aus.« Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und sah sich um. »Wir müssen dorthin«, rief sie schließlich aus und zeigte nach Westen. Auch dort flatterten die Marktfahnen im Wind und lockten scharenweise Käufer an. Neben den Reitern, die im Sattel von Pferden thronten, schaukelten auch einige herausgeputzte Männer und Frauen auf Kamelen auf den Basar zu. Turbane und anderer Kopfputz leuchteten im Licht der Sonne. Die vom Wind herbeigetragenen Duftschwaden ließen Oliveras Nasenflügel zucken. Als sie einer Gruppe reicher Damen in offenen Sänften begegneten, beäugte sie neidisch deren Kleider und schielte eifersüchtig nach Laurenz. Aber dieser würdigte die Paradiesvögel lediglich eines kurzen Blickes, dann kehrten seine Augen zu Olivera zurück.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Pforte des teilweise überdachten Marktes erreichten. Das Gedränge war inzwischen so dicht, dass Olivera und Laurenz sich näher kamen, als es der Anstand erlaubte. Deutlich konnte sie die Wärme seiner Haut durch den dünnen Stoff seines Seidenärmels spüren. Seine Hand, die eigentlich ihren Oberarm umfasst hielt, streifte mehr als einmal ihre Brust – und sandte abwechselnd kalte und heiße Schauer über ihren Rücken. Wenngleich sie sich in einem Meer aus Menschen befanden, war es einen winzigen Augenblick lang, als ob sie mutterseelenallein wären. Dann allerdings zwängte sich ein schmutziger Knabe zwischen ihren Beinen hindurch und der Zauber zerplatzte wie eine Blase.

»Hierher, mein Herr«, rief ein Süßwarenhändler, dessen Auslage klebrig glänzte. »Ihr wollt Eurer Begleiterin doch sicher eine Freude machen«, lockte er. »Kauft ihr ein Kadi-Häppchen. Oder ein Liebesplätzchen.« Er zwinkerte Olivera anzüglich zu. »Einen Marzipanfladen oder einen Amberkamm«, warb er weiter.

 

Laurenz schenkte Olivera einen fragenden Blick. »Möchtet Ihr?«, erkundigte er sich, aber die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte sie. »Sein Honig ist verwässert und in seinen Dattelpasteten sind Steine.« Sie öffnete den Mund und zeigte auf einen ihrer Eckzähne, aus dem ein winziges Stück herausgebrochen war.

Laurenz verzog schmerzhaft das Gesicht, zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Wenig später kämpften sie sich wieder durch die Menschenmenge. Vorbei an Nussverkäufern, weiteren Süßwarenhändlern, Obst-, Fleisch- und Gemüseständen gelangten sie schließlich in einen Teil des Basars, in dem Händler aus aller Herren Länder ihre Spezialitäten anboten. Dort gab es osmanische Quitten, Challani-Pfirsiche, Lotusblumen aus Damaskus und eingesalzene Sperlinge. Außerdem lockten Ochsenaugen, Moschusäpfel und kunterbunt gefiederte Singvögel wahre Schwärme an Neugierigen an.

»Oh, seht nur!«, rief Olivera aus. Sie hatte einen großen grauen Vogel mit rotem Schwanz erspäht, der sie mit wachen Augen musterte. Sein gebogener Schnabel war weit geöffnet. Er gab einen Laut von sich, der klang, wie das Bellen eines Hundes. »Wie ist so etwas möglich?«, fragte sie.

»Möglich?«, wiederholte der Vogel und stieß einen Pfiff aus.

»Dieser Vogel ist etwas ganz Besonderes.« Ohne, dass sie es gemerkt hatten, war der Verkäufer zu ihnen getreten. In seinen Augen glomm Gier. »Könige verlangen nach dieser Art«, prahlte er und steckte den Finger durch die Stäbe des Käfigs.

Anstatt nach ihm zu hacken, wie Olivera vermutet hätte, knabberte der Vogel jedoch lediglich am Finger des Mannes und gackerte wie ein Huhn.

»Für einen halben Schilling gehört er euch.«

Olivera wich erschrocken zurück. »Ein halber Schilling!«, stieß sie hervor. »Das ist ja Wahnsinn!« Für einen Schilling konnte man sich eine ganze Kuh kaufen! Sie riss sich von dem wundersamen Tier los und sah zu Laurenz auf. »Ich glaube, Muzaffers Stand ist im nächsten Gang«, sagte sie mit einem letzten Blick auf den Vogel.

Ehe der Verkäufer das Tier dazu bringen konnte, weitere Kunststücke zum Besten zu geben, tauchten sie bereits erneut in den Strom der Kauflustigen ein. Etwa einen halben Steinwurf von dem Vogelhändler entfernt ragte ein rot-weiß gestreiftes Dach aus Zeltleinwand empor, das Olivera auf den ersten Blick erkannte.

»Wir haben es geschafft«, ließ sie Laurenz wissen. »Das ist Muzaffer.«

Der Mann, der mit Argusaugen über seine Auslage wachte, war klein und mager. Der Turban auf seinem Kopf schien viel zu groß, und sein runzeliges Gesicht wirkte abweisend. Als Olivera vor seinem Stand anhielt, musterte er sie und ihre beiden Begleiter misstrauisch.

»Wenn Ihr Schmuck und Tand sucht, seid Ihr hier falsch«, krächzte er auf Lateinisch. »Bei mir findet Ihr nichts.«

Olivera spürte, wie Laurenz sich versteifte. Daher zog sie eilig die Liste ihrer Großmutter hervor und sagte: »Meine Yiayia Loukia, die Salbenmacherin, schickt mich. Sie benötigt diese Dinge.« Sie reichte ihm das Blatt Papier und wartete, bis er es gelesen hatte.

