Buch lesen: «Bubenträume»

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Sebastian Liebowitz

Bubenträume

Heitere Geschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Hoher Besuch

Die Huren von Babylon

Der schiefe Turm von Bürgi

Bernie

Lehrer Patens

Schuschu

Urlaubsgrüsse aus der Türkei

Aller Metal ist schwer

Zürich

Vom Vollstopfen und Abwursten

Künzli & Co.

Der Gehörsturzdämon

Nicht für die Schule lernen wir

Bandprobe und Bandprobleme

Bürgi reisst aus

Häbi

Vierzehn und achtzehn

Bernie im Höhenflug

Ein haariger Fotoshoot

„KISS“ kommt

Bürgi

Vaterlandsverteidigung

Highway to Basel

Klogeflüster

Basler Nächte..

Nachwort

Impressum neobooks

Hoher Besuch

Ich wusste gleich, dass etwas im Busch war, als ich in die Küche kam. Wenn Mama ihr Weinglas auf dem halben Weg zum Mund in der Luft hängen liess, verhiess das nichts Gutes. Und daran sollte sich auch heute nichts ändern.

„Tante Marta und Patenonkel Theobald kommen heute Nachmittag zu Besuch, dass du’s nur weisst“, verkündete sie.

Ich stöhnte auf.

„Oh Mama, muss das sein?“

„Nichts, ‚Mama‘. Die beiden kommen schliesslich selten genug, da wirst du die paar Stündchen schon noch aushalten.“

So ein Pech aber auch. Dabei hatte ich mich gerade rausgeputzt. Meine Haare sorgfältig mit Gel gestylt, mein bestes, wenn auch bereits schon etwas mitgenommenes T-Shirt übergezogen und mich in meine Lieblingsjeans gestürzt. Eigentlich weniger „Lieblings“-Jeans als „Einzige“-Jeans, weshalb die Dinger auch schon recht ramponiert waren.

„Verdammt Mama, und dabei wollte ich heute Nachmittag noch mit Bürgi und Thuri los“, jammerte ich.

„Bei uns wird nicht geflucht, verdammt nochmal, wie oft muss ich dir das noch sagen. Und jetzt sieh zu, dass du dein Zimmer aufräumst, ich will mich wegen deinem Saustall nicht schämen müssen, hörst du?“

Mein Blick glitt über den Küchentisch, auf dem sich die die leeren Bier- und Weinflaschen ein Stelldichein gaben und dann zu Papa, der mit dem Kopf in einer Bierpfütze vor sich hin schnarchte. Nach kurzer Überlegung nahm ich das Geschirrtuch vom Haken über der Spüle, faltete es zusammen und schob es Papa unter den Kopf. Als ich seinen Kopf zurück auf die Tischplatte legte, brabbelte er etwas Unsinniges vor sich hin. Zumindest glaube ich, dass es etwas Unsinniges war, bei „Müllemüllemülle“ kann man sich da nie ganz sicher sein.

Als ich wieder aufsah, begegnete ich Mamas Blick. Sie schüttelte empört ihren Kopf.

„Und wie du wieder aussiehst. Kein Wunder, dass die Leute über uns reden, wenn du ständig wie ein Landstreicher herumläufst.“ Sie warf Papa einen vorwurfsvollen Blick zu. „Naja, man brauchst sich ja nicht zu wundern, von wem du das hast.“

„Das trägt man heute so, Mama, meine Freunde laufen auch nicht anders rum.“

„Ha, Freunde. Ich würde diesen Vollidioten auch alles nachmachen, wenn ich dich wäre. Am Ende landest du noch in der Gosse, jawohl. Deine Brüder würden nie so rumlaufen, das kannst du mir glauben.“

Die alte Leier konnte ich schon nicht mehr hören. Seit meine Brüder auf See waren, liess Mama nichts auf die beiden kommen. Ihre Wertschätzung den Halunken gegenüber wuchs proportional zur Distanz, die sie von zuhause weg waren. Grad, dass sie die beiden nicht noch heiligsprechen und auf „Cherubim und Seraphim“ umtaufen liess. Da war es wohl besser, wenn ich das Gespräch auf unverfänglichere Themen lenkte.

