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„Du bist so schlank.“ „Ich hätte auch gerne so eine Figur wie du.“ Das waren Sätze, die sich bei mir wie ein Brandmal manifestierten. Während sich um mich herum die Mädchen zu jungen Frauen entwickelten, wurde ich dafür bewundert, meine schlanke Figur halten zu können.

Diese Bewunderungen waren mitunter ein Grund dafür, dass ich mich nicht verändern wollte. Heute weiß ich, dass ich sicherlich auch viele andere Eigenschaften (nebst meiner Figur) gehabt hätte, die man hätte wertschätzen können. Aber ich war damals sehr unsicher, brav und somit eine gute Zielscheibe für fiese Kommentare und Hänseleien: Jahr um Jahr war ich Klassenbeste.

Die guten Noten sind mir aber nicht einfach nur zugeflogen; ich habe dafür sehr viel gelernt. In meiner Klasse war ich so die Streberin. Von allen Seiten bekam ich den Neid zu spüren. Bis heute frage ich mich: Was habe ich diesen Leuten getan? Warum muss man jemanden hänseln, der anders ist? Ja! Ich war anders: Unsicher, mit vierzehn Jahren noch ziemlich Kind, nicht interessiert an Themen wie Sex, Schminken, Kleider und hatte gute Noten.

Nicht nur durch die Noten fanden mich die anderen weniger toll. Irgendwie war ich auch sonst nicht okay, wie ich war. Zumindest gaben mir das die Jungs und teils auch Mädchen in meiner Klasse zu spüren. Für meine Figur jedoch bekam ich immer wieder diverse Komplimente. Unter anderem wuchs deshalb meine Angst vor den Veränderungen in der Pubertät. Dieses Phänomen namens „Pubertät“ drohte mir alles zu nehmen, was mich damals ausmachte bzw. was ich dachte, was mich ausmachte. Ich wusste damals mit der Entscheidung, mein Gewicht halten zu wollen, nicht, dass ich der Essstörung namens „Anorexia nervosa“ die Türen in mein Leben öffnete. Wie gesagt, ich wollte mich einfach nicht verändern; schon gar nicht meine Figur, das Einzige an mir, was für andere akzeptabel war.

Der Sommer nach meiner Entscheidung verlief eigentlich noch normal. Ich ging mit meiner Familie in die Ferien, und wir verbrachten zwei eher regnerische Wochen in Österreich mit dem Wohnwagen. Wir mussten sogar noch die Heizung benutzen, weil es oftmals so kalt wurde.

Eines Morgens schneite es. Im Sommer! Es gab aber auch ein paar sommerliche Tage, wo ich als Wasserratte das kühle Nass im nahegelegenen See genießen konnte. Wenn ich heute die Fotos von diesen Ferien anschaue, sehe ich ein junges Mädchen, das die Unbeschwertheit aus den Kindertagen noch nicht verloren hat.

Wahrscheinlich waren mein kindliches Verhalten, gleichzeitig der Ehrgeiz für die Schule und das Streben nach guten Leistungen in allen Bereichen der Grund, warum die Hänseleien in meiner Klasse nach diesen noch normalen Sommerferien schlimmer wurden. Ich weiß nicht genau, warum meine Mitschüler, vor allem die Jungs, etwas gegen mich hatten. Ich war anders. Und das ist der Punkt: Ist anders sein schlecht?

Heute weiß ich, dass alle Menschen auf der Erde sich voneinander unterscheiden. Jeder, jede und jedes ist ein Individuum, hat eigene Stärken und eigene Schwächen. Es leben 7.7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten, und wir alle sind einzigartig.

Was ich heute hier so schön schreiben kann, entsprach damals (und oft auch heute noch) nicht meiner Wahrheit. Denn wie gesagt, ich war extrem unsicher, und begann allmählich immer mehr zu glauben, was andere über mich sagten. So empfand ich persönlich das erste halbe Jahr nach den Sommerferien in der dritten Sekundarklasse als Horror.

Ich hatte von mir selbst die Erwartung, Bestnoten schreiben zu müssen und wurde dafür jedes Mal „bestraft“ von meinen neidischen Mitschülern mit fiesen Kommentaren. „Streberin“ war DAS Wort in dieser Zeit. Egal, was ich machte, es war falsch und wurde kommentiert.