Er murmelte einige unverständliche Worte. Dann – ohne Olivera weitere Aufmerksamkeit zu zollen – begann er, in aller Seelenruhe Töpfe und Körbe zu öffnen, abzuwiegen und Säckchen zu füllen. Das Ganze dauerte so lange, dass Olivera unruhig wurde. Sie hatten schon viel zu lange getrödelt! Ihre Großmutter wartete vermutlich bereits ungeduldig auf ihre Rückkehr. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, da das Gewimmel hinter ihnen wieder dafür sorgte, dass Laurenz sich dicht an sie drängen musste. Zum Teufel mit ihrem schlechten Gewissen! Auch wenn sie zu Hause der Unwille ihrer Yiayia erwartete, würde sie jede Sekunde dieses Ausfluges auskosten! Um die Folgen konnte sie sich später Gedanken machen. Ein Brummen des Drogisten lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das, was er tat. Mit spitzen Fingern griff der Osmane soeben in ein Behältnis, das menschenförmige Wurzeln enthielt.

»Ich habe nur männliche Alraunen, keine weiblichen«, informierte er sie. »Der Hund ist gestorben, bevor er die weiblichen ernten konnte.«

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Laurenz fragend die Brauen in die Höhe zog. »Jeder, der versucht, eine Alraune zu pflücken, stirbt«, erklärte sie. »Ihr Schrei ist tödlich. Nur ein Hund darf sie mithilfe einer Kette aus dem Boden ziehen. Und auch er stirbt oft, bevor genug geerntet ist.« An den Drogisten gewandt, sagte sie: »Dann gebt mir männliche.« Wenn sie sich recht erinnerte, war das Geschlecht der Pflanze unwichtig für die Herstellung von Tränken. Laurenz schüttelte verwundert den Kopf, verfolgte jedoch offensichtlich fasziniert, wie der Osmane die Wurzeln verpackte und Olivera schließlich alles über den Tisch reichte.

Nachdem sie ihn bezahlt hatte, stieg ein Seufzen in ihr auf. Jetzt, wo alles besorgt war, gab es keinen Grund mehr, länger auf dem Markt zu verweilen. Auch wenn sie am liebsten noch stundenlang mit Laurenz durch die engen Gassen zwischen den Läden geschlendert wäre, rief die Pflicht. Sie ließ sich von dem Knecht die Einkäufe abnehmen und sagte bedauernd: »Meine Großmutter wartet sicher schon auf uns.«

Laurenz’ Gesicht spiegelte ihre eigene Enttäuschung wider. »Dann sollten wir uns schleunigst auf den Heimweg machen«, sagte er mit wenig Begeisterung. Er bahnte ihnen einen Weg durch die Menge, aber als sie einen von Kastanien überschatteten Platz im Herzen des Basars erreichten, hielt er abrupt an. »Würdet Ihr hier auf mich warten?«, fragte er. »Ich habe etwas vergessen.« Er winkte seinen Begleiter herbei und wies auf ein Wasserspiel, in dessen Nähe sich einige Damen ausruhten. »Gib auf sie acht wie auf deinen eigenen Augapfel«, befahl er dem Mann mit einem drohenden Blick.

Und ehe Olivera begriffen hatte, was geschah, war er im Getümmel verschwunden. Was, um alles in der Welt, hatte er vor? Die Antwort auf diese Frage erhielt sie keine zehn Minuten später. Breit grinsend, mit einem abgedeckten Gegenstand in der Hand kehrte Laurenz zu ihnen zurück.

»Was ist das?«, platzte sie neugierig heraus.

»Ein Geschenk für Euch«, erwiderte Laurenz stolz und lachte, als ein Husten unter dem Tuch hervordrang. Olivera riss fassungslos die Augen auf.

»Ihr habt doch nicht etwa …?«, hub sie an.

»Ihr habt doch nicht etwa?«, krächzte es.

Sie schlug die Hand vor den Mund. Er hatte den Vogel für sie gekauft! Einen Augenblick lang war sie sprachlos, dann hauchte sie: »Wie kann ich Euch nur danken?«

Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen sah sie, dass zwei rote Flecken auf den Wangen ihres Begleiters tanzten. Er beugte sich zu ihr hinab und flüsterte dicht an ihrem Ohr: »Ihr könntet mir irgendwann einen Kuss dafür schenken.«

Oliveras Herz machte einen Überschlag. Meinte er das ernst? Hatte er so viel Geld ausgegeben, nur um sich einen Kuss von ihr zu erkaufen? Sein Atem kitzelte sie, und eine Gänsehaut überzog ihre Arme.

Er richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. »Euer Lächeln ist mir Dank genug«, sagte er, als wären die Worte gerade eben nichts weiter als ein Scherz gewesen. Olivera fasste sich an den Kopf – als könne sie dadurch das Schwirren darin unterbinden. Ihre Fingerkuppen wanderten weiter zu der Stelle, an der sein Mund ihr Ohr fast berührt hätte. Sie brannte wie Feuer. Verwirrt und aufgewühlt stand sie einige Momente lang sprachlos da und versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Es war eine ungeheuerliche Bitte! Und doch beinhaltete diese Bitte alles, wovon sie in den vergangenen Tagen jede Nacht geträumt hatte. War es nicht ihr Ziel gewesen, ihn zu betören? Wie im Traum registrierte sie, dass er sie wieder beim Arm fasste und auf den Ausgang zuführte. Was auf dem Weg zurück zum Haus ihres Vaters geschah, wusste sie später nicht mehr. Alles, woran sie sich erinnerte, war, dass sie sich plötzlich im Hof wiederfand – umgeben von wohlbekannten Gesichtern.