„Wann kommen Tante Marta und Onkel Theo denn?“

„Um zwei Uhr sind sie da“, sagte Mama und griff nach der Zigarettenschachtel. „Dass bis dahin alles Tipp-Topp ist, hörst du?“

Ich überschlug schnell die Zeit. Wenn ich mich jetzt gleich ans Aufräumen machte, konnte ich es immer noch auf drei Uhr schaffen. Eine Stunde Zwangsanwesenheit bei der Familienzusammenführung musste genügen.

Dumm nur, dass Tante Marta da auch noch ein Wörtchen mitzureden hatte.

Oder auch zwei oder drei.

„Ja, sieh an, der kleine Sebastian ist ja auch noch da“, rief sie und drückte mir einen feuchten Schmatzer auf die Wange. Und während mir ihre Spucke die Wange hinunterlief, hielt sie mich auf Armlänge vor sich, fixierte meine Arme und begann einen Fragenkatalog herunterzuleiern, bei dem ich zwar nicht zu Wort kam, es aber trotzdem so aussah, als könne Tante Marta die Antworten auf ihre Fragen irgendwie von meinem Gesicht ablesen. Vielleicht ist an der Gedankenübertragung ja doch was dran. Sonst bin ich ja eher skeptisch, aber Tanten können sowas.

„Jetzt lass dich aber mal ansehen, Sebastian, du bist aber schon gross geworden (schön wär‘s), du ähnelst aber auch jedes Mal mehr deinem Papa (Gott bewahre), bloss die Statur, die hast du von deiner Mama (hoffentlich nicht), bist du auch immer schön brav (selten bis gar nie) wie alt bist du denn jetzt (13), in welche Klasse gehst du denn jetzt (siebte), gehst du gern in die Schule (was denkst du denn), passt du auch immer schön auf (eher nicht), wie läuft’s denn so mit den Noten (noch viel Luft nach oben, eher weniger nach unten), aber du weisst ja, ‚nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir‘ (zs), weisst du schon, was du mal werden willst, wenn du mal gross bist (Rockstar), hast du denn auch viele Freunde (geht so), wie geht es denn Karoline und Cornelia (seit wann reden die mit mir?), sind Hans und German immer noch auf See (Gott sei Dank), spielst du immer noch so gerne Monopoly (das letzte Mal, als ich 7 war), wir können ja nachher vielleicht eine Runde spielen, wenn du magst (rette sich, wer kann), ich mag mich noch gut daran erinnern, wie du damals ausgesehen hast…

Ich zuckte zusammen. Mir schwante Übles.

….als du noch klein warst. Du hattest damals ja die schönen langen Haare….“ Sie fuhr mir abwesend mit der Hand durch mein Haar, blieb aber auf halbem Weg im Haargel stecken. Davon unbeirrt kämpfte sie sich weiter meinen Scheitel entlang und legte mir dabei meine sorgfältig aufgestellten Haare nach hinten. Da ging meine Frisur dahin, für welche ich zwanzig Minuten vor dem Spiegel gestanden hatte. Sicher sah ich aus wie ein Dandy.

