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Aber mir war bewusst, dass die beiden daran nichts hätten ändern können, denn meine Lehrerin wäre so oder so zu mir gekommen. Deshalb war ich ihnen auch überhaupt nicht böse und fiel einfach in ihre Arme und weinte. Das Einzige, was ich in diesem Moment sagen konnte, war: „Sie hat recht…, ich habe ein Problem mit dem Essen.“

Dies war das erste Mal nach langer Zeit, dass ICH es aussprach, ein Problem zu haben.

Man sollte analog zu Artikeln im Internet meinen, dass ab dem Zeitpunkt der Krankheitseinsicht der Genesungsweg beginnt. Dem stimme ich zum Teil zu. Ja, man kann nur genesen, wenn man sowohl bei psychischen als auch bei körperlichen Krankheiten Einsicht zeigt. Zwei einfache Beispiele dazu: Ein Mann hat sich das Bein gebrochen und sollte an Krücken gehen, damit der Bruch heilen kann.

Er sieht aber nicht ein, dass viel Geduld erforderlich ist und die Krücken als Unterstützung gedacht sind und belastet sein verletztes Bein zu früh, was dazu führt, dass es nicht richtig zusammenwachsen kann und er so niemals gesund werden wird. Das andere Beispiel mit einer Essstörung: Wenn die betroffene Person nicht wahrhaben will, dass es zu jedem Menschen, der gesund bleiben will, gehört zu essen und sich nicht so viele Gedanken über Gewicht, Kalorien etc. zu machen, wird sie diese Störung nie bezwingen.

Zurück in meinem Lagerzimmer, sitze ich immer noch weinend auf meinem Bett mit meinen beiden Freundinnen neben mir. Sie gaben mir zu verstehen, dass sie schon so etwas geahnt hatten, denn auch, wenn ich nichts sagte, sah man mir scheinbar schon äußerlich an, dass es mir nicht so gut ging. Die beiden machten sich auch merklich Sorgen um mich und rieten mir dringend, zu Hause mit meinen Eltern zu sprechen. Dies musste ich so oder so tun, ob ich wollte oder nicht. Denn meine überfürsorgliche Lehrerin „drohte“ mir schon an, dass sie gleich am Montag, wenn die Schule wiederbeginnt, auf meine Eltern zugehen würde.

Ich wurde nach diesem Ereignis im Lager mit meiner Lehrerin immer wieder gefragt, ob ich ihr denn nicht dankbar sei, dass sie mich auf mein gestörtes Essverhalten aufmerksam gemacht hatte. Mein Verstand sagt mir, dass ich ihr im Grunde dankbar sein sollte, doch die Art, wie sie mit mir sprach und auch, dass sie mich berührte (wenn auch überhaupt nicht schlimm oder so) hat in mir viel Negatives ausgelöst. Einfach gesagt: Sie hat meine persönlichen Grenzen überschritten. Ich hätte am liebsten „Stopp!“ gesagt, während meine Lehrerin so auf mich einredete. Doch ich konnte nicht.

Im Nachhinein fühlte ich mich in dieser Situation wehrlos. Ich denke, es war nicht richtig von ihr, mich so zu konfrontieren, weil ich einfach nicht bereit war. Natürlich drängt sich einem jetzt die Frage auf, wann wäre ich denn bereit gewesen? Das weiß ich auch nicht so genau. Aber ich denke, ich hätte ganz anders reagiert, wenn zum Beispiel eine Freundin oder andere Vertrauensperson auf mich zugekommen wäre.

Mit dieser Lehrerin hatte ich auch ohne die ganze Essstörungsthematik schon meine Probleme, und ausgerechnet sie legte mir dieses sensible Thema in ihrer eindringlichen Art so nahe, dass ich später niemanden mehr so schnell an mich heranlassen konnte. Vor allem körperlich hatte ich da immer wieder sehr viel Mühe, wenn eine Berührung entstand zwischen mir und einem anderen Menschen und ich diese Berührung nicht unbedingt wollte, aber gleichzeitig auch nicht „Stopp!“ sagen konnte.

