Buch lesen: «Lost Spirit»

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Serena S. Murray

Lost Spirit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Impressum neobooks

Kapitel 1

Resigniert sah Maddie ihrer Mutter dabei zu, wie sie im Wohnzimmer hin und her lief und verschiedene Sachen zusammensuchte.

„Du kommst doch heute, oder?“ Debbie Pearson war die Alpha Wölfin ihres Rudels und hatte heute zehn Termine, von denen sie wahrscheinlich nur fünf einhalten konnte. Immerhin hatte der Tag nur vierundzwanzig Stunden.

„Schatz, ich versuche es. Aber du weißt, dass die Meetings mit den Orakeln immer lang dauern können.“

„Mom, heute findet die Ehrung der besten Schüler statt. Ich habe mich wirklich ins Zeug gelegt und bewiesen, dass die älteren Schüler den Jüngeren wirklich helfen können.“ Und das war gar nicht so einfach. Denn obwohl Maddie die nächste Anführerin des Rudels werden sollte, hatte sie sich mit vierzehn die Haare pink gefärbt und beschlossen, ein Studium als Lehrfachkraft zu absolvieren. Sie besaß nicht einen Funken Dominanz in sich, und das hatte sich in den letzten Jahren auch nicht verändert. Dafür waren ihre Haare nun eher Rosa als Pink, und es hatten sich blonde und blaue Strähnen dazu gesellt. Hätte der Ladenbesitzer in der Stadt sie nicht als älteste Tochter von Debbie erkannt, hätte sie jetzt auch noch ein Nasenpiercing.

„Ich weiß, ich weiß“, antwortete ihre Mutter seufzend. Dunkle Augenringe verrieten Maddie, dass ihre Mutter nicht genug schlief. Die blonden Haare hatte sie zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden und die bernsteinfarbenen Augen blickten müde und suchend durchs Zimmer. Pflichtbewusst holte Maddie die Mappe aus dem Schubfach im Schrank und reichte die Unterlagen ihrer Mutter. Ein dankbares Lächeln musste als Antwort reichen, denn Maddies jüngere Geschwister kamen in ihren Wolfsgestalten ins Wohnzimmer getobt. Knurrend und schnappend erprobten sie ihre Kräfte und wie so oft war es Maddies Aufgabe, die Einrichtung des Wohnzimmers davor zu bewahren, zu Bruch zu gehen. Erneut.

„Es reicht“, sagte sie laut genug. Doch weder Dean noch Eve hörten auf sie. Ihr weißes Fell war mit etwas verklebt, das sie wohl draußen im Garten gefunden hatten. Erst als ihre Mutter ein bedrohliches Knurren ausstieß, sahen die beiden Wölfe zu ihnen auf. Sie waren nur halb so groß wie ihre Mutter in ihrer verwandelten Gestalt. Doch sie besaßen die Kraft der Jugend und genug spitze Zähne, um Kleidung und eben auch das Mobiliar zu zerstören.

„Maddie, bring sie in die Schule und denk daran, mit Deans Lehrer zu sprechen. Ich verstehe nicht, warum ich immer wieder hinzitiert werde, um über seine Streiche unterrichtet zu werden.“ Ihr Bruder zog den Kopf ein und schaute schuldbewusst auf.

„Und Eve braucht…“

„Ihre Medizin um Punkt Sieben, ich weiß.“ Ihre Mutter stellte sich vor sie und fuhr ihr liebevoll durchs Haar. Doch diese kleine Geste brachte sie nur noch mehr auf.

„Ich weiß, dass du deine Verpflichtungen hast. Und ich weiß, dass das Treffen mit den Orakeln wirklich wichtig ist. Aber du hast es mir schon vor Wochen versprochen.“ Maddie wusste, dass sie sich wie ein verzogenes Gör anhörte. Dabei war sie bereits siebzehn und bald würde sie die Schule hinter sich lassen. Doch hier ging es um viel mehr als diese eine Ehrung. Ihre Mutter hatte das Rudel nach der Geburt der Zwillinge übernommen. Und seither hatte Maddie ständig das Gefühl, nach hinten geschoben zu werden. Sie hätte fast resigniert, hätte ihre Mutter sich nicht so über ihr Projekt gefreut und ihr versprochen, bei ihrer Ehrung – sollte sie denn kommen – dabei zu sein.

„Ja genau, vor Wochen.“ Ihre Mutter klang genervt und in Maddie zerbrach auch der letzte Funke Hoffnung.