„..wie ein kleines Mädchen hast du ausgesehen.“ Sie kichert vergnügt. „Ich weiss noch gut….“

Ein Glück, dass dieses Gespräch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Wenn man sich unter Gleichaltrigen beweisen will, sind Geschichten, die sich darum drehen, wie man der staunenden Verwandtschaft als Mädchenableger präsentiert wurde, nicht gerade zweckdienlich. Trotzdem machte ich gute Miene zum bösen Spiel und lächelte brav, während man mir zum tausendsten Mal die Geschichte erzählte, wie ich damals, bei der Hochzeit von Onkel Gustav, hei, war das vielleicht lustig, wie ich das meterlange Band mit den vielen Schnullern und Milchfläschchen, welches man als Glücksbringer für eine lange, glückliche Ehe gebastelt hatte, hatte fallen lassen und wie alles verspritzt war, oje, wie das eine Sauerei gegeben habe, damals, und wie Onkel Gustav mit dem schönen Hochzeitsanzug ausgesehen habe… und ob ich mich noch erinnern täte…

Als ob ich die Geschichte jemals hätte vergessen können. Schliesslich gab es Legionen von gutmeinenden Verwandten, die dafür sorgten, dass man die Geschichte nur ja nicht vergass, wie man doch damals, bei der Hochzeit von Onkel Gustav, du weisst schon, und das war vielleicht lustig…

Die Geschichte endete dann unweigerlich im Hinweis, dass ich mir nichts daraus machen solle, weil die Ehe der beiden ja ohnehin keine fünf Jahre gehalten habe. Meist senkte man an dieser Stelle die Stimme zu einem Flüstern, während man unsicher über die Schulter schielte. Die Scheidung war im überwiegend streng katholischen Dorf schliesslich ein grosser Skandal gewesen, der den armen Onkel Gustav in den Alkoholismus getrieben habe. So behauptete man wenigstens.

Ich war mir nicht so sicher. Onkel Gustav soff auch so, dazu brauchte der keinen Skandal. Und dann gab es auch noch ein paar ganz dreiste Gestalten, die sich sogar zur Versicherung veranlasst sahen, das alles sei aber sicher nicht meine Schuld gewesen, nein, nein, ich soll da bloss nicht auf das Gerede von Grosstante Hortensia hören. Die alte Hexe sei schliesslich immer schon ein wenig „gaga“ gewesen, das wisse doch jeder. Schliesslich könne ich ja nichts dafür, dass ich das Band mit den Milchfläschchen, hihihi.. aber das war vielleicht lustig, war das.

Ein Wort im Redeschwall von Tante Marta liess mich aufhorchen. Hatte ich da gerade was von Pullover gehört? War sie gar am Ende schon zu einem anderen Thema weitergezogen? Ich riss mich aus meinen Gedanken und fokussierte mich auf ihre Lippen, während der Wasserfall der Töne, der aus ihrem Mund rauschte, sich zerstückelte, Wörter formte und auf einmal einen Sinn ergab…

„..und die Hosen sind ja auch ganz zerlöchert. Ich muss mal mit deiner Mama reden, ob ich dir nicht ein paar alte Sachen von unserem Bertram bringen soll. Jaja, mein Bertram.“ Tante Martas Augen schweiften ins Leere. „Er hat in den Sachen immer so adrett ausgesehen, wie ein kleiner Geschäftsmann, dann hat er immer so ernst dreingeschaut. ‚Sieh nur‘, hat dein Onkel Theo immer gesagt, ‚unser kleine Buchhalter‘, und dann haben wir immer gelacht.“ Sie seufzte schwer. „Der Bertram ist ja aus seinen Sachen längst rausgewachsen, jaja, so ist das halt. Aber du bist ja immer noch so klein, dir passen die Sachen sicher noch, da brauchst du gar keine Angst haben...“

Angst? Die einzige Angst, die ich hatte, war, dass ich genötigt wurde, mit Cousins Bertrams viel zu grossen Bundfaltenhosen und seiner Strickweste in der Schule aufzutauchen. Der Kerl war mit 12 schon doppelt breit wie ich und machte immer einen auf Gernegross. Den Anzug, den er zur Erstkonfirmation erhalten hatte, trug er ganze drei Monate lang. Und das jeden Tag. Mit so was in der Schule anzutanzen kam einer Verurteilung zum mittelalterlichen Schandpfahl gleich.

Schon sah ich mich als Gespött auf zukünftigen Klassentreffen.