Ein kurzes Beispiel aus meinem Alltag, Jahre nach diesem Lager: Wir saßen als Familie zu Hause auf dem Sofa und schauten uns im Fernseher einen Film an. Ich hatte den Platz nahe bei meinem Vater, aber es befand sich noch so viel Abstand dazwischen, dass wir uns nicht berührten. Normalerweise sitzt man nicht starr und steif auf einem Sofa, sondern bewegt sich immer mal wieder.

Mein Vater rückte so mit der Zeit näher zu mir, und unsere Arme berührten sich. Eigentlich gar nichts Schlimmes. Doch mir war das schon wieder zu viel, weil nicht ich entschieden habe, dass wir uns berühren sollten. Logischerweise ist es unmöglich, solche Dinge im Alltag „kontrollieren“ zu können.

Aber egal, ob ich nun in gewissen Situationen den Körperkontakt aushalte und in anderen nicht; die primäre Aussage dahinter ist: Jeder Mensch hat seine eigenen Grenzen, und diese sind ganz individuell. Vor allem können sich diese Grenzen mit gemachten Erfahrungen verändern. Egal, ob man aufgrund dieser Grenzen eine Person als hypersensibel oder dramatisch abstempelt, es sind nun mal IHRE Grenzen, und die sollten respektiert werden, unter der Voraussetzung, dass diese kommuniziert wurden.

Ohne Kenntnisnahme ist auch kein Respektieren zu erwarten. Bevor man aber seine Grenzen aufzeigen kann, braucht es selbst die Achtsamkeit, diese überhaupt definieren zu können. Als Kind lernen wir solche Dinge von unseren Erziehungsberechtigten, oder wir schauen es jemandem ab. Aber in der Jugendzeit, wenn es unsere herausforderndste Aufgabe ist, uns selbst zu finden und eine eigene Identität zu erschaffen, kann sich vieles verändern. Jeder macht in seinem Leben, je länger umso mehr, eigene Erfahrungen und aufgrund dieser werden sich auch unsere Grenzen bilden.

Nun gibt es aber viele Situationen in der Jugend, oder zum Teil auch noch später, wo diese normalen Entwicklungen gestört werden: eine vorausgegangene schlechte Kindheit, der Tod eines Elternteils, Mobbing in der Schule, das Gefühl, im falschen Körper zu sein oder eine psychische/körperliche Krankheit.

Auf mich bezogen, habe ich durch meine Erfahrungen in der Schule und meinem Umfeld gelernt oder wahrgenommen, dass ich immer Leistung erbringen muss, um etwas zu erreichen. Nichts im Leben steht mir einfach so ohne eigenen Einsatz zur Verfügung.

Mir ist bewusst, dass man zum Beispiel für Geld immer etwas leisten muss. Selbst bei einem Lottogewinn musste man den Lottoschein kaufen, ausfüllen und einsenden. Aber ich beziehe mich hier auf andere Dinge wie bedingungslose Liebe, Respekt, Akzeptanz, Wertschätzung usw.

Einfach um mich klar auszudrücken: Ich wurde zu Hause weder geschlagen noch von irgendjemandem sexuell missbraucht oder misshandelt! Sollten meine Ausführungen so klingen, als hätte ich die schlimmste Kindheit hinter mir; dem ist definitiv nicht so!

Und trotzdem gab es einige Dinge, welche meine Entwicklung negativ beeinflusst haben. Und zwar so, dass ich daraus ein gestörtes Selbstbild, eine große Unsicherheit und Schuldgefühle in allen Bereichen entwickelte.

Aber zurück zu den Grenzen: Warum die ausführlichen Schilderungen der Auswirkungen dieses Lehrer-Schüler-Gesprächs auf meine Psyche?