„Schatz, ich werde es versuchen. Sollte ich es aber nicht schaffen, wirst du es spätestens dann verstehen, wenn du einmal Alphawölfin bist.“ Maddie biss die Zähne zusammen und starrte ihre Mutter an. Sie sah die harten Linien um ihre Augen, die zarten Schultern, deren Knochen unter der Bluse hervorschauten und den Berg an Papieren an, den ihre Mutter für ihren Tag brauchte.

„Du weißt, dass ich das nicht möchte. Ich bin kein dominanter Wolf. Ich kann mich ja nicht mal gegen die anderen in meiner Klasse durchsetzen.“ Der mitleidige Blick sagte Maddie, dass ihre Mutter dieses Thema genauso satt hatte wie sie selbst.

„Ich muss jetzt los. Dean, Eve, benehmt euch und hört auf eure Schwester.“ Ein Schleier legte sich auf ihre Augen, als ihre Mutter schließlich das Haus verließ. Ihre Hände zitterten vor Wut, doch als die beiden Wölfe sie anwinselten, blinzelte sie ein paar Mal, bis sie wieder klarsehen konnte, dann sagte sie: „Na kommt, wir machen euch mal für die Schule fertig.“ Es kostete Maddie einiges an Kraft, ihre Geschwister an der Schule abzuliefern und den Tag mit ihren Verpflichtungen zu überstehen. Schließlich war es Zeit für die Kundgebung. Der Schuldirektor würde die Schüler präsentieren, die für ihre Arbeit an der Schule ausgezeichnet wurden. Maddie stand unschlüssig am Rand. Eine Schülerin unter vielen. Ihre Wölfin winselte und Maddie musste sich zusammenreißen, um nicht einfach davonzulaufen. Als schließlich ihr Name aufgerufen wurde, ging sie auf steifen Beinen die Treppen zum Podest nach oben. Sie befanden sich auf dem Sportplatz und die Augen von Menschen, Orakeln und anderen Gestaltwandlern waren auf sie gerichtet. Der Schuldirektor, ein Mann um die sechzig, mit grauem Bart und Lachfältchen um die Augen, überreichte ihr ein Zertifikat. Eingerahmt in Glas, in dem sich die Sonne spiegelte. Als Sie jedoch die Zuschauerreihen überflog, war ihre Mutter nirgends zu sehen. Etwas irritiert, da sie weder lächelte noch sich zu freuen schien, wurde ihr schließlich die Hand geschüttelt und dann las der Direktor auch schon den nächsten Namen auf seiner Liste vor. Ohne anzuhalten ging Maddie die Treppen wieder herunter und weiter durch die Zuschauermenge. Sie stieß gegen Schultern und Ellenbogen, doch schließlich erreichte sie den Rand des Sportplatzes. Die Luft roch nach Magie, Schweiß und fettigem Essen, das nur einige Meter von ihr entfernt in einem Imbisswagen angeboten wurde. Ratlos schaute sie sich um. Ihr Kopf war leer, sie wusste nicht, was sie hier eigentlich machte. Schließlich hörte sie auf den Wunsch ihrer Wölfin. Obwohl es auf dem Schulgelände verboten war, verwandelte sie sich. Ihre Kleidung versteckte sie hinter einem Baum, wo niemand sehen konnte, wie sie sich auszog. Aus Menschenhaut wurde Fell. Anders als bei ihren Geschwistern war ihr weißes Fell mit einigen dunklen Flecken durchzogen. Ihre Mutter hatte einmal gesagt, dass sie eine der wenigen Wölfe sei, bei der die menschliche Augenfarbe auch in der verwandelten Form blieb. Wie ihre Mutter besaß Maddie bernsteinfarbene Augen. War sie als Mensch nur etwa einen Meter siebzig groß, überragte ihre Wölfin die anderen aus ihrem Rudel um einige Zentimeter.

Sie lief einfach drauf los. Der Wind peitschte an ihr vorbei. Immer weiter ließ sie die Gerüche, die in ihrer Nase kitzelten, zurück. Schließlich nahm sie andere Gerüche war. Der nasse Waldboden konnte den Geruch nach Wild nicht verdecken. Eine Zeitlang folgte sie der Spur, doch die Wölfin verlor bald das Interesse an der möglichen Beute. Nachdem sie ihren Lieblingsort im Wald erreichte, verwandelte sie sich schließlich zurück. Für alle Fälle hatte sie auch hier Kleidung deponiert. Eine Jeans und eine weiße Bluse schützen ihren nun wieder menschlichen Körper, als der Wind die Kälte brachte und die Sonne langsam an Kraft verlor.

