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Der Kampf gegen meinen Körper

1. Auflage, erschienen 1-2021

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Selina Vögtlin

Design: Tabea Heinemann / Fotos: E.V.

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-845-6

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Kaarst

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Der Kampf gegen meinen Körper

Vorwort

Ich mag den Blick in den Himmel. Ich bin in einem schönen Dorf aufgewachsen, oben auf einem Hügel. Für meine Kindheit hätte ich mir keinen schöneren Ort wünschen können. Schon als ich klein war, mochte ich den Blick in die Sterne. An warmen Sommernächten, wenn mein Bruder und ich am nächsten Tag schulfrei hatten, lagen wir mit unseren Eltern auf der Terrasse, auf dem noch fast heißen, harten Boden und schauten in den Himmel.

Wir alle bekommen mit unserer Geburt ein Sternzeichen geschenkt. In der Astrologie haben diese Zeichen eine große Bedeutung, und man kann sich fast das ganze Leben daraus leiten und inspirieren lassen.

Ich war von diesen Weisheiten nie sonderlich angetan, allerdings aber von den Sternzeichen am Himmel. Diese verschiedenen Konstruktionen zu suchen und zu finden, hat mir immer große Freude bereitet. Generell der ganze Himmel, das ganze Universum, der Mond, die Sterne, unser Sonnensystem faszinieren mich bis heute. Wir Menschen können uns so viele Dinge gar nicht vorstellen, weil es einfach unendlich ist. Im Himmel und im gesamten Weltall ist alles unendlich. Der Unterschied zum Leben auf der Erde. Bei uns ist alles begrenzt und limitiert.

Niemand von uns hat unendlich viel Geld oder Macht. Nur der Glaube; der Glaube von uns Einzelnen kann unendlich sein. Er verbindet die Menschen mit dem Himmel und dem unendlich großen Universum. Der Glaube selbst ist so unendlich vielfältig. Es gibt viele Glaubensrichtungen, wie zum Beispiel den Islam, das Christentum oder den Hinduismus. Aber glauben kann jede Person auf eine eigene Weise. Manche glauben in einer Gemeinschaft, andere eher für sich allein und wieder andere glauben gar nicht.

Ich muss sagen, mein Glaube hat sich immer wieder verändert. Es gab Momente in meinem Leben, da waren mir Gott und das Christentum sehr wichtig, und in anderen Momenten habe ich eher nicht so daran gedacht. In letzter Zeit war der Glaube aber ein treuer Begleiter von mir. Er wurde wie zu einem Freund. Ich habe angefangen, mir sehr viele Gedanken über mein Leben und den Tod zu machen, und daran hat die Rolle von Gott einen wesentlichen Anteil. Diese Gedanken und meine Geschichte dahinter möchte ich mit euch in diesem Buch teilen.

Ich möchte euch meine Ansichtsweisen erklären, nichts glorifizieren und schon gar nicht schönreden. So, wie ihr die Worte hier lesen könnt, ist es für mich geschehen. Es ist MEINE Geschichte, und es sind meine Wahrheiten. Dies ist mir ganz wichtig zu erwähnen; denn bei solch autobiografischen Erzählungen sollte meiner Meinung nach immer authentisch berichtet werden. Es ist mir aber total bewusst, dass meine Eltern, meine beste Freundin, selbst meine Therapeutin, die Geschichte ganz anders aufschreiben würden, da diese Personen vielleicht eine objektivere Meinung haben. Ich kann nur für mich selbst sprechen und werde deshalb versuchen, meine Erlebnisse, Eindrücke, Gedanken und Gefühle subjektiv, aber auch möglichst reflektiert zu beschreiben.

Ihr dürft über meine Geschichte lachen, weinen, schreien oder sie einfach nur lesen. Ich möchte versuchen, euch Lesern, die große Frage um das „Warum?“ zu beantworten. Warum habe ich eine Essstörung entwickelt, welche mich irgendwie nicht mehr loslassen will? Warum kann ich nicht einfach glücklich sein? Und warum gab es in meinem bisherigen Leben bereits öfter den Moment, dass ich versuchte, den letzten Ausweg, den Tod, zu wählen, um allem entfliehen zu können?

Dieses Buch soll aber nicht nur viele Fragen beantworten; es soll auch Menschen in einer ähnlichen oder ganz anderen Situation Mut geben. Mut, über sich selbst nachzudenken und über das Leben und den damit verbundenen Tod zu sprechen; Mut zu vergeben, Mut wütend zu sein, und vor allem soll es den Mut vermitteln, zu sich selbst stehen zu dürfen und (psychische) Probleme anzusprechen.