Ich durfte Jahre später erkennen, dass ich nicht an diesem Gespräch schuld war und dass ich ihr dafür auch nicht dankbar sein muss. Denn ich habe bemerkt, dass sie meine Grenzen, auch wenn sie diese nur erahnen konnte (aus dem vorherigen Gespräch längere Zeit zuvor), überschritten hat, und ich habe gelernt zu reflektieren, dass dies nicht ihre Aufgabe war in diesem Lager, und der Weg einer Problemlösung völlig anders hätte beschritten werden müssen.

Aber ja, es ist nun passiert, es hat viel in mir ausgelöst und mich sehr lange beschäftigt, aber ich kann mittlerweile sagen, dass ich heute besser damit zurechtkomme und sich daraus auch viele zukünftige Ereignisse oder Handlungen ableiten ließen.

Mir ging es nach diesem Gespräch nicht nur körperlich immer noch schlecht, sondern auch psychisch. Die letzten zwei Tage im Lager gingen sehr gedankenverloren an mir vorbei. Ich verbrachte viel Zeit im Bett und dachte nach: „Wie soll ich dies nur meinen Eltern sagen? Sie werden mich hassen! Wie konnte ich ihnen das antun? Warum habe ich nicht schon eher etwas gesagt, anstatt sie so zu belügen?“ Viele solcher Fragen beschäftigten mich. Ich wusste weder, wie, wann noch was ich es sagen sollte. Das Einzige, was mir klar war: Für meine Mutter war es immer der schlimmste Albtraum, dass ihre Tochter eine Essstörung haben könnte, denn sie hatte beruflich selbst mit solchen Jugendlichen gearbeitet und schlechte Erfahrungen gemacht, soweit mir bekannt war.

~

Nachdem ich es mit letzter Energie geschafft hatte, meinen Koffer die Straße hinaufzuziehen bis zu unserem Haus, fiel ich meiner Mutter erleichtert in die Arme. Ich war den Tränen nahe, einfach fix und fertig.

Meine erste Kommunikation zwischen meiner Mutter und mir war: „Ist Papa auch da?“ „Ja, warum?“ „Ich muss euch gleich etwas erzählen.“

Zehn Minuten später saßen wir in der warmen Herbstsonne draußen am Tisch. Ich erzählte zuerst, dass es mir körperlich nicht gut geht und es im Lager nochmals einen „Vorfall“ gab mit meiner Lehrerin. Tja, und dann gab es keinen Weg daran vorbei zu erzählen, zu welcher Erkenntnis ich gekommen war und diese Tatsache (dass ich ein Problem mit dem Essen hatte) meinen Eltern kundzutun.

Wenn ich ehrlich bin, redete ich lange um den heißen Brei herum, bis es dann nicht mehr ging. Meine Mutter wurde immer nervöser und bemerkte, dass etwas nicht okay war…

„Ich habe ein Problem mit dem Essen…“

Jetzt war’s raus! Meine Mutter sagte erst nichts, wirkte aber irgendwie enttäuscht und sehr besorgt. Mein Vater meinte sofort: „Das kriegen wir schon wieder hin! Wir machen einen Plan, wo wir dein Gewicht kontrollieren und schauen, dass es wieder normal wird.“ Es klang sehr hoffnungsvoll, was er sagte, aber auch naiv. Und dies bemerkte auch meine Mutter und meinte sofort: „Nein, das geht nicht so. Wir machen einen Termin beim Hausarzt und müssen dich untersuchen lassen, ob körperlich alles in Ordnung ist.“

Dass leider gar nichts in Ordnung war, zeigte sich wenig später auf der Waage. Natürlich wollte ich wissen, was ich in dieser Woche gewichtsmäßig „erreicht“ hatte. Zum ersten Mal nahm ich da ganz klar die verschiedenen Seiten in mir wahr. Später in den Therapien lernte ich zu unterscheiden, zwischen einer kranken und einer gesunden Seite in mir.