„Hallo, altes Mädchen“, sagte Maddie, während sie mit der Hand über den kühlen Stein fuhr. Mitten im Wald, der zum Territorium ihres Rudels gehörte, befand sich ein kleiner See, der nicht mehr als zehn Meter im Durchmesser maß. Das Wasser war glasklar und spiegelte die Baumkronen um sie herum wider. Und am Ufer, wenn man es denn so bezeichnen konnte, stand ein alter Wasserspeier. Die tanzende Ballerina war für Maddies Geschmack zu kitschig, doch sie hatte nie herausfinden können, wie die Steinfigur hierher gelangt war. Die Stille um sie herum beruhigte Maddie, bis sie sich schließlich mit dem Rücken an die Figur lehnte und die Augen schloss.

„Ich verhalte mich kindisch, ich weiß“, sagte sie laut. Niemand war in der Nähe. Das hieß, niemand konnte sie wegen ihrer Selbstgespräche an diesem Ort auslachen. Hier gab es keine Rangordnung, keine zukünftigen Verpflichtungen und auch keine Mutter, die durch Abwesenheit glänzte. Vögel riefen sich mit ihren melodiösen Stimmen Nachrichten zu und Maddie öffnete schließlich die Augen, um in den Himmel zu schauen. Wolken schoben sich vor die Sonne und nahmen dem Ort somit das magische Aussehen.

„Ich wünsche mir so oft, dass meine Mutter keine Alpha Wölfin ist, deren Verpflichtungen sie über ihre eigenen Kinder stellt. Selbst vor der Geburt der Zwillinge hat sie hart gearbeitet, aber am Abend war sie immer da. Es gab ein gemeinsames Abendessen und sie hat mir Geschichten vorgelesen. Wir haben gelacht und nicht wie jetzt gestritten. Es ist egoistisch, aber ich stelle mir oft vor, wie es wäre, wenn wir beide normale Menschen wären. Keine Orakel, sondern einfach nur wir, die Zeit füreinander haben.“ Sie wusste, dass ihr Wunsch nicht nur mit der permanenten Abwesenheit ihrer Mutter zu tun hatte. Nein, Maddie war immer ehrlich zu sich selbst. Das hieß, sie musste sich eingestehen, dass ein zukünftiges Leben als Alpha Wölfin wie eine Strafe für sie klang, der sie einfach nicht entrinnen konnte. Obwohl sie natürlich das Rudel verlassen könnte. Dann müsste sie sich nicht der Schande stellen, von allen ausgelacht oder mitleidig angesehen zu werden, wenn sie keine Dominanz zeigte. Denn nach der Schule wurde von ihr erwartet, sich mehr im Rudel und in die Geschäfte einzubringen.

„Wir könnten abends gemeinsam essen und ich würde von meinem Tag an der Uni erzählen“, nahm Maddie ihre Gedanken wieder auf.

„Meine Mutter würde mir aufmerksam zuhören und nicht ständig in irgendwelche Unterlagen schauen, oder in eine Zeitung oder in ihr Handy, nur um währenddessen vorzugeben, meine Worte auch wirklich zu hören.“ Maddie lachte leise.

„Ist es nicht traurig, dass ich solchen Tagträumen nachhänge?“ Sie hatte die Frage eigentlich eher selbstironisch gemeint. Doch das jemand antwortete, damit hatte sie nicht gerechnet.

„Nein, es ist menschlich. Denn der Teil in dir, der nicht auf die primitiven Instinkte hört, wünscht sich das, was jedem Kind zustehen sollte.“ Noch während die fremde Stimme an ihr Ohr drang, sprang Maddie auf. Panisch suchte sie die Umgebung ab, konnte aber niemanden sehen.

„Wer spricht da?“

Ein glockenhelles Lachen war die Antwort. Als der Wind auffrischte, stellte ihre Wölfin die Ohren auf. Irgendetwas stimmte hier nicht. Der Himmel verdunkelte sich durch eine herannahende Wolkenfront und vom Waldboden stieg Nebel auf.

„Ich bin die, die im Nebel wandert. Hab keine Angst, Maddie. Ich werde dir nichts tun. Aber ich habe dich beobachtet.“ Der Nebel stieg schnell auf und schon nach wenigen Sekunden konnte Maddie nicht einmal mehr die eigene Hand vor Augen sehen.