Meinen Eltern entging nicht, dass es mir immer schlechter ging, aber sie waren überfordert. Sätze wie „hör einfach nicht hin“, „die sind nur neidisch“, „nimm es nicht persönlich“ veränderten leider nichts daran, dass mich all diese Sprüche sehr verletzten. Ich weinte oft und zog mich immer mehr zurück. Allmählich begann ich mich schulisch anzupassen, damit meine Mitschüler nichts mehr gegen mich sagen konnten. Ich meldete mich im Unterricht nicht mehr, da die Angst zu groß war, eine falsche Antwort sagen zu können. Das fand die halbe Klasse dann doppelt lustig, wenn ich als „Streberin“ etwas Falsches sagte. Natürlich hätte ich mich melden können, wenn ich mir meiner Antwort auf die gestellte Frage sicher war. Aber auch das war scheinbar amüsant für die anderen. Ich glaube, meine Mitschüler hatten immer mehr das Gefühl, dass ich das Lieblingskind meines Klassenlehrers sei.

Und leider bestätigte das Verhalten des Lehrers dieses Vorurteil. Er bevorzugte mich ganz klar, und das kam auch bei meinen engeren Freundinnen nicht gut an. Meine Klasse war leistungsmäßig sehr schwach. Es kam öfters vor, dass wir in einer Prüfung einen Gesamtnotendurchschnitt unter vier erreichten. Da stach ich mit den etwas besseren Noten natürlich umso mehr heraus. Typisch für meinen Lehrer war, dass er extra noch vor der ganzen Klasse erwähnte, dass ich die beste Prüfung schrieb. Natürlich war das nett und als Lob an mich gedacht, aber so mochten mich die anderen immer weniger, und die Sprüche wurden mehr und mehr.

Da mein Klassenlehrer aber generell nicht wirklich sensibel war, sagte er auch eines Tages anlässlich der Rückgabe einer Prüfung vor der ganzen Klasse zu mir: „Du hattest wohl keinen guten Tag, was?“

Ja… Es handelte sich um eine Geschichtsprüfung, und ich hatte eine viereinhalb… Okay, ich war da nicht Klassenbeste. Aber als hätte ich mich nicht schon selbst über diese Note geärgert, kommt auch noch der Leistungsdruck meines Lehrers dazu. Spätestens nach diesem Ereignis hatte ich extrem Angst, in die Schule zu gehen. Es war mir alles zu viel, und so kam es auch immer wieder vor, dass ich weinend nach Hause kam, weil ich in einer Prüfung eine fünf oder schlechter schrieb. Meine Eltern haben die Welt nicht mehr verstanden. Sie waren schon immer sehr stolz auf mich, wenn ich eine gute Note (5+ etc.) zurückbekam. Aber ganz klar wären sie auch mit einer fünf oder viereinhalb zufrieden gewesen. Das sagten sie mir auch immer wieder, und dafür bin ich heute noch sehr dankbar. Ich wüsste nicht, was passiert wäre, wenn der Leistungsdruck von mir und von meinem Lehrer zudem getoppt worden wäre von, überehrgeizigen Eltern.

Doch es war für mich auch so nicht einfach zu Hause. Es kam immer wieder vor, dass ich zusammengestaucht wurde von meinen Eltern, weil sie einfach nicht verstehen konnten, warum ich wegen einer fünf weinte. Dazu muss ich vielleicht erklären, dass mein Bruder in schulischen Angelegenheiten mein totales Gegenbild verkörpert. Er hatte sehr Mühe in der Schule, ging nicht gerne hin, konnte nicht gut lernen, und dementsprechend bereitete er meinen Eltern immer Sorgen.

Ich hatte, von außen betrachtet, nie Probleme. Weder schulisch noch sonst. Ich war sportlich, hatte Hobbys, ein paar Freundinnen, freundlich und nett zu allen, Klassenbeste Jahr für Jahr, konnte gut singen und hatte viele Talente.

Meine Eltern konnten demnach völlig beruhigt sein, da alles irgendwie im Lot war. Doch dieser Schein trog, je länger desto mehr. Es wurde zum Teufelskreis, dass meine unsichere Art meine Mitschüler anstachelte, mich zu hänseln, und so wurde ich noch unsicherer, was meinen Mitschülern wiederum nicht verborgen blieb.