 

Die gesunde Seite erschrak ziemlich, als ich in Unterwäsche auf der Waage stand. Ich hatte in dieser einen Woche ziemlich viel an Gewicht verloren. Und dies bedeutete gleichzeitig ein riesiger Gewinn für meine kranke Seite. „Yes, wir haben es geschafft!“, schrie sie laut in meinem Kopf.

Meine Mutter stand neben mir und erschrak noch mehr als meine gesunde Seite. Dazu muss ich bemerken: Auch, wenn damals ohne schriftliche Diagnose schon klar war, dass meine Essproblematik anorektischer Natur war, erfüllte ich bereits eines der wichtigsten Hauptkriterien für diese Diagnose nicht.

Meine Mutter erschrak zwar, als sie mein Gewicht sah, aber dies war gar nicht so dramatisch. Ich hatte seit Beginn (Sommer 2011) der Essproblematik nicht viel Gewicht verloren. Ein Hauptkriterium der Diagnose „Anorexia nervosa“ lautet: mind. > 10 % Verlust des eigenen Körpergewichts in kurzer Zeit. Dies war bei mir nicht der Fall. Ich hielt mein Gewicht sehr, sehr lange immer auf der gleichen Zahl.

So heftig abgenommen hatte ich nur in dieser Lagerwoche.

Aus meinem Körperwachstum resultierte zunehmendes Untergewicht, was wiederum als Kriterium für die Diagnose „Anorexie“ spricht. Kurze Anmerkung zum Thema Essstörung und Internet: Als Betroffene meine ich, es steht sehr viel im Netz, was aber nicht wirklich zwingend auf diese Krankheit zutreffen muss.

Das Wichtigste, was man wissen muss: Alles spielt sich psychisch, also im Kopf ab. Alles andere wie Gewicht, Essverhalten usw. sind lediglich die Auswirkungen der Gedanken im Kopf. Sprich Symptome der Essstörung und nicht Auslöser oder tatsächlicher Hintergrund dieser psychischen Krankheit.

Es war unwichtig, ob ich dieses Kriterium der starken Gewichtsabnahme erfüllte oder nicht. Meine Mutter und ich standen neben der Waage, und die Frage war: „Wie weiter?“

Das Vorgehen zeigte sich zunächst ziemlich klar, vor allem, weil diese Bauchschmerzen einfach nicht besser werden wollten. Mehrmals in den nächsten Wochen saß ich vor meinem Hausarzt. Neben mir meine Mutter; ich hätte jedes Mal im Boden versinken können, vor allem aber beim ersten Arztbesuch. Ich musste wieder, diesmal im Beisein meines Arztes, gestehen, dass ich ein Problem mit dem Essen hatte. Die Scham war groß.

Mein Hausarzt fragte mich ein paar Dinge, unter anderem, ob ich bereit wäre, an Gewicht zuzunehmen? Ich antwortete, wie aus der Kanone geschossen, mit einem klaren „JA!“, denn ich war mir in diesem Moment sicher, dass ein Leben, bestimmt durch Gedanken um Essen, Gewicht und Figur, nicht so toll ist. Also lautete die Vereinbarung: Bis Weihnachten, das waren noch circa zweieinhalb Monate, sollte ich mindestens zwei Kilogramm zunehmen. „Dann“, sagte mein Arzt, „könnten wir dies als kurze Episode abtun.“ Ich war einverstanden und willigte ein.

Schon zehn Minuten später, als ich mit meiner Mutter die Praxis verließ, machte sich in meinem Kopf ein Gedanke breit, der sich nicht einfach vertreiben ließ. Mir wurde klar, dass ich das eigentlich gar nicht wollte. Ich wollte nicht zunehmen, denn ich wollte immer noch keine Frau sein und war nach wie vor der Überzeugung, dass meine Figur eines der wenigen Eigenschaften war, was an mir zu bewundern war.

Dieser Arztbesuch hinterließ bei mir verschiedene Gefühle. Es gab schon jene gesunde Seite, die diese ganze Essproblematik hinter sich lassen wollte, aber die Angst vor einer Gewichtszunahme hatte sich dermaßen verfestigt, dass alles andere überschattet wurde.

