Buch lesen: «Autochthone Minderheiten und Migrant*innen», Seite 9

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Die Flüchtlinge und der politische Diskurs der 1990er-Jahre

In Hinblick auf die Gesetzgebung verfügte und verfügt Südtirol als autonome Provinz über keinerlei Kompetenzen im Bereich des Asylrechts und der Flüchtlingsaufnahme sowie bei der Schließung von Rückübernahmeabkommen mit den jeweiligen Ursprungsländern. Trotzdem werden den Regionen und (autonomen) Provinzen von der Regierung Zuständigkeiten übertragen, die die soziale, kulturelle, aber auch wirtschaftliche Integration der Schutzsuchenden umfassen. Dazu gehören Kompetenzen in den Bereichen Gesundheitswesen, Schulwesen, Wohnbau, Teilnahme am öffentlichen Leben sowie Maßnahmen gegen Diskriminierung. Die Südtiroler Landesregierung übernahm in den 1990er-Jahren diese Zuständigkeiten jedoch nicht offensiv,257 sondern verfolgte gegenüber den Flüchtlingen eine Politik des Wegschauens. Es lag auch nicht im Interesse des Landes, Maßnahmen für die Integration von Neuankömmlingen zu erlassen. Denn die Südtiroler Volkspartei sah laut Parteiprogramm ihre Hauptaufgabe darin, das „[…] Land mit seiner Bevölkerung vor Überfremdung […] zu bewahren“258 und nicht eine multikulturelle Gesellschaft zu begünstigen.

Als in Folge des Zusammenbruchs des Ostblocks mit Ende des Kalten Krieges 1991 über 25.000 Menschen aus Albanien über die Meerenge von Otranto nach Italien flüchteten,259 und davon 361 Menschen aufgrund staatlicher Überweisung in Südtirol Unterkunft fanden,260 stießen Vorschläge zur „kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen“ Integration der Schutzsuchenden vonseiten des SVP-Abgeordneten Franz Pahl bei der Landesregierung auf wenig Interesse.261 Dieser hatte die Einführung von Sprachkursen für Flüchtlinge, die Eingliederung der Jugendlichen und Kinder in die Schule sowie die Integration in den Arbeitsmarkt vorgeschlagen. Ebenfalls sollten „zwischen Einheimischen und Flüchtlingen […] nur jene Unterschiede gemacht werden, die der Sachlage nach geboten sind und nur, solange sie geboten sind.“262 Die Forderungen des SVP-Abgeordneten blieben bei der Landesregierung jedoch ungehört. Daran änderte sich auch nichts, als im August 1991 weitere 20.000 sogenannter boat people Italien erreichten, die in Rostlauben die Adria überquerten und auf ein besseres Leben hofften. Damals gingen auch die Bilder des extrem überfüllten Flüchtlingsschiffs Vlora um die Welt, die die dramatische Situation der Fliehenden zeigten.263 Italien war auf die Ankunft einer derart großen Anzahl von Menschen nicht vorbereitet: Es fehlte an Flüchtlingsheimen, funktionierenden Systemen zur Verteilung und generell an zentralen und lokalen Behörden zur Verwaltung.264

Primäres Ziel der italienischen Regierung war es deshalb, die Flüchtlinge landesweit auf verschiedene Einrichtungen zu verteilen. Zweck dieser Verteilung war es zudem, die Kontrolle über die Neuankömmlinge zu bewahren, indem soziale Bindungen getrennt wurden, andererseits sollte die Aufnahme in den Arbeitsmarkt in den einzelnen Regionen auf diese Weise erleichtert werden.265 In Südtirol wurde die ehemalige Kaserne Cesare Battisti bei Welsberg als Unterkunft zur Verfügung gestellt und die dort untergebrachten albanischen Bürger*innen wurden auf Staatskosten versorgt.266 Die Landesregierung in Südtirol selbst zeigte sich gegenüber den Geflüchteten jedoch äußerst zurückhaltend, weshalb der Landtagsabgeordnete Franz Pahl zu Recht das „stille Nichtstun“ der Südtiroler Volkspartei sowie die „Warteposition“ des Landes beklagte:

„Begreiflich zwar, daß eine politische Landesführung, die ein Leben lang mit dem ethnischen Überlebenskampf beschäftigt war […], es nicht gerne sieht, wenn […] auch einem kleinen Land neue Aufgaben aufgenötigt werden. Begreiflich ist das aber nur psychologisch, politisch logisch ist es nicht.“267

Die Aufnahme der Flüchtlinge erfordere, so der Politiker Pahl, ein Umdenken bei der Landesführung und ein Überwinden der historisch begründeten Ängste, da es sich diesmal um keine „italienische Einwanderung, sondern um eine humane Hilfsaktion“268 handle.

Die Landesregierung begegnete den Flüchtlingen aus Albanien jedoch mit Skepsis. Zudem sah sich die Gemeinde Welsberg mit der Zahl der Neuankömmlinge überfordert. Die Bevölkerung als auch die Politiker*innen von Welsberg äußerten ihre Bedenken und erklärten, 361 Flüchtlinge für einen kleinen Ort wie Welsberg seien zu viel.269 Franz Pahl hielt auch hier entgegen: „Aber ein Vielfaches an Touristen heißen wir willkommen. […] Eine Partei mit ethischer Legitimation muß sich hier entscheiden für ein neues Humandenken, das nicht nur die Südtiroler Sozialbedürfnisse abdeckt.“270 Die aufgekommen Unruhen veranlassten Abgeordnete der Alternativen Grünen Fraktion dazu, weitere Bemühungen zu fordern, um eine friedliche Integration der Geflüchteten zu erreichen. Dazu gehörten die Verteilung der Neuankömmlinge auf alle Gemeinden Südtirols, die Intensivierung von Sprachkursen, die Einschulung von Kindern sowie die Vermittlung von Arbeitsplätzen.271

Ähnlich wie die Anfragen von Franz Pahl blieben auch die Bemühungen der Grünen weitgehend unberücksichtigt – nicht zuletzt, weil die Aufnahme von Flüchtlingen im Land erst gar nicht in Erwägung gezogen wurde. So ist im Parteiprogramm der bis heute den Landtag dominierenden Südtiroler Volkspartei aus dem Jahr 1993 im Hinblick auf den Umgang mit Flüchtlingen zu lesen:

„Die Südtiroler Volkspartei hat Verständnis für politische Flüchtlinge und tritt dafür ein, dass auch Südtirol im Rahmen seiner Möglichkeiten diesen Menschen im eigenen Land konkrete Hilfe bietet. […] Sie ist überzeugt und wird sich dafür einsetzen, dass den Menschen vor Ort geholfen wird. Nur eine solche Hilfe kann effektiv und von dauerhafter Wirkung sein.“272

Geholfen werden sollte laut Parteiprogramm in den Krisenländern bzw. Herkunftsländern und nicht im eigenen Land. Dies änderte jedoch nichts daran, dass Geflüchtete auch in Südtirol eine Realität darstellten und diese Realität auch Maßnahmen zur Eingliederung verlangte. Stattdessen setzte die SVP weiterhin auf finanzielle Unterstützung in den jeweiligen Herkunftsländern, selbst nach der Ankunft weiterer Schutzsuchender aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens zwischen 1991 und 1999. Geflohen waren jene Menschen vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien, die maßgeblich durch das Serbien Miloševićs verursacht wurden. Als Folge der innerjugoslawischen Bürgerkriege kam es zu massiven Bevölkerungsbewegungen aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo. Medienberichte über die Gräueltaten brachten die EU-Mitgliedstaaten unter moralischen und politischen Handlungsdruck, die es aber trotzdem nicht vermochten, die Zivilist*innen vor den Massakern zu schützen.273 Die Südtiroler Landesregierung selbst beteiligte sich 1995 mit der Verdoppelung von Spenden der Südtiroler Bevölkerung an die Caritas.274 Die Hilfe für Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien verhielt sich aber nach der Zuweisung durch die italienische Regierung von zunächst 340 bis 380 Menschen in der Wackernell-Kaserne in Mals und 130 Personen in Wiesen-Pfitsch erneut zögerlich.275