Ein anderes Beispiel aus meinem damaligen Alltag: Ich hatte schulterlange, blonde Haare. Für die Jungs in meiner Klasse die perfekte Mobbingfrisur. Dazu muss ich erklären, dass es in meiner Parallelklasse einen Jungen gab, der auch schulterlange, blonde Haare hatte. Von hinten betrachtet, sah er genauso aus wie ich oder umgekehrt. So wurde ich kurzerhand umgetauft und mehrheitlich nur noch mit dem Namen des anderen Jungen angesprochen.

Hört sich nicht wirklich dramatisch an, aber mich verletzte und verunsicherte es extrem. Überall, wo ich erschien, hörte ich nun immer mal wieder lautes Lachen und den Namen des anderen Jungen. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich köstlich amüsierten. Übrigens auch auf Kosten des anderen Jungen. Aber es schien an ihm irgendwie vorbeizugehen, während ich alles wie ein Schwamm in mir aufsog.

Ich wusste nicht mehr, wie ich mich zu verhalten hatte. Meine beiden Freundinnen standen zwar noch hinter mir, trauten sich aber verständlicherweise auch nicht, sich gegen die Jungs der beiden Klassen zu stellen. Denn natürlich fanden es auch die Schüler der Parallelklasse, speziell die Mädchen, extrem interessant und lustig, mich so zu verunsichern. Für mich war es die Hölle: Im Biologieunterricht ging es gefühlt ununterbrochen um das Thema „Pubertät“, meine Klasse, in die ich mich irgendwie nicht integrieren konnte und obendrein die Sprüche in den Pausen.

Seit ich mich immer mehr aus meinem sozialen Umfeld zurückzog, blühte in mir diese neue Welt auf. Eine Welt aus Zahlen in Form von Kalorien, Kilos, Gramm und der Anzeige auf der Waage. Immer besser konnte ich mein damaliges Gewicht halten, und so schlich sich ein, dass für mich die aktuell niedrigste Zahl die obere Grenze darstellte. So verlor ich immer mal wieder hundert oder zweihundert Gramm und musste mein Gewicht auf dieser neuen Zahl halten. Die Freude über ein geringeres Gewicht gab mir das zurück, was ich in meinem Alltag nicht mehr finden konnte, sodass ich mich immer mehr in dieses anorektische Verhalten begab.

Heute kann ich sagen, dass die Anorexie mir zu dieser Zeit extrem viel Halt gab und wie eine gute Freundin war. Ich fühlte mich in der Schule und auch zu Hause so alleine, dass diese gefährliche Krankheit zu meiner Verbündeten wurde. In meinem Kopf geisterten immer mehr Gedanken um Essen, Gewicht und Figur. Und durch die Hänseleien wurde ich darin bestätigt, dass ich so, wie ich bin, nicht richtig bin und dass ich etwas ändern muss.

 

Ich kann mich erinnern, dass ich damals zum ersten Mal in meinem Leben Suizidgedanken hatte. Das Mädchen, welches nicht lange zuvor so glücklich gewesen war, , überlegte, sich das Leben zu nehmen. Ich hatte keine konkreten Pläne oder Absichten, aber ich begann, mich immer mehr zu fragen: Würde es auffallen, wenn ich nicht mehr da wäre? Wären die anderen glücklicher?

Passe ich in diese Welt? Warum bin ich nicht so wie die anderen? Durch diese ganzen Verunsicherungen brauchte ich irgendeinen Gegenpol, etwas, wo ich brillieren konnte. Und so verknüpfte ich meine Schulleistungen mit meinem Gewicht. Wenn eine Note nicht so war, wie von mir verlangt, musste ich dies mit einer Gewichtsabnahme kompensieren. Dies konnte auch nur wenig sein, wichtig war eine Abnahme. So schaffte ich mir einen Raum für neue Glücksgefühle. Leider wurde aber die Waage sehr schnell generell zum Stimmungsparameter. Wenn nicht eine Zahl zu lesen war am Morgen, auf welche ich stolz sein konnte, dann war ich wütend auf mich und fühlte mich schlecht. Die andere Seite war aber schon positiv, denn so konnte ich irgendwie ein wenig besser über die fiesen Kommentare in der Schule hinwegschauen, weil eine Gewichtsabnahme meine Laune wieder verbesserte und mir Kraft gab, um weiterzumachen.