„..und da taucht er doch tatsächlich mit Bundfaltenhosen und einer Strickweste auf, hihihihohohooo“, brüllt Bürgi und der ganze Saal wiehert los. Er wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiss von seiner feisten Stirn, den ihm der Wein aus den Poren getrieben hat. Gönnerisch legt er mir seinen massigen Arm auf die Schulter. Unter seiner Achsel zeichnet sich ein riesiger Schweissfleck ab. „Hihi, aber der gute Sebastian war ja immer schon ein bisschen eigen, hihihi, ich mag mich noch erinnern, als er mir erzählt hat, wie er das erste Mal mit einem Sexheftchen onaniert….hoho, spritzt doch prompt über die Bettdecke, hihihihohoho…..seine Mutter die Flecken gesehen, hahaha…Joghurtflecken, sagt er, hahahaaa, Joghurtflecken, hohoho…“

Gelächter dröhnt durch die Halle, hunderte Gesichter lachen mich an, grinsen schadenfreudig, über mir der riesige Kronleuchter, der sich dreht, immer schneller dreht, der ganze Raum dreht sich, alles verschwimmt, mir wird schwarz vor den Augen...

Mamas Stimme drang wie Watte zu mir.

„..seid ihr ja. In der Küche gibt’s Kaffee und Kuchen, wenn jemand Lust hat.“

Der Druck an meinen Armen liess nach, der dunkle Schatten, der drohend über mir hing, verschwand. Zurück blieb Onkel Theobald, der Tante Martas Monolog teilnahmslos mitverfolgt hatte. Er hatte diese Imitation eines Pflanzenkübels in langen Ehejahren zur Perfektion verfeinert. Wie Papa mir einmal unter vier Augen mitgeteilt hatte, sei der Arme dabei sogar einmal von einem Chihuahua angepinkelt worden.

Nun aber kam Bewegung in den vormals so reglosen Hünen. Er legte mir tröstend die Hand auf die Schulter und seufzte schwer.

Manchmal sagen Gesten eben doch mehr als tausend Worte.

Am Küchentisch gab Papa, frisch rasiert und mit sauberem Hemd, souverän den Familienvorstand, der das Zepter fest in der Hand hielt.

Bei der Rasierklinge war ihm das scheinbar nicht so gut gelungen, denn sein Gesicht war von zahlreichen, blutigen Papierfetzchen übersäht. Sogar seine Ohren hatte der Arme verstümmelt. Bevor die Sprache jedoch auf Papas Flickenteppich von Gesicht kam, sollte das Qualitätsgefälle zwischen Kaffee und Kuchen für willkommene Ablenkung sorgen. So, wie die beiden den Mund verzogen, schien ihnen unser „feiner Selbstlöslicher“ wohl nicht so recht zu munden. Dabei hatte Onkel Theobald einen kleinen Vorteil für sich verbuchen können, weil Mama, ganz die perfekte Gastgeberin, natürlich Tante Marta zuerst bedient hatte. Als Mama mit der Milch bei ihm ankam, hielt er schnell seine Hand über die Tasse und behauptete geistesgegenwärtig, dass er den Kaffee lieber schwarz trinke. Das brachte ihm einen scheelen Blick von Tante Marta ein, die weiterhin tapfer in den Klümpchen rührte, die ihr Mama mit der schon etwas sauren Milch in den Kaffee hatte plumpsen lassen. Dafür hatten die beiden für den Kuchen nur lobende Worte übrig, was Mama zu einer kühnen Behauptung veranlasste.

„Selbstgemacht“, verkündete sie und strahlte stolz in die Runde.

Das war nicht gelogen, wenn auch selbstgemacht vom Bäcker, und nicht von Mama.