„Was wird das hier?“ Nur mit Mühe unterdrückte sie das Zittern in ihrer Stimme. Alles in ihr schrie geradedazu danach, die Flucht zu ergreifen oder ihr Rudel zu rufen. Vielleicht sollte sie beides machen.

„Ich möchte dir einen Wunsch erfüllen.“ Maddie lachte trocken, was zweifelsohne ihre Angst verbergen sollte.

„Ich glaube nicht an gute Feen.“ Ihre Wölfin konnte nicht stillstehen, also lief sie los. Der Nebel war bedrückend und strich kühl über ihre Haut.

„Ich bin weder gut noch böse. Aber ich verfüge über Macht. Du hast dir etwas gewünscht. Ich beabsichtige, dir diesen Wunsch zu erfüllen.“

Misstrauisch spürte Maddie, wie Magie sich vor ihr aufbaute und dann bündelte. Während im Nebel die Umrisse einer Frau in einem blauen Kleid mit schwarzen Haaren auftauchten, klingelten alle Alarmglocken in ihrem Kopf auf einmal los. Das war der Moment, in dem Maddie wirklich anfing zu rennen. Sie flog geradezu durch den Wald. Er war ihr so vertraut, dass sie die Gerüche und Gefahren kannte und über umgestürzte Baumstämme sprang. Doch gerade, als sie dachte, sie habe das Ende des Waldes erreicht, tauchte die Gestalt wieder vor ihr auf.

„Lass mich in Ruhe“, stieß sie schnell atmend aus, als sie schlitternd zum Stehen kam. Sie hätte sich verwandeln können, doch eine innere Stimme sagte ihr, dass sie ihren gesunden Menschverstand brauchte.

„Diesen Wunsch kann ich dir leider nicht erfüllen. Du wirst es verstehen. Nicht jetzt und nicht morgen. Aber bald.“ Der Nebel wurde immer dichter, bildete aber zwischendurch immer wieder Löcher, sodass sie sehen konnte, dass sie noch tiefer in den Wald gerannt war, statt das Ende zu erreichen. Schließlich umschloss der magische Nebel ihren Körper. Maddie spürte den Druck und die Feuchtigkeit auf ihrer Haut. Bald war ihre Kleidung klamm und klebte an ihr. Der Duft des Waldes wurde um ein Vielfaches verstärkt. Ihre Wölfin wollte raus und die Angst schnürte ihr mittlerweile die Kehle zu. Gerade, als die Panik vollends durch ihren Körper raste und die Verwandlung kurz bevorstand, schien die Zeit stillzustehen. Für einen Wimpernschlag sah sie einzelne kleine Tropfen um sich herum im Nebel klar und deutlich. Sie hörte die Tiere des Waldes und sogar lachende Teenager, die an der Straße entlangliefen, deren Stimmen Maddie aber eigentlich durch die Entfernung nicht hätte hören dürfen. Bis es auf einmal still wurde. Eine Hand streifte ihren Arm, obwohl Niemand zu sehen war. Etwas wallte in Maddie auf, doch sie wusste nicht was. Keuchend fiel sie auf die Knie. Ihr Nacken kribbelte und ihre Sicht verschwamm. Magie summte um sie herum und hüllte ihren Körper und schließlich auch ihre Seele ein. Und so schnell dieses Phänomen auch gekommen war, so schnell verschwand es wieder. Die Magie verpuffte in Funken um sie herum, während sich ihr Herzschlag nur langsam wieder beruhigte und die Tropfen schließlich zu Boden fielen. Sie hörte und sah wieder alles normal und der Nebel verschwand innerhalb weniger Augenblicke im Erdboden. Die Vögel fingen wieder an zu singen, als wäre nichts geschehen. Vielleicht war das auch so. Vielleicht hatte sie sich das Ganze nur eingebildet? Schwankend stand Maddie auf. Sie fühlte sich etwas benommen und ein leichter Kopfschmerz kündigte sich an.