Ich verschloss mich buchstäblich in dieser neuen Welt aus Leistung, Leistung und Leistung. Ich lernte noch mehr für die Schule, hatte höher geschraubte Erwartungen an mich und verlor mich in diesen ganzen Essensthemen, welche mein Leben für mich irgendwie wieder erträglicher machten.

So war es kein Wunder, dass ich mich immer mehr in diesen Abwärtsstrudel begab. Zu diesem Durcheinander aus Hänseleien, Schuldruck, Essen, Figur und Gewicht kam, dass meine Mutter und ich immer mehr Differenzen hatten. Vielleicht denkt man jetzt: Ja, das ist ja normal in der Pubertät. Vielleicht war es auch normal; doch es fühlte sich nicht so an.

Kurz gesagt: Sie gab mir das Gefühl, nicht die Tochter zu sein, die sie sich wünschte. Ich bin mir sicher, dass dies nicht aus Absicht geschah, und trotzdem nahmen meine Verunsicherungen immer mehr zu. Ich bemerkte schon in der Schule, dass ich anders war. Den meisten anderen, die ich kannte, war der Unterricht und die Schule egal, sie umgaben sich lieber mit Themen wie Schminken, Hobbys, Ausgang, Alkohol und Shoppen.

Natürlich verglich ich mich vor allem mit den Mädchen oder eben fast schon jungen Frauen. Ich sprach nicht gerne über Themen wie Sex oder Beziehung. Ich wollte keinen Freund und konnte mir schon gar nicht vorstellen, dass mich ein Junge gernhaben könnte.

Auch all diese Klatschhefte, die man am Kiosk kaufen konnte, interessierten mich nicht. Meine Mutter bemerkte, dass ich anders war, äußerlich, wie auch vom Denken her. Ich hatte das Gefühl, sie versuchte, mich durch Ratschläge und Tipps zu einer dieser jungen Frauen zu machen, welche ich nie sein wollte.

So waren meine Haare immer zu langweilig, meine Kleidung nicht passend und mein Verhalten nicht altersgerecht. Ich verkroch mich wortwörtlich im Lernen für die Schule, was natürlich weder bei meinen beiden Freundinnen noch meinen Eltern oder besonders meiner Mutter gut ankam. Trotzdem versuchte ich, die perfekte Fassade aufrechtzuhalten, um den anderen nicht zu zeigen, wie es mir wirklich geht.

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Wenn ich die Fotos von meinem fünfzehnten Geburtstag anschaue, erinnere ich mich daran oder sehe auch auf den Bildern, dass es mir nicht gut ging. Logischerweise versuchte ich, dies an meinem Geburtstag zu verbergen, aber da das Essen über das ganze Jahr gesehen einen immer größeren Stellenwert in meinem Leben einnahm, wurden solche Feste wie Geburtstag, Ostern oder Familienfeiern immer schwieriger. Denn da musste ich in Gesellschaft etwas zu mir nehmen, und ich konnte ja nicht einfach nichts essen, denn niemand durfte sehen, dass ich damit ein Problem habe. Zudem war ich immer noch überzeugt davon, dass ich alles andere als eine Essstörung hatte. Mehrmals googelte ich nach den Symptomen der sogenannten „Magersucht.“

Ein paar Punkte erfüllte ich sicherlich, aber ich war in meinen Augen niemals krank. Ich redete mir ein, dass ich dafür viel mehr hätte abnehmen müssen, dass ich dann gar nichts mehr essen dürfte und mich generell anders verhalten sollte. Dass sich später viele dieser Diagnosekriterien als sehr unterschiedlich von Person zu Person herausstellten und ich damals schon (vor allem gedanklich) mitten im Strudel dieser Essstörung war, wollte ich nicht wahrhaben.

Zudem war ich auch eigentlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Denn in diesem Jahr musste ich mich entscheiden, was ich nach der obligatorischen Schulzeit machen möchte. Bis anhin war für mich klar: Ich möchte Tierärztin werden. Ob ich studieren kann oder nicht, stand nicht zur Frage, da ich gute schulische Leistungen hatte. Ich konnte einfach nicht auf direktem Weg an die Universität, da ich dafür das Gymnasium hätte absolvieren müssen und das wollte ich nicht, weil ich fand, mit einer Berufslehre + Berufsmaturität wäre es viel besser, da ich Geld verdiene und so schon ein wenig Berufserfahrung sammeln könnte. Nach der Lehre wollte ich dann die Passerelle machen, um damit an die Uni zu gelangen.