„Mhm, und so saftig“, schwärmte Tante Marta, „da musst du mir unbedingt das Rezept für geben, Luise, keine Wiederrede.“

Dieser Wunsch liess Mama nun doch leicht ins Schwitzen geraten. Schliesslich zog sie sich elegant mit der Ausrede aus der Affäre, dass ihr das Rezept ihre strenggläubige Grossmutter Meira (Gott habe sie selig) vermacht habe. Sie habe hoch und heilig auf den Rosenkranz versprechen müssen, dass sie das Rezept erst an ihrem Totenbett an eine würdige Person (bedeutungsschwangerer Blick auf Tante Marta) weitergeben würde. Dann jedoch sei nichts gegen einen Rezepttausch einzuwenden, liess sie durchblicken. Vorausgesetzt natürlich, man sei rechtzeitig mit Kugelschreiber und Notizblock zur Stelle. Tante Marta verstehe nun sicher, dass sie dieses Versprechen unmöglich brechen könne, das sei so ähnlich wie ein… äh, nun ja, wie ein Keuschheitsgelübde, halt.

Dieser etwas unpassende Vergleich sorgte für Stirnrunzeln bei Tante Marta, die wohl gerade überlegte, wie sich eine Schar von elf Kindern und Keuschheit unter einen Hut bringen liessen. Ihr Blick schweifte zu Papa, der sich selbstgefällig grinsend in seinem Stuhl lümmelte.

„Wenigstens scheint es deinem Rücken wieder besser zu gehen, Hermann“, sagte sie stattdessen spitz, „wo du doch so unter dem Hexenschuss gelitten hast.“

„Äh, jaja, heute geht es zum Glück wieder besser“, beeilte Papa sich zu versichern und richtete sich hastig auf. „Es kommt und geht. Gestern zum Beispiel, da konnte ich kaum laufen.“

Das war sogar wahr, das konnte ich bezeugen. Nur hatte das nichts mit einem Hexenschuss zu tun.

„Das liegt wohl in der Familie, Gerti hat es ja auch schon länger am Rücken. Sie will es jetzt mit einer Kur probieren, hat sie mir erzählt.“

Mama spitzte interessiert ihre Ohren. Wenn Tante Gerti in Kur ging, fiel sicher was für uns ab.

„So, wann hast du sie denn gesehen?“

„Grad neulich, beim Einkaufen. Jetzt, wo sie in Hinterschaan wohnt, sieht man sie ja nicht mehr so oft. Ich geb dir nachher mal ihre Telefonnummer.“

„Wie steht‘s denn mit Arbeit, Hermann, hast du schon wieder was in Aussicht?“, wollte Onkel Theobald wissen.

„Ach hör mir auf, ein Elend ist das“, jammerte Papa, „auf dem Bau stellt man heute nur noch die Jungen ein, da nützt dir deine ganze Erfahrung nichts. Mit noch nicht einmal 50 Jahren zählt man schon zum alten Eisen.“ Er seufzte schwer. „Das ist nun der Dank dafür, dass man sich sein ganzes Leben halbtot geschuftet hat.“

Und wahrscheinlich auch das Resultat davon, dass man sich immer verleugnen liess, wenn das Arbeitsamt anrief, aber das behielt ich wohl besser für mich.

Onkel Theo hob die Kaffeetasse an die Lippen und zögerte kurz. Widerwillig nahm er einen Schluck Kaffee. Die Brühe war bitter wie Galle. Er schüttelte sich.

„Wie kommt ihr denn so über die Runden?“

„Wie’s halt so geht, wenn man nichts hat. Man spart hier was ein und dort was, aber am Ende reicht das Geld nur gerade für das Allernötigste.“

Onkel Theos und Tante Martas Blicke wanderten nachdenklich über die leeren Flaschen, den übervollen Aschenbecher und die aufgerissene Stange Zigaretten auf dem Fenstersims. Sie warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Das war Mama nicht entgangen und sie griff zu einem gewagten Ablenkungsmanöver.

„Äh, darf es noch etwas Kaffee sein?“, fragte sie und schwenkte dabei die Kaffeekanne.