„Was…?“ Sie fasste sich unbewusst ans Herz, während sie versuchte, mit ihrer Wölfin Kontakt aufzunehmen. Doch nichts geschah. Keine Präsenz in ihrem Inneren forderte sie dazu auf, durch den Wald zu rennen oder Beutetiere zu jagen. Kein Instinkt sagte ihr, welche anderen Wesen sich in ihrer Nähe aufhielten. Selbst die Gerüche um sie herum waren um ein Vielfaches abgeschwächt. Sie fühlte nur ihre rein menschliche Seite und das jagte ihr eine Heidenangst ein. So schnell sie konnte lief sie nach Hause. Als Rudelführerin lebte Debbie mit ihrer Familie am Rand der kleinen Stadt, um ein Bindeglied zwischen den Menschen, Orakeln und Wölfen zu sein. Das Haus war geräumig und verfügte über einen großen Garten, der von dichten Büschen umgeben war, sodass man von außen nicht hineinsehen konnte. Maddie rannte zum Vordereingang und stieß ein erleichtertes Schluchzen aus, als die Tür sich auch ohne Schlüssel öffnete. Das hieß, ihre Mutter war zu Hause. Vergessen waren die Ehrung oder die Gefühle der Wut. Maddie war verwirrt und brauchte dringend den Rat ihrer Mutter. Sie fand Debbie schließlich in der Küche. Sobald Maddie ihre Mutter sah, blieb sie mitten in der Bewegung wie erstarrt stehen. Wie im Wald spürte sie augenblicklich, dass hier etwas nicht stimmte. Auf Debbies Stirn bildeten sich Falten, als sie ihre Tochter besorgt musterte.

„Maddie, wo zum Henker bist du gewesen? Du bist nach der Ehrung wie eine Verrückte einfach davongerannt. Du hast mich nicht einmal angesehen, obwohl ich direkt in der ersten Reihe saß. So bin ich allein nach Hause. Das Essen ist mittlerweile kalt. Ich wusste weder, wo du hin bist, noch wann du nach Hause kommst. Du weißt doch, dass du vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein sollst.“ Schließlich kam Mutter zu ihr und strich über ihre Wange.

„Was ist los? Du siehst aus, als ob du einen Geist gesehen hättest.“ Debbie lachte, aber ihr war anzusehen, dass das Verhalten ihrer Tochter sie nervös machte. Maddie konnte ihren Blick einfach nicht von der Kochschürze abwenden, die ihre Mutter trug. Es lag nicht daran, dass sie pink war. Oder dass darauf eine Frau im Bikini zu sehen war. Es lag an der Schürze an sich. Debbie Pearson ging normalerweise nur in einem Business Outfit aus dem Haus. Sie trug sehr selten Jeans und schon gar keine Hosen, die bequem aussahen. Doch genau das war jetzt der Fall. Maddie riss sich zusammen.

„Mom, etwas Seltsames ist im Wald passiert. Da war eine Stimme und ich kann mich nicht mehr verwandeln.“ Okay, selbst in Maddies Ohren klang das unrealistisch und verrückt. Aber als ihre Mutter an ihrer Stirn ihre Temperatur fühlte, klappte ihr beinahe die Kinnlade herunter.

„Geht es dir nicht gut? Hast du Fieber? Es kann nicht sein, dass du wirklich einen Geist gesehen hast, du hast keinerlei Fähigkeiten eines Nekromanten oder auch nur Orakels als Kind gezeigt. Und was genau hast du im Wald gesucht? Du weißt doch, dass das das Gebiet des Daemon Rudels ist. Sie hätten dich töten können, wenn sie dich gefunden hätten.“ Verwirrt schüttelte Maddie den Kopf.

„Ich verstehe kein Wort. Mom, was ist hier los? Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich kann mich nicht mehr verwandeln! Meine Sinne sind abgestumpft und…“ Siedend heiß fielen ihr die Worte der Stimme ein. Da war es um ihren Wunsch gegangen, ein ganz normales Mädchen zu sein. Nun war es Debbie, die verwirrt den Kopf schüttelte.

„Kind, ich weiß nicht, was du meinst. Hast du wieder eines deiner Fantasy Bücher gelesen und bist dann eingeschlafen? In was solltest du dich verwandeln?“

„In meine Wölfin“, erwiderte Maddie vorsichtig. Debbie zog belustigt eine Augenbraue nach oben.

„Du willst mich auf den Arm nehmen, oder? Egal, jetzt ist Schluss damit. Geh nach oben und wasch dich. Ich wärme das Essen wieder auf, dann gibt es Abendessen.“