Seid mutig und holt euch Hilfe, wenn es euch nicht gut geht und verändert euch nicht, um anderen zu gefallen; so verliert man nur immer mehr den Bezug zu sich selbst, und wer sind wir denn noch, wenn wir uns selbst nicht mehr haben?

Ich danke euch allen schon jetzt, dass ihr dieses Buch in die Hand genommen habt, in der Absicht es zu lesen. Ich hoffe, ich kann damit erreichen, gesellschaftlich definierte Tabus zu brechen, um somit auch nicht ganz „normalen“ Menschen eine Stimme zu geben. Eine Stimme, um sich mitzuteilen und eine Stimme, um die eigene Meinung vertreten zu können. Denn jeder Einzelne von uns ist wichtig, und alle haben es gleichermaßen verdient, bedingungslos geliebt und akzeptiert zu werden!

TEIL 1

1

Ich sitze am Boden und weine. Ich weine aus Verzweiflung und Angst. Ich weiß nicht, was nach diesem Schritt kommen wird. Ich weiß nicht, warum ich diesen Schritt überhaupt noch gehe; ich weiß nur, dass ich ihn gehen muss. Heute. Egal, wie ich mich dabei fühle: Ob ich damit einverstanden bin oder ich mich dagegen wehre. Ich MUSS diese lang geplante Tat ausführen. Jetzt! Vor fast vier Monaten habe ich die Entscheidung getroffen. Damals habe noch ICH diese Entscheidung getroffen. Heute bin es aber irgendwie nicht mehr ich, die diese Entscheidung in die Tat umsetzen wird. Ich fühle mich so fremdbestimmt. Am liebsten würde ich laut um Hilfe schreien; aber es geht nicht.

Ich bin gefangen in mir, gefangen in meinen Gefühlen und besessen von diesen Gedanken, dass mein Leben erst weitergehen darf (wenn überhaupt), wenn ich diese Tat ausgeführt habe. Vorgestern habe ich meiner Therapeutin einen imaginären Brief geschrieben. Imaginär deswegen, weil ich zwar sie im Brief angesprochen habe, ich ihn ihr aber nicht geben konnte. Ich musste mir einfach meine Gefühle von der Seele schreiben und wenn ich Briefe an sie schreibe, habe ich irgendwie den Eindruck, dass mir jemand zuhört, auch wenn sie den Brief nie erhalten wird. So auch vor zwei Tagen. In diesen Zeilen habe ich ihr meine Gefühle beschrieben. Dass ich unglaublich große Angst habe vor meinem Plan, vor dem, was passieren wird, vor dem, was danach kommt. Ich sagte ihr, dass ich doch eigentlich leben will. Aber ich kann nicht; ich darf nicht.

Diese andere Stimme ist zu stark. Diese Stimme erlaubt mir keine Hoffnung auf ein Leben. Diese Stimme redet mir seit Monaten ein, dass es einen besseren Ort zum Leben gibt. Diese Stimme will, dass ich diesen Plan jetzt durchziehe, egal, ob ich das noch will oder nicht. Sie ist unglaublich stark.

Ich weine, ich bin wütend und schlage meine Hand gegen die Wand. “Du musst es tun! Auf was wartest du noch?“, schreit die Stimme in meinem Kopf. Ja, auf was warte ich eigentlich? Ich kann es nicht sagen. Ich hoffe auf irgendjemanden, der mich aus diesem Strudel herausholt oder auf ein Zeichen, dass ich meine Pläne nicht in die Tat umsetzen muss. Aber das wird nicht geschehen. Es wird heute niemand kommen, und es wird auch kein Zeichen geben.

Ich stehe auf und setze mich aufs Sofa im Wohnzimmer. Tablette für Tablette nehme ich in den Mund und spüle sie mit IceTea Zero hinunter.

Ich bin extrem müde. Es war ein langer Tag, und ich weiß, es wird eine lange Nacht werden. Ich versuche, mich mit dem Fernseher abzulenken und schaue Folge um Folge einer Serie. Tausende Fragen gehen mir schleierhaft durch den Kopf: Wird es diesmal funktionieren? Nimmt mein Körper alle Tabletten auf? Wie schnell wird es passieren? Wird mich jemand finden?

Und die alles entscheidende Frage für mich in diesem Moment: Werde ich nun sterben und meinen Frieden finden, oder überlebe ich diesen erneuten Suizidversuch und erlange dadurch die nötige Lebenskraft zurück, um weiterzukämpfen?