Dies bemerkten ein paar Wochen später auch meine Mutter und mein Hausarzt. Man sah, dass ich es so nicht schaffen würde, unsere getroffene Vereinbarung bis Weihnachten einzuhalten.

So wurde nun zwischen meiner Mutter und meinem Arzt die Abmachung getroffen, dass eine Psychologin hinzuzuziehen wäre. Nebenbei bemerkt, ich hatte da nicht wirklich etwas zu sagen, weil mein Hausarzt eine Empfehlung aussprach, und da meine Mutter meinem Hausarzt vertraute, war diese Sache geregelt. Im Nachhinein weiß ich, dass dieser Versuch, mir zu helfen, schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

Es ist für euch hilfreich zu wissen, dass ich in einer Familie aufgewachsen bin, (und das kommt längst nicht nur durch die Erziehung meiner Eltern) in welcher es einem eigentlich immer gut geht. Man hat für alles dankbar zu sein, hat grundsätzlich keine Probleme und wenn doch, dann ist es fast eine Schande, dies vor anderen Menschen einzugestehen.

Meine Mutter hat vor meiner Essstörung, aber vor allem auch danach, immer wieder den liebevollen Satz gesagt: „Wenn andere an dir etwas auszusetzen haben, mach dir nichts draus, jeder soll erst vor seiner eigenen Haustür kehren.“ Damit wollte sie mir sagen, dass niemand auf der Welt perfekt ist, und ich mir keine Gedanken darüber machen sollte, was und wie andere über mich denken. Denn jede Person hat Probleme, und indem man auf den Problemen anderer herumreitet, versucht man nur, seine eigenen zu verbergen (deshalb: „man soll erst vor der eigenen Haustür kehren.“)

Ich liebte es, wenn sie diesen Satz sagte. Wirklich! Der Widerspruch darin war leider nur, dass sie diesen Satz zwar immer wieder zitierte und dies wahrscheinlich auch so meinte. Allerdings schien er in unserer Familie nicht zu gelten. Und damit meine ich meine ganze Familie! Ich möchte mich wirklich nicht beschweren, aber eine psychische Erkrankung im Zusammenhang mit meinem familiären Umfeld ist definitiv keine gute Kombination.

Auch meine Cousins wurden von ihren Eltern nach dem Motto erzogen, dass man sich Dinge im Leben verdienen muss und ausschließlich Leistung zählt. Und ein weiteres geltendes Grundprinzip: Wenn man etwas erreichen will, muss man auch Dinge, die einem missfallen, durchziehen!

Kein Wunder also, dass mein Bruder aufgrund schlechter schulischer Leistungen von den anderen Kindern der Familie gehänselt wurde. Man liess ihn immer wieder merken, dass er nicht gut genug leistete. Man gab ihm zu verstehen, dass es doch nicht so schwierig wäre, gute Noten zu schreiben. Man müsse sich halt einfach Mühe geben.

Ich bewundere meinen Bruder unglaublich dafür, dass er diese lange und schwierige Schulzeit, welche ihm wirklich alles andere als leichtgemacht wurde, “einfach“ so überstand. Irgendwie ist er dadurch stärker geworden und hat sich nicht von seinem Weg abbringen lassen.

Heute ist er über zwanzig Jahre alt, hat mit sehr, sehr wenig Fahrstunden die Autoprüfung gemacht (und bestanden!) und erfolgreich seine Lehre zum Automobilfachmann abgeschlossen.

Dies ein kurzer Auszug aus der Familiengeschichte. Ich möchte mich an diesem Punkt entschuldigen, dass ich immer wieder von der Erzählung abschweife. Aber damit ihr die Zusammenhänge von damals bis zur Situation heute verstehen könnt, schiebe ich immer wieder solche Erklärungen dazwischen.