Tante Marta zuckte zusammen. Schnell zog sie ihre Tasse in Sicherheit.

„Sehr gütig, Luise, aber ich bin bedient“, verkündete sie hastig.

Wahrere Worte waren kaum je gesprochen worden.

Während Mama die Kaffeekanne unverrichteter Dinge wieder absetzte, wanderte Tante Martas Blick zu den Zigaretten zurück.

„Äh, ähem….“ machte sie.

Eine momentane Konzentrationsschwäche wurde mir zum Verhängnis. Statt aufmerksam dem Gespräch zu folgen, liess ich meinen Blick nämlich immer öfters gelangweilt zum Fenster hinausschweifen. Das sollte sich nun bitter rächen.

„Weisst du, Luise“, begann Tante Marta schliesslich, „ich habe vorhin schon zu Sebastian gesagt, dass er sich wegen seiner alten Sachen nicht schämen muss. Wir hätten da noch ein paar Sachen, die Bertram zu klein geworden sind.“ Sie strich sich mit den Händen abwesend den Rock glatt, während sie nach Worten suchte. „Sebastian ist ja, nun ja, etwas äh, schmächtiger und ihm würden die Sachen sicher passen. Am besten, ich schick dir mal eine Schachtel voll mit der Post zu, Luise, damit Sebastian auch mal was Anständiges zum Anziehen hat. Mit den zerrissenen Sachen ist er sicher das Gespött der ganzen Schule, ich weiss noch, wie es damals war, als unser Nachbarskind..“

Um es kurz zu machen: Ich habe Bürgi und Thuri an diesem Tag nicht mehr getroffen. Nach drei Runden Monopoly und einer erneuten Wiederauffrischung der Geschehnisse an Onkel Bennos Hochzeit, diesmal in vertrauter Runde, war es draussen auch schon dunkel.

Dafür wurde ich, nur wenige Tage später, stolzer Besitzer eines umfangreichen Kostümfundus, der sich schon am kommenden Fasching grosser Beliebtheit erfreute. Sogar ein paar Krawatten in Lätzchengrösse waren dabei, um die es immer ein grosses Gerangel gab, auch wenn die Teile sonst bloss in meinem Schrank verstaubten. Nach einer tagelangen Jammerattacke war es mir nämlich dann doch gelungen, Mama zu einem Einlenken zu bewegen.

„Von mir aus, aber bloss, damit du endlich Ruhe gibst“, hatte sie geschimpft und sich die Hände an die Schläfen gehalten. „Und dass du mir die Sachen ja anziehst, wenn Tante Marta wieder mal zu Besuch kommt, hörst du?“

Das war gottlob eher selten der Fall, und so kamen die potthässlichen Teile insgesamt nur zweimal zum Einsatz. Dabei fand Tante Marta vor allem an der gelben Strickweste mit den grünen Karos grossen Gefallen. Das bringe die roten Cordhosen und das geblümte Hemd so schön zur Geltung, schwärmte sie. Ich sei halt schon immer ein schönes Kind gewesen. Ja, sie möge sich erinnern, damals, als ich noch klein war, mit meinen schönen, langen Haaren…

Die Huren von Babylon

Ich geh dem Kleinen noch kurz die Welt zeigen“, verkündete Bürgi. Er zog sich seine Turnhose zurecht und sah fragend in die Runde. „Kommt einer mit?“

Nun war die gemeinsame Blasenentleerung vor der Turnstunde mittlerweile schon ein festes Ritual und die Frage nach interessierten Teilnehmern daher rein rhetorisch. Am Ende machte sich ja doch immer das gleiche Grüppchen auf den Weg. Nur einer fehlte heute, und als wir ins Klo traten, war auch klar, wieso. Der Abwesende war schliesslich aufgrund seiner vormundschaftsverordneten Grünzeugdiät für den Abgang von übelriechenden Geruchswolken bekannt und berüchtigt und so waren wir uns sicher, den Schuldigen für den grausigen Gestank, der uns entgegenschlug, gefunden zu haben.