Ja, der Plan hörte sich ganz gut an und war wirklich lange Zeit eine Überzeugung von mir. Das Problem bei dieser Sache: Ich hatte keine Ahnung, welche Lehre ich machen möchte. Irgendwie sah ich mich überall und nirgends. Nach den folgenden Sommerferien hätte ich mich bewerben müssen, und ich hatte weder eine Ahnung davon, für was noch wie man eine Bewerbung schreibt.

Und da kam wieder die „Streberin“ in mir auf; alle anderen machten sich vor den Sommerferien keine Sorgen darüber und kümmerten sich noch nicht wirklich um die Berufswahl. Zudem war es auch für meine Eltern totales Neuland, da ich das ältere Kind bin, und sie waren ebenso wie meine Kolleginnen der Meinung, ich solle mir nicht so einen Stress machen.

Daraus, dass mein ganzes Umfeld das ziemlich leger sah, fühlte ich mich nicht ernst genommen und geriet noch mehr in einen Stress, weil ich das Gefühl hatte, ich müsste das alles irgendwie allein hinkriegen. So gesehen war ich total in der Pubertät, denn ich hatte Probleme, die vor allem Erwachsene nicht wirklich verstehen konnten, deshalb gibt es ja wahrscheinlich den Spruch „Pubertät ist das Alter, in dem die Eltern beginnen, schwierig zu werden.“

Natürlich ist dies ironisch gemeint, denn in der Pubertät werden ja scheinbar die Jugendlichen schwierig, und man kann um diese herum nur noch alles falsch machen, da der oder die Jugendliche eben pubertiert und ganz eigene, komische Probleme hat.

Meine bisherige Meinung zur Pubertät kennt ihr ja bereits. Ich halte, ehrlich gesagt, nicht viel von diesem Spruch. Wie ich generell über diese Phase und die Zeit in der Jugend denke, erfahrt ihr in einem späteren Kapitel.

Nun zurück zu meinen „Problemen“. Durch mein Gefühlskarussell, dass niemand versteht, wie es mir geht in Bezug auf die Berufswahl und den Stress in der Schule, wegen der Noten, die aus meiner Sicht perfekt sein sollten, verlor ich mich noch mehr in meiner eigenen Welt, die sich um Zufuhr bzw. Verweigerung von Nahrung, Figur, Körper und Gewicht drehte. So wurde nicht nur mein anfangs erwähnter Geburtstag zu einer Herausforderung, sondern auch die bevorstehenden Sommerferien.

Durch die Tatsache, dass ich den ganzen Tag zu Hause verbrachte, war ich mehr unter der Kontrolle meiner Eltern oder vor allem meiner Mutter; sprich die Gefahr, dass sie mein spezielles Essverhalten bemerken könnte, war um einiges augenfälliger. Doch mein Vorhaben war klar: Ich darf nicht zunehmen! Und wenn möglich, sollte ich an Gewicht verlieren. Beides nicht so einfach, da ich auch noch für zwei Wochen mit meiner Familie in die Ferien fuhr. Soweit es ging, ernährte ich mich von Früchten in diesem Sommer. So glaubte ich, würde man nicht bemerken, dass ich weniger zu mir nahm, da ich einfach viel Wert auf Früchte legte, wenn andere zum Beispiel ein zweites Stück Brot nahmen.

Ich schlängelte mich weiterhin mit diversen Lügen und Ausreden durch den Alltag, sodass möglichst niemand etwas mitbekam von meinem Essverhalten und vor allem meinen Gedanken.

Und dann stand mein viertes und somit letztes Schuljahr in der Sekundarschule vor der Tür. Ich hatte riesige Angst, in die Schule und somit meine Klasse zurückzugehen, weil die Hänseleien weiterhin bestanden und ich auch immer noch den gleichen Leistungsdruck verspürte.

Doch ich schaffte es immer noch schulisch, wie auch sonst, meinem Alltag nachzugehen. Ich ging einmal wöchentlich mit ein paar anderen aus meinem Dorf in die Jugendriege, wo wir auf Wettkämpfe trainierten oder einfach zusammen Spaß beim Sport hatten. Zudem spielte ich Klavier und sang zuhause immer mal wieder für mich. All diese Dinge bereiteten mir immer noch viel Freude. Aber irgendetwas war anders. Ich war anders.