Dass Hilfe im eigenen Land für die Landesregierung keine Option darstellte, zeigte sich insbesondere und ebenfalls im Jahr 1995, als sich die Situation in Bosnien-Herzegowina zunehmend verschlechterte und immer mehr Menschen außerhalb ihres Landes Schutz suchen mussten. Anfragen seitens der Gesellschaft für bedrohte Völker und der Grünen, weitere Menschen in Südtirol aufzunehmen, wurden von der Landesregierung wenig beachtet.276 Selbst der persönlichen Bitte des Ministers für Flüchtlinge und Vertriebene der Republik Bosnien-Herzegowina, Martin Raguž, weitere Flüchtlinge aus Bosnien in der Provinz Bozen aufzunehmen, kam die Landesregierung nicht nach. Wie Landeshauptmann Luis Durnwalder laut Dolomiten am 22. August 1995 sagte, sei es „[…] im Falle der bosnischen Flüchtlinge viel besser, konkrete humanitäre Hilfe zu leisten, als Lösungen zu verlangen, die, wie weitere Flüchtlinge aufzunehmen, nicht durchführbar sind.“277 In Südtirol betrug das Verhältnis zwischen aufgenommenen Flüchtlingen und Einwohner*innen im Jahr 1995 1:1.500. Im Vergleich: In Österreich kam im selben Zeitraum ein Flüchtling auf 120 Einwohner*innen.278 Es handelte sich deshalb nicht, wie Landeshauptmann Durnwalder betonte, um eine Frage der Durchführbarkeit, sondern vielmehr um eine Frage des Willens, und der war seitens der Landesregierung nicht gegeben. Auch Forderungen seitens der Grünen und der inzwischen neu gegründeten Freiheitlichen Partei im Jahr 1999, Flüchtlingsunterkünfte zu errichten sowie Flüchtlingsbeauftragte zu ernennen,279 blieben von der Südtiroler Landesregierung ungehört.

Diese Haltung war vor allem für jene Menschen dramatisch, die unabhängig von der staatlichen Überweisung nach Südtirol kamen und deshalb nicht in den staatlichen Einrichtungen untergebracht wurden. Zu diesen gehörten auch Roma-Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, insbesondere aus Mazedonien, von denen sich rund 300 nach Südtirol durchschlugen. Sie verfügten über eine außerordentliche Aufenthaltsgenehmigung „aus humanitären Gründen“, lebten in der Provinz jedoch in einem illegalen Lager am Ex-Vives-Gelände in Bozen-Süd unter prekären und hygienisch untragbaren Zuständen.280 Für jene Roma-Flüchtlinge, die in ihrer Heimat mehrheitlich ein bürgerliches Leben geführt hatten, also einer Arbeit nachgegangen und sesshaft gewesen waren, war diese Situation besonders tragisch.281 Erst nach einem Brand 1996 löste die Stadt das Lager aufgrund der katastrophalen Zustände auf und befasste sich mit Lösungen für eine humane Unterbringung.282 Nach langen Verhandlungen und trotz wenig Kooperationsbereitschaft der Gemeinden wurden schließlich zwei Wohnplätze gefunden: In der Sader-Kaserne in Vahrn wurden etwa 130 der geflüchteten Personen untergebracht, 40 bis 45 Menschen kamen in einem ehemaligen Treibstoffdepot in Meran-Untermais unter.283