Ja… diese letzte Frage hat sich für mich bis zum heutigen Tag, einige Zeit nach diesem Suizidversuch, nicht beantwortet. Ich habe weder meinen Frieden gefunden, noch kam die Lebenskraft so zurück, dass ich bedingungslos begann zu kämpfen.

Ich ging zwar nochmals in eine Klinik und gab somit meinem Leben auf diese Weise nochmals eine Chance. Ich frage mich auch im Moment recht oft: Warum setze ich nicht alles auf eine Karte? Warum kämpfe ich nicht für ein besseres Leben, welches ich mir schon lange wünsche? Warum gebe ich mir nicht die Chance, alles so zu verändern, dass ich mich wohlfühle? Warum will ich nicht gesund werden? Was habe ich denn zu verlieren?

 

Ich denke, wenn man Hoffnung hat auf etwas, besteht die größte Gefahr darin, diese wieder zu verlieren. Vielleicht durch Rückschläge oder Niederlagen. Was passiert, wenn die eigenen Hoffnungen enttäuscht werden? Dann sind sie weg. Wie in Luft aufgelöst. Das ist das große Problem an Hoffnung: Wenn wir sie packen können und aus einer Hoffnung Realität wird, gibt uns das unendlich viel Kraft. Wenn aber dabei etwas schiefgeht, verblasst sie. Die Aufgabe des Menschen ist es, in diesen Situationen neue Kraft für neue Hoffnungen zu schöpfen. Wenn uns das nicht gelingt, sind wir verloren. Denn was ist ein Leben ohne Hoffnung? Das ist kein Leben. Meiner Meinung nach ist es uns Menschen unmöglich, ohne Hoffnung zu leben. Denn eine Hoffnung gibt uns den Sinn im Leben; sie spornt uns an, für etwas zu kämpfen.

Übertragen auf meine aktuelle Situation, wäre es also nun das Logischste, dass ich meine Hoffnungen in die Tat umsetze. Aber da ist diese Angst; diese riesige Angst, dass ich mich enttäusche, dass etwas schiefgeht und ich meine Hoffnungen verliere.

Dass ich diese Ängste habe, hat sicherlich seine Gründe. Denn mein früheres Leben war nicht immer von Angst bestimmt.

Deshalb möchte ich versuchen, mir selbst, aber vor allem auch anderen mit meiner Geschichte zu erklären, warum ich solche Ängste entwickelt habe, was in meinem bisherigen Leben geschah, dass ich immer wieder vor der Frage stehe: „Möchte ich noch leben?“ und warum die Essstörung auch wichtige Dinge in meinem Leben zum Positiven veränderte.

Diesen letzten Suizidversuch überlebte ich wieder, wie ihr vielleicht bemerkt habt. Es hat nicht wirklich jemand etwas davon mitbekommen; ich wusste, wenn ich es jemandem sagen würde, bringt man mich wiederum auf eine geschlossene Station. Warum dies genauso schädlich für mein weiteres Leben gewesen wäre, werde ich euch in einem anderen Kapitel erläutern.

Auf jeden Fall überlebte ich, vielleicht auch aus dem Grund, weil ich gar nicht wirklich sterben wollte? Ich weiß es nicht so genau. Was ich weiß, ist, dass ich durch das Überleben nun die Möglichkeit habe, meine Geschichte hier aufzuschreiben, um euch aus meiner Sicht zu schildern, wieso, weshalb, warum mein Leben so verlief, wie es verlief. Dafür müssen wir fast eine kleine Zeitreise machen, denn soweit ich mich erinnern kann, begann alles im Sommer 2010. Dies ist nun über ein Jahrzehnt lang her. Für mich und mein bisheriges Leben eine sehr lange Zeit.

Damals war ich gerade dreizehn Jahre alt geworden und wusste noch nicht, dass dies für eine lange Zeit der letzte unbeschwerte Sommer werden würde.

2

Juli 2010. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich an einem Flughafen als Passagier. Bald werde ich mit meinen Eltern, meinem Bruder und einer anderen Familie in ein großes Flugzeug steigen. Next stop: London.

Nein, wir verbringen diesen Sommer nicht in London. Da landen wir nur kurz, steigen in ein noch riesigeres Flugzeug um und fliegen dann etwa sieben Stunden Richtung Westen, in die Vereinigten Staaten. Genauer gesagt nach Miami, Florida. Mein Herz pocht ganz fest, so aufgeregt bin ich.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, was für unglaublich tolle Ferien das sein würden. Ich erlebte dort die beste Zeit meines bisherigen Lebens. Wir waren einfach frei. Ich kann dies wahrscheinlich gar nicht richtig beschreiben. Aber dieses Florida ist im Gegensatz zur Schweiz einfach unendlich weit, unendlich groß und einfach nur beeindruckend. Ich hoffe, ihr versteht dies nun nicht falsch.