„Was ist mit Dean und Eve?“

„Wen meinst du? Hast du neue Freunde, von denen ich nichts weiß? Ich fürchte, für mehr hungrige Teenager reicht das Essen nicht.“ Maddie schüttelte verwirrt den Kopf, dann durchfuhr sie eine eisige Kälte. Ohne ihrer Mutter eine Antwort zu geben, ging sie in den Flur hinaus. Langsam schloss sie die Tür hinter sich. Ihre Gedanken überschlugen sich, während ihr Körper in eine seltsame Lethargie verfiel. Kurz darauf hörte sie auch schon Teller klirren. Zögernd schaute sie die Treppe hinauf, doch dann gab sie sich einen Ruck. Ihr Körper fühlte sich fast taub an, als sie die Stufen nach oben ging. Es befanden sich drei Zimmer im ersten Stock. Maddie hatte ein Eigenes, ihre Mutter schlief im Zimmer am Ende des Ganges und das größte Zimmer war den Zwillingen zugefallen. Maddie drehte den Türknauf und schaltete das Licht an. Seltsamerweise war die Sonne mittlerweile wirklich untergegangen. Der Schein einer einzelnen Glühbirne, die verloren in der Mitte des Zimmers hing, verbreitete einen zu hellen Schein. Statt der zwei Betten standen nun Kisten über Kisten herum. Und statt eines Tisches für zwei Kleinkinder gab es einen Schreibtisch, auf dem sich Rechnungen stapelten, die es nicht in die Ordner auf dem Boden geschafft hatten.

„Eve und Dean sind verschwunden“, murmelte sie fassungslos. Mit zitternden Beinen ließ sie sich am Holzrahmen der Tür entlang auf den Boden gleiten. Anscheinend hatte dieses seltsame Wesen ihr ihren unbedacht geäußerten Wunsch erfüllt. Sie war nun ein normaler Teenager, deren Mutter sich wie eine Mutter benahm und in der Küche für das Abendessen sorgte, anstatt von unterwegs etwas mitzubringen. Ihre Wölfin war verschwunden, was die Leere in ihrem Inneren erklärte. Völlig überfordert von der ganzen Situation legte sie den Kopf in die Hände. Wie konnte so etwas sein? Träumte sie oder war es Realität? Von hier oben hörte sie ihre Mutter in der Küche summen. Das war so untypisch für die Rudelführerin, die Maddie kannte, dass sie sich schließlich einen Ruck gab, um in ihr eigenes Zimmer zu gehen. Auch das sah anders aus. An der Wand hingen Poster von Sängern, die Maddie nicht einmal kannte. Sie interessierte sich eigentlich nicht so sehr für Musik. Dafür waren aber all ihre geliebten Bücher noch da. Doch weder der Ball, den sie als Welpe zerbissen hatte, noch die Fotos ihrer Geschwister waren an ihrem Platz auf der Kommode zu finden. Maddie ballte die Hände zu Fäusten und unterdrückte die Panik, die erneut von ihr Besitz ergriff. Sie würde herausfinden, was genau geschehen war. Und dann würde sie es rückgängig machen. Irgendwie würde sie das schaffen.

Flynn fluchte leise, als der Nachbarshund anfing zu bellen. Im Schutz der Dunkelheit huschte er durch den Garten des Mehrfamilienhauses, das er zusammen mit seinen Eltern, seiner jüngeren Schwester und fünf weiteren Familien bewohnte. Es war ein Haus in dritter Reihe, sodass er ein wenig brauchte, um die viel befahrene Hauptstraße zu erreichen. Zielstrebig machte er sich auf den Weg, bis er nach wenigen Minuten den Waldrand erreichte. Das Schimmern an seinem Blickrand ignorierend, lief er ins Dickicht, bis er von der Straße aus nicht mehr zu sehen war. Die Unruhe hielt ihn fest im Griff. Seine Haut kribbelte und er konnte einfach nicht stillstehen. Aus der Ferne hörte er Wolfsgeheul, doch das war so gewöhnlich wie die Waldtiere, die schnell vor ihm flohen, obwohl er keine Gefahr für sie darstellte. Schließlich erreichte er die Stelle, nach der er gesucht hatte. Verborgen zwischen zwei großen Bäumen und kleineren Waldbeerensträuchern verbarg sich ein kleiner Kräutergarten. Gerade, als er sich bückte, um ein Büschel der Kräuter auszureißen, hörte er es hinter sich knacken. Sein Herz fing an zu rasen und Schweiß trat auf seine Stirn. Der Wolf, der sich angeschlichen hatte, starrte ihn an. Dann kam das Knurren, tief aus der Brust, bis schließlich die Zähne zu sehen und die Lefzen nach oben gezogen waren. Flynn hob beide Hände über den Kopf. Er wusste, dass das hier ein normaler Wolf war, kein Wandler. Im Prinzip war das sogar weniger gefährlich. Doch dieses Tier hier würde keine Rücksicht darauf nehmen, dass er ein Orakel war. Die Rippen stachen aus den Seiten des Wolfes hervor. Sein braunes Fell war schmutzig und verfilzt.