Okay, wir wissen, dass ich eine Psychologin aufsuchen sollte, und man in meiner Familie besser keine Probleme haben sollte. Dies zieht natürlich mit sich, dass, wenn jemand Probleme hat (z. B. mein Bruder in der Schule), diese Person nicht wirklich auf Verständnis stößt, was dazu führt, dass nie über Probleme gesprochen wird. Und schon gar nicht, wenn diese psychischer Natur sind.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass man mit uns jemals über die Psyche geredet hat. Dies kann ich aber weder meinen Eltern noch meiner übrigen Familie verübeln; denn auch in der Schule wurden solche Themen gänzlich totgeschwiegen. Es hat einem einfach immer gut zu gehen. Und wenn es einem Mal nicht gut geht, ist es lediglich ein schlechter Tag, und dieser geht ja bekanntlich wieder vorüber.

Ich wusste, dass es bei mir nicht nur „ein schlechter Tag“ war, der einfach wieder vorübergeht. Aber ich wusste auch, dass es mir eigentlich nicht schlecht gehen darf, denn es gab nicht wirklich Gründe dafür. Ich sollte glücklich sein, weil ich eigentlich alles hatte, was ein junger Mensch zum Leben braucht.

Entsprechend scheiße fühlte ich mich, dass ich nun mit meinem Essproblem zu einer Psychologin gehen sollte. Denn eigentlich darf man diese Art von Hilfe nicht für sich in Anspruch nehmen. Das ist so eine ungeschriebene Regel, welche mir irgendwie vermittelt wurde. Man darf keine Probleme haben und schon gar nicht darüber sprechen.

Nichtsdestotrotz musste ich die Termine bei der Psychologin wahrnehmen. Es wussten nur meine Mutter und mein Vater davon; wir hüteten uns, der übrigen Familie von der Problematik, geschweige denn von der Psychologin, zu erzählen.

Was sich auch als sehr vorausschauend erwies, denn schon nach den Weihnachtsferien beendete ich diese Therapie wieder…

Anfänglich war alles in Ordnung. Es tat mir sehr gut, über all diese Dinge in der Schule und die Angst vor einer Gewichtszunahme zu sprechen. Ich fühlte mich von der Psychologin verstanden, und sie schien mich ernst zu nehmen. Natürlich war es aber auch ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass ich wieder an Gewicht zunahm. Denn schon bei der ersten Sitzung beteuerte sie, dass sie mich mit einem noch niedrigeren BMI nicht ambulant behandelt, sondern gleich in eine stationäre Therapie überwiesen hätte.

„WAS? ICH, STATIONÄR?!“ Ich war weiterhin der Auffassung, nicht wirklich „krank“ zu sein, denn wenn ich im Internet von Personen mit Magersucht (diesem tollen deutschen Wort) las, erkannte ich mich nicht wirklich darin. Ja, es ging mir nicht gut und ja, ich befasste mich sehr mit dem Thema Essen. Aber irgendwie schien dies bei anderen Patientinnen wesentlich schlimmer zu sein. Deshalb erschrak ich ein wenig über diese Bemerkung und sah ein, dass ich das ganze schon ein wenig ernster nehmen sollte.

Zu einem positiven Gewichtsverlauf gehört eben auch, dass man mehr essen sollte. Aufgrund dessen verlangte die Psychologin von mir, dass ich ein Essprotokoll schreiben soll, damit sie sehen kann, was, wann und wie viel ich esse.

Dies war das Erste, was schon nach hinten losging: Durch die Aufforderung, meine Essensmengen und Nahrungsmittel aufzuschreiben, fühlte sich meine anorektische Seite sehr darin bestärkt, möglichst wenig zu essen. Denn irgendwie musste ich ihr doch beweisen, dass ich auch ein Problem hatte, sonst würde sie mir ja nicht helfen (so meine Auffassung). Also schrieb ich schön brav auf, was ich so aß und zeigte es ihr anschließend.