Ich unternahm viele Sachen schon noch mit Freude und Leidenschaft, aber diese Stimme, die in mir immer lauter wurde, sich als „gute Freundin“ verkaufte und mir ein unbeschwertes und glückliches Leben versprach, war, auch wenn nur im Hintergrund, immer da. Und sie sah in einem kurz bevorstehenden Klassenlager vor den Herbstferien DIE Möglichkeit, sich endlich unbeobachtet ausleben zu können.

Ins Klassenlager fuhr meine ganze Klasse zusammen mit zwei Lehrkräften. Es war für mich (oder eben dieser Stimme in mir) die Gelegenheit, nichts oder nur ganz wenig zu essen. Denn zu Hause wurden die Blicke meiner Mutter immer auffälliger. Ich fühlte mich beobachtet, und die Angst wuchs, dass sie etwas von meinen etwas seltsamen Essgewohnheiten mitbekommen würde.

Doch nach wie vor galt: Ich darf nicht an Gewicht zunehmen! Dies gelang mir nun bereits seit über einem Jahr, und da ich in dieser Zeit einige Zentimeter gewachsen war, rutschte mein BMI immer weiter ins Untergewicht.

Und nun dieses Klassenlager. Meine Chance, endlich auch ein paar Kilos zu verlieren. Mein Vorhaben: Ich darf nichts und wenn, dann nur ganz wenig essen! Dies begann schon bei der Hinreise. Während Mitschüler Chips und andere Snacks zu sich nahmen, aß ich nichts und ließ auch fast das ganze Mittagessen (mit der Ausrede, ich hätte keinen Hunger) kurzerhand weg und verschenkte mein Essen.

So verlief der erste Tag, was das Essen anbelangt, recht gut. Zudem hatten sich die Mädchen in meiner Klasse dazu entschieden, in diesem Lager etwas mehr Sport zu treiben. Dies wurde auch gleich am ersten Abend umgesetzt. Wir gingen joggen. Ich war ganz vorne mit dabei; obwohl ich den ganzen Tag fast nichts gegessen hatte, war ich noch ziemlich gut in Form. Nach dieser sportlichen Einheit wollten alle anderen der Klasse noch kurz in den See springen, denn unser Lagerhaus lag direkt am Wasser. Ich dachte mir: Das machst du jetzt auch noch. Verbrennt sicherlich noch ein paar Kalorien mehr…

Ja… nachher hatte ich wortwörtlich den Salat. Mir war so kalt, dass mich auch eine Dusche nicht mehr aufwärmen konnte. Ich trug zwei Pullover, lange Hosen (es war ein sommerlicher Herbstabend) und fror dennoch.

Sogar meine Lippen und Hände wurden ganz blau, und ich schlotterte ungewollt. So bemerkte natürlich jeder, vor allem die Lehrer, dass es mir gerade nicht so gut ging, weil ich dermaßen fror. Aber auch da hatte ich genug Ausreden bereit, dass (in meiner Vorstellung) niemand auf die Idee kommen konnte, mit mir wäre etwas nicht in Ordnung.

Später erfuhr ich, dass dieses „Kälteereignis“ vor allem für meine Lehrer ein weiteres Anzeichen war, dass ich nicht wirklich so gesund war, wie ich vorgab zu sein.

Obwohl ich während des Abendessens immer noch zitterte und blau war, blieb ich bei meiner Ausrede keinen Appetit zu verspüren und nahm wiederum fast nichts zu mir.

Am nächsten Tag besuchten wir ein Museum in einer Stadt am anderen Ende des Sees. Dafür mussten wir mit dem Schiff fahren. Der Museumsbesuch war (so glaube ich) nur für meinen Klassenlehrer spannend.

Er liebt es, Museen zu besuchen, und wir waren als Klasse oftmals seine Begleitpersonen. Deshalb waren eigentlich alle froh, als wir dieses Gebäude endlich wieder verlassen konnten und nun ein paar Stunden zur freien Verfügung hatten.

Wir bekamen etwas Geld, um uns etwas zum Mittagessen zu kaufen und durften uns in der Stadt aufhalten.