„Ganz ruhig. Glaub mir, ich eigne mich nicht so sehr als Mahlzeit.“ Der Wolf knurrte nur noch tiefer, als er aus seiner ungünstigen Situation herauskrabbelte und sich vor seinen Kräutern aufstellte. Flynns Gedanken rasten. Was sollte er tun? Er hatte zwar ein Messer im Stiefel stecken, aber der Wolf würde schneller an seiner Kehle hängen, als er die Waffe ziehen konnte. Wenn er seine Magie benutzte, dann verriet er sich. Und das kam auf keinen Fall in Frage. Selbst, wenn er sein Leben dafür verlor. Adrenalin jagte durch seine Adern. Doch das Blut gefror in seinen Adern, als er ein weiteres Wolfsheulen hörte. Wie aufs Stichwort sprang eine weiße Wölfin aus dem Dickicht. Sie knurrte wie der echte Wolf, doch ihre Augen wanderten unruhig hin und her. Für wenige Sekunden schloss Flynn die Augen. Eine Wandlerin, die sich wahrscheinlich gleich dem echten Wolf unterordnen würde. Sie verhielt sich nicht wie eine dominante Wandlerin, sondern eher wie ein verschrecktes Mädchen, das nicht wusste, was sie tun sollte. Und das obwohl sie um einiges größer war. Zum Glück konzentrierte sich der braune Wolf jetzt auf die Unterbrechung und nicht mehr auf Flynn. Er wusste, dass er keinen Fluchtversuch wagen sollte. So würde er nur schneller als Beute erlegt werden. Die Luft war getränkt von Schweiß, Angst und animalischen Trieben. Flynn sah sein letztes Stündlein gekommen, doch plötzlich erinnerte sich die weiße Wölfin daran, dass sie im Rang über dem reinblütigen Jäger stand. Sie schoss nach vorn und biss zu. Im Licht des Mondes konnte er sehen, dass ihr Fell nicht rein weiß war, sondern eine interessante Färbung aufwies. Der hungrige Wolf ließ sich nicht so leicht verjagen. Er kämpfte um das Recht, den Menschen zu töten, der unglücklicherweise seinen Weg gekreuzt hatte. Die Wölfin steckte einige schlimme Bisse ein, die sich hauptsächlich auf ihre Beine und ihre Flanke konzentrierten. Doch schließlich erwischte sie den männlichen Wolf am Nacken. Sie schleuderte ihn umher und stieß zum ersten Mal ein Knurren aus, das als dominant zu bezeichnen war. Und endlich zog der Wolf den Schwanz ein und verschwand winselnd. Flynn blieb, wo er war. Die Wölfin schnaubte und leckte sich kurz über ihre Wunden, dann schaute sie zu Flynn.

„Du gehörst nicht zum Daemon Rudel. Also gibt es für dich keinen Grund, mich zu bestrafen, weil ich mich nachts außerhalb der Stadt aufhalte.“ Innerlich stöhnte er auf. Was machte er da? Versuchte er durch Logik sein Leben zu retten? Und das gegenüber einem Wesen, das durch seine Instinkte unberechenbar war? Zum Glück hörte man ihm die Verachtung nicht an, die er für die Wandler empfand. Doch als die Wölfin sich umdrehte und weglief, traute er seinen Augen kaum. Damit hatte er nicht gerechnet. Sie humpelte und da sie ihm das Leben gerettet hatte, folgte er ihr unwillig. Während sie sich einige Meter weiter verwandelte und die Kleidung anzog, die zuvor achtlos auf den feuchten Boden geworfen wurde, wandte Flynn das Gesicht ab. Den Wandlern machte es nichts aus, wenn man sie nackt sah, doch als Mensch siegte sein Anstandsgefühl. Erst, als er kein Geräusch mehr hörte, sah er wieder zur Wölfin hin. Überrascht riss er die Augen auf.

„Maddie?“ Das Mädchen, das nur zwei Jahre jünger war als er, saß auf dem Boden, während sie auf ihre Beine starrte. Blut sickerte aus der Wunde und verfärbte den Jeansstoff rot.

„Woher kennst du meinen Namen?“ Noch immer sah sie nicht auf und Flynn bekam das Gefühl, dass sie unter Schock stand. Da er ein Mann der Tat war, ging er zu seinem versteckten Beet zurück, zupfte einige Kräuter und kam zu dem Mädchen zurück, das sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Langsam, um sie nicht zu erschrecken, hockte er sich vor sie hin. Versuchsweise zog er das Messer aus seinem Stiefel. Er war bereit, jederzeit nach hinten auszuweichen, sollte sie ihn als Gefahr ansehen und angreifen.