„Thuri, du permanentscheissendes Dickdarmmonster“, maulte Peter los und baute sich grinsend vor der Kabinentür auf. „Wegen dir Stinktier fallen hier draussen schon die Fliegen tot von den Wänden. Die Gülle treibt einem ja die Tränen in die Augen, hähä.“

Wir prusteten los und klopften dem einfallsreichen Maulhelden beifällig auf die Schultern. Von der allgemeinen Heiterkeit ermutigt, machte sogar der schüchterne Hans mit.

„Pass bloss auf, dass dir bei dem Gestank dein Arschloch nicht abfault, du, äh, furzbuckliges Warzenschwein du“, rief er, was für weitere Lacher sorgte.

Den Vogel schoss aber eindeutig Bürgi ab.

„Zum Teufel mit all seinen babylonischen Huren nochmal“, schrie er, „hast du einen toten Pfaffen gefressen oder was?“ Er trat grinsend ein paar Mal gegen die Klotür. „Hier draussen stinkt‘s ja, als ob der Teufel persönlich sein Arschloch gelüftet hätte, hähähä.“

Spätestens dann war es um unsere Selbstbeherrschung geschehen. Wir hielten uns die Bäuche vor Lachen und es dauerte eine Weile, bis das Lachen abebbte. Bürgi wischte sich glucksend die Lachtränen aus den Augen und als sich knarrend die Klotür öffnete und uns eine Welle üblen Gestanks entgegenwehte, hielt er sich kindisch die Nase zu und röchelte albern.

Und so röchelte er sogar auch dann noch, als Pfarrer Brändle aus der Kabine trat.

Nur halt nicht mehr albern.

Mit schreckgeweiteten Augen sah er zu dieser riesigen Erscheinung auf, die wie ein Racheengel über ihm thronte.

Mit einem Kreuz wie ein Sumo-Ringer und seinem Abraham Lincoln Bart war unser Religionslehrer schon in guter Laune ein imposanter Anblick. Seine gute Laune musste ihm aber gerade irgendwie abhandengekommen sein. Es dauerte nur Sekunden und schon gaben die ersten Fersengeld. Und es dauerte nur eine Sekunde mehr, ihnen hinterherzurennen.

Nur Bürgi starrte immer noch wie hypnotisiert zu Pfarrer Brändle hoch. Die beiden hatten seit ein paar Wochen ein etwas gespanntes Verhältnis.

Pfarrer Brändle hatte damals den Unterricht mit dem wohlgemeinten Hinweis beendet, dass, wenn jemand noch Fragen habe, er sich ruhig melden solle. Dass ausgerechnet Bürgi, der bisher nicht durch rege Teilnahme am Unterricht aufgefallen war, als erster die Hand hob, überraschte ihn sichtlich. Und als Bürgi loslegte, war nicht nur er überrascht.

„Sagen Sie mal, Herr Pfarrer Brändle“, begann er dreist, „was verdient man als Pfarrer eigentlich so? So ein VW Golf, wie Sie einen fahren, kost‘ ja ein Schweinegeld. Das täte mich momentan grad interessieren.“

Pfarrer Brändle stockte kurz und man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann aber zog er sich elegant aus der Affäre, indem er mit entsättigten Farben ein derart düsteres Bild eines am Rande des Existenzminimums dahinvegetierenden Dieners der Gemeinde malte, dass man am Ende seiner Ausführungen versucht war, eine Kollekte für den Ärmsten zu veranstalten. Einige Mädchen wischten sich sogar Tränen aus den Augen, weil das Schicksal des ausgehungerten, mehr schlecht als recht von der Hand in den Mund lebenden 115 Kilogramm Hünen sie dermassen berührte.

Jetzt war die Zeit für eine Revanche gekommen, wie es schien.