Ich lebe gerne in der Schweiz, aber ich vermisse diese Weite, diese unendliche Freiheit, die langen und breiten Straßen. Das Fliegen hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass dies unvergesslich schöne Ferien wurden. Ab dem Zeitpunkt, als das Flugzeug auf der Abflugbahn beschleunigte und nachher dem Himmel entgegen abhob, verliebte ich mich wortwörtlich in das Fliegen. Ich fühlte mich so frei. So ungebunden. So federleicht. Mich fasziniert das bis heute, wie schwerelos man über den Wolken in einem doch so schweren Flugzeug gleiten kann.

Nicht umsonst gibt es den Liedtext: Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein! Ja, dort oben ist die Freiheit grenzenlos und unbeschränkt. Nach diesem ersten Flugerlebnis, überkam mich auch später immer wieder das Gefühl von bedingungsloser Freiheit, wenn ich in einem Flugzeug saß. Unbeschreiblich!

Aber nun zurück zu diesen Ferien. Nicht nur das Fliegen, sondern auch das Land selbst waren atemberaubend. Wir erlebten dort mit der anderen Familie zusammen so viele tolle Dinge. Wir besuchten zum Beispiel die Everglades: Da liegen überall Alligatoren herum, und man kann einfach an ihnen vorbeigehen. Wir gingen auch ins Kennedy Space Center, um uns selbst ein Bild über die erste Mondlandung von 1969 zu machen. Es war unglaublich spannend!

Als krönenden Abschluss dieser tollen Rundreise durch Florida verbrachten wir einen Tag im SeaWorld in Orlando. Eine atemberaubende Unterwasserwelt, viele Shows und einige Achterbahnen erwarteten uns. Mit diesem abwechslungsreichen Tag aus schönen Gefühlen, Adrenalin und viel Freude beendeten wir diese wundervolle Reise durch ein Land, welches mir bis dahin völlig unbekannt war und ab diesem Zeitpunkt ein wenig wie zu einer zweiten Heimat wurde. So wohl habe ich mich da gefühlt. Es fehlte mir an nichts, und ich war einfach nur glücklich! Zur Krönung dieser wunderschönen Ferien kam noch eine neue Bewohnerin zu uns nach Hause. Eine kleine Katze vom Bauernhof. Mein Bruder und ich freuten uns riesig darüber. Dieses Geschöpf war so klein und so tapsig und süß, dass man sich nur verlieben konnte. Aufgefallen sind uns allen gleich die großen, runden Augen der Katze. So lag es nicht weit entfernt, dass wir sie „Luna“ tauften, das italienische Wort für den Mond. Eine echte Bereicherung für unsere Familie!

~

Nicht mal ein Jahr später stand ich vor einer Entscheidung, und ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass es eine Entscheidung war. Alles begann mit einer ersten Bemerkung/ Frage meiner damaligen Englischlehrerin. Sie nahm mich eines Tages nach dem Unterricht zur Seite und fragte mich ganz direkt: „Hast du ein Problem mit dem Essen? Du bist so dünn.“ Ich war, ehrlich gesagt, schockiert über dieser Frage.

Dazu muss ich vielleicht noch sagen, dass ich schon als Kind und später auch als Jugendliche immer sehr schlank war. Allerdings wäre ich zu dieser Zeit niemals auf die Idee gekommen, dass eine andere Person wegen meiner schlanken Figur darauf kommen könnte, dass ich ein Problem mit dem Essen habe.

Die Frage dieser Lehrerin verwirrte mich deshalb sehr. Ich antwortete mit: “Nein, ich habe kein Problem mit dem Essen. Mein Vater ist auch so schlank. Das liegt in der Familie.“ Ich denke nicht, dass meine Lehrerin mir Glauben schenkte. Doch ich konnte damals und kann auch jetzt rückblickend versichern, dass ich zu dem Zeitpunkt noch kein Essproblem hatte. Deshalb brachte mich ihre Frage auch dermaßen aus der Fassung.

Ich erzählte auch meiner Mutter davon. Diese schrieb meiner Lehrerin dann sofort eine E-Mail, in welcher auch sie nochmals versicherte, dass bei mir kein Essproblem und somit kein Grund zur Sorge bestehe.

Eigentlich wäre das Thema damit beendet gewesen. Doch wenn ich heute zurückblicke, hat diese „Vermutung“ meiner Lehrerin etwas in mir ausgelöst. Nicht in diesem Moment, sondern erst später. Meine gedanklichen Reaktionen auf die Sorgen meiner Lehrerin waren: „Was? Ich eine Essstörung?! Ich brauche ja nicht abzunehmen, denn ich kann ja auch so essen, was ich will, ohne zuzunehmen.