„Wir sind auf der gleichen Schule. Ich bin zwei Stufen über dir, aber im Prinzip kennt dich wohl jeder auf der Schule. Pete versucht schon seit Monaten, dich zu seiner Partnerin zu machen. Mein Name ist Flynn.“ Endlich hob sie den Kopf.

„Wer ist Pete?“ Verwirrt schüttelte Flynn den Kopf. Hatte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen, oder hatte sie eine Kopfverletzung, die ihr Verhalten erklärte? Aber letztendlich war das egal. Sie hatte sich verwandelt, vor seinen Augen. Das war eigentlich völlig unmöglich.

„Pete ist der Sohn des Alphas.“

„Vom Daemon Rudel?“ Flynn nickte, während er konzentriert ihre Jeans aufriss. Es wäre leichter gewesen, wenn sie sie einfach ausgezogen hätte. Aber in ihrem Zustand würde sie wohl auf solch eine Bitte erst gar nicht reagieren. Als er endlich ihre Beine freigelegt hatte, steckte er die Kräuter in den Mund. Er kaute so lange, bis sie ihre volle Wirkung entfaltet hatten. Dann spuckte er sie auf seine Hand. Ohne mit der Wimper zu zucken ließ Maddie sich die Kräuter auf die Bisswunden legen.

„Versteck die Wunden am besten vor deiner Mutter. Sie bekommt sonst einen Anfall.“

„Du kennst meine Mutter?“ Wieder ein Nicken.

„Ja, sie näht meiner Mutter ab und zu mal ein paar Sachen, um sich etwas Geld dazu zu verdienen. Als Hausfrau und alleinerziehende Mutter einer Tochter, die Kleidung und Nahrung braucht, hat sie es eben nicht leicht.“ Als Maddie zusammenzuckte, biss er sich auf die Zunge. Was hatte er sich nur gedacht? Schnell lenkte er das Thema wieder auf ihre Wunden.

„Ich muss die Kräuter verstärken, sonst wird die Wunde zu langsam heilen. Bist du damit einverstanden?“ Maddie zuckte mit den Schultern, also nahm er das als Zusage. Sanft legte er beide Hände über ihre Beine. Mit geschlossenen Augen murmelte er etwas vor sich hin, dass sie nicht verstehen konnte. Die Kräuter verströmten einen intensiven Duft und damit war seine Arbeit getan. Erschöpft ließ er sich schließlich neben sie auf den Boden sinken. Überlegend musterte er das Mädchen vor sich.

„Verrätst du mir, warum du dich mit einem Mal verwandeln kannst?“

„Ich konnte mich schon immer verwandeln.“ Flynn schüttelte den Kopf.

„Nein, das wüsste ich.“

Endlich schien Maddie aus ihrer starren Haltung zu erwachen. Sie schaute ihn an, musterte sein kantiges Gesicht, die kurzen blonden Haare und die hellblauen Augen, in denen sich das Licht des Mondes wiederspiegelte.

„Du bist ein Orakel. Ich finde es im Moment einfach zu anstrengend, alles zu erklären. Zumal ich es selbst noch nicht begriffen habe.“ Sie hielt ihm ihre Hand hin. Zögernd griff er danach. Sie war zart und die Haut fasste sich nicht so weich an, wie er vermutetet hatte. Ohne zu zögern öffnete sie sich ihm. Anscheinend war es nicht das erste Mal, dass sie mit einem Orakel arbeitete. Das machte Flynn schließlich nur noch neugieriger. Also öffnete er seinen Geist und nahm die Information auf, die Maddie ihm überlassen wollte. Sobald die Gestalt im Nebel vor seinen Augen auftauchte, sog er scharf die Luft ein. Mit klopfendem Herzen beobachtete er, wie Maddies Wunsch erfüllt wurde. Als es vorbei war und die Magie in ihm wieder abgeklungen war, sagte Maddie tonlos: „Ich habe meiner Mutter stundenlang versucht zu erklären, dass alles hier falsch ist. Sie hat mir nicht geglaubt und meine Behauptungen einfach weggelacht. So kenne ich sie nicht. Sie war immer stark. Eine Anführerin. Jetzt ist sie eine Hausfrau und eine Mutter, die sich aufopferungsvoll um mich kümmert.“ Maddie stockte. „Und meine Geschwister sind weg.“ Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter.

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