Schon seit dem Morgen hatte ich einen etwas flauen Magen und da mein Plan „möglichst wenig essen“ immer noch galt, kam mir dieses Unwohlsein gerade gelegen, und ich kaufte mir nur einen kleinen Salat (vielleicht nicht das Beste bei einem rebellierenden Magen, aber kalorienarm). Doch selbst diesen konnte ich nicht ganz essen, denn wie aus heiterem Himmel bekam ich am Mittag plötzlich starke Bauchschmerzen. Dies machte mir Angst, denn es waren Schmerzen, die ich noch nie zuvor erlebt hatte. Leider konnte ich aber nicht einfach sagen, ich möchte nach Hause oder zurück ins Lagerhaus gehen, denn uns bestand noch ein weiterer Museumsbesuch bevor an diesem Tag.

 

Zusätzlich zur Tatsache, dass ich Museen nicht mag, hatte ich diese fast nicht zu ertragenden Schmerzen, welche mir das Laufen durch die langen Gänge des Museums fast unmöglich machten. So setzte ich mich bei jeder Gelegenheit hin, um mich ein wenig entspannen zu können, sofern das überhaupt möglich war.

Ich war so erleichtert, als ich nach dem Museumsbesuch und der Schifffahrt zurück in unser Lagerzimmer gehen konnte, um mich hinzulegen. Ich nahm ein Schmerzmedikament und erhoffte mir dadurch ein wenig Linderung. Dies war aber leider nicht der Fall. Zusätzlich zum Bauchweh bekam ich nun auch noch starken Durchfall.

Ich denke, dies war das erste Mal, dass ich tatsächlich wahrnahm, dass mit meinem Körper etwas nicht ganz in Ordnung sein konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich jedoch nicht realisieren, dass ich durch meine ständigen Essensabwägungen) den Körper so sehr verunsicherte, (auch schon in dieser Anfangsphase) dass es später umso schwieriger war, den Weg ins „Normale“ zurückzufinden.

Ich befand mich noch immer in diesem Klassenlager. Und schon stand wieder das Abendessen vor der Tür: Pizza. Der Vorteil an meinen Magen-Darm-Beschwerden bestand darin: Ich hatte eine gute Ausrede, nicht viel essen zu können. Und so aß ich auch an diesem Abend fast nichts. Ich verbrachte die Zeit, bis ich einschlief, in meinem Bett, denn die Schmerzen wurden auch durch Medikamente, die ich einnahm, nicht besser. Und so war ich froh, als endlich meine Augen zufielen und ich den Schmerzen durch den Schlaf ein wenig entfliehen konnte.

Allerdings nicht lange. In der Nacht wachte ich mehrmals durch heftige Schmerzen auf und verbrachte viel Zeit auf dem WC. Der Durchfall war nun stärker geworden, und mir ging es immer schlechter. Eine Freundin von mir bemerkte mein ständiges Aufstehen und Verlassen des Zimmers und fragte mich schließlich, was denn los sei?

Ich erzählte ihr von den immer stärker werdenden Schmerzen und dass ich nicht mehr schlafen könne. Wir gingen dann gemeinsam ins Badezimmer, denn sie hatte die Idee, eine PET-Flasche mit heißem Wasser zu füllen, um meinem Bauch mit Wärme ein wenig Linderung zu verschaffen.

So konnte ich dann den Rest der Nacht noch ein wenig schlafen und bei dem, was mich an diesem nächsten Tag (es war erst Mittwoch) erwarten würde, wäre es wahrscheinlich besser gewesen, den ganzen Tag zu verschlafen und im Bett zu bleiben. Ich fühlte mich überhaupt nicht gut, aber wer mich mittlerweile ein wenig kennt, weiß, dass ich vieles einfach durchziehe, egal, wie es mir dabei geht. Und so verbrachten meine Klasse und ich den Tag in kleineren Gruppen, in welchen wir an zwei verschiedenen Workshops teilnahmen. Zuerst verbrachten wir den ersten Workshop im Lagerhaus. Danach fuhren wir einige Kilometer mit dem Auto zum zweiten Workshop.

Natürlich drückte ich mich wieder den ganzen Tag vor dem Essen und blieb bei meiner mittlerweile ehrlichen Ausrede, keinen Appetit zu haben. So wurde für mich, völlig entkräftet und erschöpft, der Nachmittag zur Tortur. Denn zu allem Überfluss handelte es sich um eine stehende Arbeit. Ich hatte unglaubliche Bauchschmerzen, musste auffällig oft aufs WC und war auch sonst überhaupt nicht bei Kräften.

Umso erleichterter war ich, als das Ganze am späteren Nachmittag ein Ende fand und ich mich, zurück im Lagerhaus, wieder hinlegen konnte.