Es war natürlich zu wenig. Wer hätte das gedacht? Über diese Erkenntnis freute sich meine Anorexie so sehr, dass die Bereitschaft, mehr zu essen und dazu noch fünfhundert Gramm in der Woche zuzunehmen, gar nicht mehr da war. So ging es nicht lange, bis ich mit meiner Psychologin nur noch darüber diskutierte, was ich aß und was nicht und dass es mehr sein sollte. Da ich dies aber nicht befolgen wollte/konnte, veränderte sich an meinem Gewicht nicht wirklich etwas.

Und so beschloss meine Psychologin, dass nun meine Eltern die Gewichtskontrolle zu Hause übernehmen sollten, sodass ich es mit ihr nicht mehr diskutieren müsse. Ja, das war gut und recht, denn jetzt diskutierten wir nicht mehr in der Therapie, dafür aber jedes Mal umso heftiger zu Hause, wenn meine Mutter sah, dass gar nichts ging und ich vielleicht sogar noch abgenommen hatte.

Aus heutiger Sicht betrachtet, eine ganz schlechte Idee, denn diese Wiege-Aktion zu Hause verbesserte die Beziehung zu meiner Mutter gar nicht. Im Gegenteil. Aber meine Therapeutin hielt es für eine gute Idee, denn sie musste sich nicht mehr damit auseinandersetzen.

Je länger ich zu ihr in die Sitzungen ging, desto mehr bekam ich das Gefühl, ich bin allein verantwortlich für diese ganze Essproblematik und der ganzen Vorgeschichte dazu. Ich bin schuld daran, dass wir zu Hause so viel streiten, ich bin schuld, dass man mich in der Schule hänselt. Ich bin falsch.

Man könnte meinen, dies hätte ich mir alles einfach eingeredet. Ja, zum Teil ist das wahr. Meine Schuldgefühle, vor allem gegenüber meinen Eltern, waren enorm. Schon damals (und es war erst der Anfang) hatte ich das Gefühl, meine Familie zerstört zu haben.

Und dann kam eines Tages die Aussage der Psychologin dazu, welche mich in diesem Gefühl bestätigte. Ich erzählte ihr (weil sie ja wissen wollte, wie es mir geht) oft von der Schule und was vorgefallen war. Und einmal meinte sie dann: „Du solltest aufhören, die Schuld immer bei allen anderen zu suchen. Diese Essstörung hast DU entwickelt und nicht die anderen. Und du musst da wieder raus, nicht die anderen. Die haben nichts damit zu tun.“

Diese Aussage war wie ein Schlag ins Gesicht. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es immer eine Stimme in mir, die mir sagte, dass ich nicht die Schuld allein trage und dass das Verhalten der Jungs in der Schule nicht in Ordnung war. Doch die Meinung der Psychologin ließ diese Stimme verstummen, was wiederum meine Schuldgefühle bestärkte.

 

Auf diese Therapiesitzung folgten noch zwei, in welchen ich fast nichts mehr sagte. Ich hatte gar keine Ahnung mehr, was ich ihr erzählen sollte. Denn ich durfte ja „die andern“ nicht mehr erwähnen (dies hat sie wirklich so gesagt; sie wollte das nicht mehr hören)

Ich fühlte mich auf einmal so unwohl bei ihr, dass ich mich total verschloss und natürlich jetzt gar nicht mehr die Absicht hatte, ihr auch noch eine Freude machen zu müssen, indem ich an Gewicht zunehme.

So fiel die Sitzung vor den Weihnachtsferien aus, weil ich eine Magen-Darm-Grippe hatte und während der Ferien gelang es mir irgendwie, meine Eltern zu überreden, dass ich da nicht mehr hingehen muss. Dies war einerseits positiv, aber auch negativ zu betrachten.