Das wird mir nie passieren, dass ich in eine Magersucht rutschen würde. Niemals!“

Es war derzeit meine Meinung, weil ich wirklich keinen Grund hatte, mir Sorgen um mein Gewicht oder um meine Figur zu machen. Ich war, wie gesagt, schlank und befand mich gemäß BMI (Body Mass Index) im leichten Untergewicht. Ich war also weder dick oder unförmig noch auf dem Weg so zu werden.

Es vergingen also nach diesem ersten Ereignis mit meiner Lehrerin wieder ein paar Monate. Mittlerweilen bin ich vierzehn Jahre alt geworden.

Anfangs der Sommerferien dieses Schuljahres hatte ich eine Jugenduntersuchung beim Arzt. Dabei wird der aktuelle Entwicklungsstand festgehalten, Gewicht ermittelt und Größe gemessen und Fragen bezüglich Sexualität etc. gestellt.

Als der Arzt mein Gewicht in eine Kurve eintrug, wo man sehen kann, ob jemand für sein Alter im Unter-, Normal- oder Übergewicht ist, warf meine Mutter, die neben mir im Behandlungszimmer saß, einen Blick darauf und meinte erfreut: “Ah toll! Du bist ja gar nicht mehr viel zu weit unten mit dem Gewicht.“ Ich weiß nicht, was genau diese Aussage in mir ausgelöst hat, aber sie hat etwas ausgelöst. Mir ist bewusst, dass meine Mutter diese Bemerkung nur gut meinte und sich nichts dabei gedacht hat.

Was soll sie auch denken? Es ist ja ganz natürlich, dass sich eine Mutter über einen gesünderen Zustand ihres Kindes freut. Und es ist nun mal Tatsache, dass ein Gewicht im Normalbereich gesünder ist, als wenn man zu viel oder eben zu wenig wiegt.

Doch in mir (ich hatte zu dieser Zeit immer noch keine Essstörung) lösten die vielen verschiedenen Ereignisse mehr aus, als ich wollte. Zur Frage der Lehrerin und freudigen Aussage meiner Mutter kam noch dazu, dass ich in dieser Zeit meine Menstruation bekam, vor welcher ich aus irgendwelchen Gründen schreckliche Angst hatte. Und das Thema «Pubertät» wurde in der Schule und auch in meinem Umfeld immer präsenter. Im Biologieunterricht wurde erzählt, wie sich ein Mädchen körperlich verändert, wenn es zur Frau wird. Man bekäme Rundungen, die Brüste wachsen und die Periode beginnt. Durch gewisse Veränderungen nimmt man an Gewicht zu und der Fettanteil wird höher…

Ich saß zeitweise in diesem Biologieunterricht und hatte einfach nur Angst. Ich wollte das alles nicht. Keine Brüste, keine Rundungen; ich wollte nicht dicker werden; kurz gesagt: Ich wollte mich nicht verändern! Ich wollte nicht zur Frau werden.

Das theoretische Wissen, welches uns in der Schule vermittelt wurde, beobachtete ich in der Praxis bei meinen weiblichen Mitschülerinnen. Allerdings veränderten sich diese nicht nur körperlich. Auch charakterlich bemerkte man die Pubertät: Sie wurden asozialer und egoistischer. Die Schule war ihnen plötzlich völlig gleichgültig, weil sie einfach faul waren und/ oder keine Lust hatten, sich für gute Noten zu bemühen. Die Pflichten wurden mehr und mehr vernachlässigt. Zudem verloren sie jeglichen Respekt vor den Lehrern und auch den eigenen Eltern. Sie waren zickig und launisch… irgendwie einfach nicht mehr sie selbst.

Kurz gesagt, die Pubertät hatte in meinen Augen nur Nachteile. Deshalb fiel von mir eines Tages vor den Sommerferien die Entscheidung: „Ich werde mich nicht verändern und deshalb mein aktuelles Gewicht halten. Ich werde nicht abnehmen, aber auch keinesfalls zunehmen. So kann ich diese Veränderungen, welche die Pubertät mit sich bringt, sei es körperlich oder charakterlich, aufhalten und ich bleibe so diszipliniert, schlank und freundlich, wie ich bin.“

Damals wusste ich noch nicht, wie diese Entscheidung mein Leben für immer verändern würde. Ich dachte mir nichts Böses dabei, sondern wollte einfach nur so bleiben, wie ich war!