Dass mich da allerdings nach dem Essen ein sehr schwieriges Gespräch mit meiner Lehrerin erwartete, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wie schon erwähnt, waren zwei Lehrkräfte in diesem Lager dabei: mein Klassenlehrer und diese Lehrerin, welche mich schon längere Zeit zuvor verdächtigte, an einer Essstörung zu leiden. Ich beschwöre nochmals: Damals bestand diese noch nicht. Ich hatte kein Problem mit dem Essen! Ich war schlank, aber damit hatte es sich auch.

Naja, auf jeden Fall kam diese Lehrerin an besagtem Abend in mein Lagerzimmer und bat alle anderen, den Raum zu verlassen. Da meine beiden Freundinnen den „Vorfall“ damals mitbekommen hatten, verließen sie das Zimmer nur widerwillig, weil sie genau wussten, wie ich zu dieser Lehrerin stand. Das Gespräch von damals war mir immer noch sehr präsent. Ich kann bis heute nicht genau sagen warum, aber ich denke, dass die Vermutung meiner Lehrerin, dass ich aufgrund meiner schlanken Figur ein Essproblem haben könnte, der erste Berührungspunkt für mich mit diesem Thema war und sie mir zu nahe kam…

Nun stand diese Lehrerin also im Zimmer und setzte sich zu mir ans Bett. Ich kann wirklich nicht abschließend begründen, warum mich dieses Gespräch mit ihr, welches dann folgte, noch so viele Jahre lang negativ beeinflusste. Ich glaube, ich habe es bis heute noch nicht ganz verarbeitet. Grund für diese seitdem bestehende Verstörung war wahrscheinlich ihre pseudo-psychologische Art. Ich weiß nicht, ob jemand von euch schon Erfahrungen mit Psychotherapeuten gesammelt hat, aber meiner Meinung nach gibt es da immense Unterschiede. Einerseits gibt es solche, mit denen man reden kann, andererseits auch die, die hinter der psychologischen Wissenschaft den Menschen nicht mehr sehen.

Ich merke, es fällt mir schwer, dies hier wörtlich zu erklären. Essenz des ganzen Gesprächs mit meiner Lehrerin war, dass sie mir durch ihre körperliche Nähe und mit ihrer eindringlichen Botschaft definitiv zu nahe kam, was bei mir nichts Gutes auslöste. Ganz im Gegenteil.

Logischerweise war ihr Verdacht, dass ich ein Essproblem hätte, in diesem Lager nur noch bestärkt worden. Dies war mir völlig bewusst in diesem Moment. Aber meiner Meinung nach war es nicht die Aufgabe meiner Lehrer (Mehrzahl), mich zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen.

Doch genau das haben mein Sportlehrer, meine Englischlehrerin und mein Klassenlehrer hinter meinem Rücken vereinbart. Ich war völlig außer mir, als ich dies erfuhr und wusste zugleich auch, dass meine Eltern, vor allem meine Mutter, davon überhaupt nicht begeistert sein werden. Egal, ob die Tatsache, dass ich ein Essproblem hatte, nun stimmte oder nicht; ich war fünfzehn Jahre alt und somit kein Baby mehr. Man hätte mich oder zumindest meine Eltern über dieses Vorhaben, mich beobachten zu wollen, informieren müssen.

Dies war aber leider noch nicht alles von diesem Gespräch mit ihr. Obwohl ich versuchte mich rauszureden, weil es für mich weder der Zeitpunkt noch die Situation für eine solche Kommunikation war, war meine Lehrerin inzwischen davon überzeugt, dass ich eine Essstörung hatte. Und da scheinbar ihre Tochter auch mal solche Probleme hatte, empfahl sie mir auch gleich deren Therapeutin und erklärte mir den Sinn und Zweck einer derartigen Behandlung.

Ich fühlte mich völlig vor den Kopf gestoßen und konnte nichts daran ändern, dass mir die Tränen einfach über die Wangen flossen (…)

Als meine Lehrerin dann endlich ihren Vortrag beendet hatte und das Zimmer verließ, kamen meine beiden Freundinnen herein. Ihnen stand das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben. Sie hatten sich aus lauter Sorge zuvor an unsere Lehrer gewandt doch auf keinen Fall wollten sie, dass ich dieses Gespräch mit der Lehrerin führen musste.