Denn durch meine Ablehnung dieser Psychologin, bestärkte ich die Grundeinstellung meiner Eltern, dass Psychotherapeuten eher manipulativ als unterstützend seien, was wiederum ganz schlecht war für meine weiterfolgenden Therapien. Aber zu diesem Zeitpunkt war mir das völlig egal, denn ich sah nur das Positive: Diese psychologische Behandlung war beendet.

Später musste ich mir immer wieder anhören, dass ich davongelaufen wäre von dieser Psychologin. Da, wie erwähnt, auch meine Eltern von einer psychologischen Therapie von Anfang an nicht so begeistert waren, war es naheliegend, dass auch ich es nicht für nötig erachtete, schnell wieder Ersatz zu suchen. Ich bin mir sicher, dass ich heute in dieser Situation anders handeln würde.

Ich habe in den vergangenen Jahren viel gelernt, was die Kommunikation mit meinen Mitmenschen anbelangt. Und so versuche ich Dinge immer zu klären, wenn mir eine Person nicht gerecht oder in meinen Augen falsch begegnet war oder ich etwas nicht richtig verstanden habe. Sonst wäre ich wohl nie lange in einer Therapie geblieben und hätte auch viele Freunde verloren.

Wenn jemand etwas zu mir sagt, sei dies eine Meinung, ein Ratschlag oder Kritik, nehme ich es immer sehr ernst, weil ich die Ansicht vertrete, dass diese Person mir damit ja etwas mitteilen will. Und warum sollte jemand etwas sagen, wenn er es gar nicht so meint? Aus dieser Einstellung heraus kann passieren, dass ich Dinge in gewissen Momenten falsch verstehe oder mit mir zu hart ins Gericht gehe. Durch meine Unsicherheit ist mir die Meinung anderer über mich unglaublich wichtig, und ich definiere mich sehr darüber.

Dadurch versuche ich immer, alles richtig zu machen und muss meiner Ansicht nach jeglichen Fehler vermeiden. Wenn ich in den Augen anderer etwas falsch oder nicht ganz richtig mache und mir dies vorwurfsvoll oder nicht gerade nett entgegengebracht wird, fange ich an, diese Person zu meiden. Nicht aus dem Grund, weil ich sie nicht mehr mag oder ich sie doof finde.

Aber ich halte die Vorstellung, dass auf mich jemand wütend sein könnte, weil ich etwas falsch gemacht habe, oder sie/er enttäuscht ist von mir, fast nicht aus. Deshalb gehe ich dieser Person aus dem Weg oder traue mich nicht mehr, mit ihr zu agieren, da die Angst, noch einmal etwas falsch machen zu können, zu groß ist. Dadurch ist es auch schon passiert, dass mir dann deswegen, weil ich so angespannt und ängstlich bin, noch mehr Fehler unterlaufen, und dies endet dann in einem weiteren Teufelskreis.

Nun habe ich aber gelernt, dass mich nicht immer gleich alle Personen hassen, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Ich traute mich immer öfter, diese Fehler/Kritikpunkte in einem klärenden Gespräch anzusprechen. Dadurch konnte ich die Erfahrung sammeln, dass man mir alles nochmals erklären kann und ich auch die Möglichkeit habe, meine Ansichtsweise, wie die Meinung/Kritik der anderen Person bei mir angekommen ist, zu erläutern.

Vielleicht würde ich heute noch bei dieser Psychologin in Therapie sein, wenn ich mich getraut hätte, die Dinge anzusprechen, die mich so verunsichert haben. Aber ich denke eher nicht, denn sie wirkte nicht wirklich sympathisch auf mich. Und was ich bei späteren Therapeuten lernte, bestätigte mir, dass es richtig war, diese Therapie zu beenden. Denn die vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut und Patient ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Und wenn man die Person gegenüber nicht mag, kann man ihr auch kein Vertrauen entgegenbringen. Wie in jeder Beziehung sollte man sich auf Augenhöhe begegnen können. Gerade in einer therapeutischen Beziehung ist das alles unglaublich wichtig; denn wie soll man sonst einer „fremden“ Person sein Innerstes preisgeben?

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