„Soso, der Bürgi mal wieder“, lächelte Pfarrer Brändle grimmig, wenn auch nicht unzufrieden. „Du sag mal, Bürgi, wo du doch so gerne von den babylonischen Huren erzählst. Was sind denn das für welche? Das täte mich momentan grad interessieren.“

Mit dieser Frage hatte Bürgi nun wirklich nicht gerechnet.

„Jaa, äh, ähm, halt Huren halt…“, stotterte er unsicher, „so babylonische, eben.“

„Soso, grad Huren. Und was machen die denn so, diese ‚babylonischen Huren‘?“

„Jaa, äh, herumhuren, halt. Und so..“

„Aha, herumhuren. Und so…“

„Ja.“

„In diesem Babi.. wie war das noch?“

„In Babylonien“

„Aha. Was ist das denn, dieses Babylonien? Ist das etwa ein Bordell hier in der Gegend? Du wirst mir in deinem Alter doch noch kein Bordell kennen? Das würde mich jetzt aber wundern, würde mich das.“

„Äh, nein, das ist so ein Land, ist das…so eins.“

„Ach so, ein Land ist das. Ja, da bin ich aber froh, bin ich da. Und wo liegt es denn, dieses äh, ‚Babylonien‘?“

„Ja, äh, weit weg. Im Ausland, sozusagen.“

„Aha, weit weg im Ausland also. Sozusagen. Soso.“

Pfarrer Brändle räusperte sich kurz die Kehle frei.

„Weisst du was, Bürgi? Tu mir doch einen Gefallen und schreib bis am nächsten Mittwoch einen vier…nein, besser fünfseitigen Aufsatz über diese babylonischen Huren. Du scheinst dich mit diesem Thema ja bestens auszukennen. Und wer weiss, unter Umständen würdest du im Neuen Testament in der Offenbarung des Johannes auch noch den einen oder anderen Hinweis finden, der dir weiterhilft. Vielleicht solltest du dich da mal schlau machen und dort die Geschichte nachlesen. Unsere Bibliothekarin würde dir sicher eine Kopie leihen, wo du dich doch so sehr für dieses Thema interessierst. Nun, was meinst du, Bürgi, würdest du mir diesen Gefallen tun?“

Bürgi schluckte trocken.

„Äh, ich weiss nicht, Herr Pfarrer Brändle, mir wäre---“

„Bis am Mittwoch dann“, fiel ihm Pfarrer Brändle ins Wort und legte ihm seine Pranke auf die Schulter. „Und nicht vergessen. Fünf Seiten.“ Und mit einem Blick zu uns, wie wir unsere Nasen an der Glastür plattdrückten, um nur ja nichts zu verpassen: „Ah, wie ich sehe, warten deine Kameraden schon auf dich. Du solltest dich vielleicht sputen.“

„Äh, ja, Herr Pfarrer“, gab Bürgi leise von sich und machte sich dann mit hängendem Kopf davon.

Dieser Vorfall sollte viel zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Pfarrer Brändle und Bürgi beitragen, welches nun von gegenseitigem Respekt geprägt war. Gut, ganz ausgeglichen war das Verhältnis nicht, es war eher so 90 zu 10 zugunsten Pfarrer Brändle, trotzdem (oder vielleicht ja auch gerade deswegen) sind die beiden nie mehr aneinandergeraten. Und von diesen berühmten „babylonischen Huren“ haben wir Bürgi auch nie mehr reden hören.

Umgekehrt wäre ich mir da nicht so sicher, gäbe es sie denn, diese „babylonischen Huren“ aus „Babylonien“, denn zumindest die Geschichte mit der Dusche hat sich damals weit herumgesprochen und es wäre gut denkbar, dass sie selbst in Babylo…

Was, Sie kennen die Geschichte mit der Dusche noch nicht?

Dann lassen Sie mich Ihnen auf die Sprünge helfen.

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