Die Unterbringung der Roma war jedoch alles andere als unproblematisch, denn der Großteil der Anrainer*innen wehrte sich gegen die Umsetzung der Pläne der Landesregierung – so gut wie niemand wollte die mazedonischen Flüchtlinge in der unmittelbaren Nachbarschaft haben. Sowohl in Meran als auch in Vahrn kam es deshalb zu Protestkundgebungen. In Meran befürchteten Hoteliers durch das Lager einen Image-Verlust: „Skandal! Roma-Lager am Ortseingang – Das Aus für den Tourismus; 10 Pensionen mit 300 Betten bangen um ihre Existenz“284, stand beispielsweise auf einem der Protestschilder. Auch in Vahrn befürchtete die Bevölkerung durch die Ansiedlung von Roma-Flüchtlingen Auswirkungen auf den lokalen Tourismus: „Der Gast sucht in Südtirol Ruhe und eine heile Welt“285, meinte Josef Thaler, Präsident des Brixner Tourismusvereins. Die Roma-Flüchtlinge würden dieses Bild stören. Ebenfalls die Freiheitlichen verurteilten die Verteilung der Roma-Flüchtlinge in verschiedene Unterkünfte: Die Errichtung von auf das ganze Land verstreuten Zigeunerlagern bringt nicht nur zusätzlichen sozialen Sprengstoff, sondern zieht immer neue Gruppen an.“286

Aus diesem Grund sollte laut Pius Leitner Hilfe nicht vor Ort, sondern in den jeweiligen Herkunftsländern stattfinden:

„Das Zigeunerproblem ist zu einem guten Teil auch ein Flüchtlingsproblem. Es kann nur gelöst werden, wenn sich der Zustand von Krieg, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, Rechtsunsicherheit usw. in den Herkunftsländern ändert.“287

Für die Flüchtlinge, die bereits in Südtirol lebten, konnten die Vorschläge der Freiheitlichen jedoch weder eine Verbesserung ihrer Situation noch eine Lösung bedeuten.

Die Flüchtlingspolitik der 2000er-Jahre

Zu ersten konkreten politischen Maßnahmen zum Schutz von Menschen, die in Südtirol zeitweilig oder auch langfristig Aufnahme suchten, kam es in den 2000er-Jahren. Auslöser dafür war die mitunter katastrophale Situation kurdischer Flüchtlinge im Jahr 1999 und 2000, die auf dem Weg in den Norden Europas einen Zwischenaufenthalt in Südtirol von ein bis vier Tagen einlegten.288 Da die Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft von der Landesregierung abgelehnt wurde, mussten die Schutzsuchenden ihre Aufenthaltstage im Bozner Bahnhofspark, im Obdachlosenheim oder im ehemaligen Hotel Tre Gobbi in Bozen verbringen.289

Die Gesellschaft für bedrohte Völker kritisierte deshalb erneut die Untätigkeit der Landesregierung. In einem Schreiben an die Abgeordneten und Fraktionen der Landesregierung am sechsten Oktober 1999 forderte diese die Landesregierung auf, ihre Pflicht in der Flüchtlingsversorgung nachzukommen:

„Es ist vollkommen unverständlich, daß ein reiches Land wie Südtirol Flüchtlingen keine Unterkunft bietet und sie dem Zufall bzw. dem Idealismus von Freiwilligen-Organisationen überläßt. […] Allein in den vergangenen zwei Wochen hat die Bahnpolizei in Bozen mehr als 300 Kurden an der Weiterreise nach Deutschland gehindert. […] Die Hälfte davon fand Unterkunft bei den Patres in Muri Gries, ein weiterer Teil war gezwungen, im Bahnhofspark zu übernachten. Wie in allen Fällen gehört die Abwesenheit der öffentlichen Verwaltung zu den blamablen Details dieser Flüchtlingstragödien.“290

Daraufhin forderten die Grünen in einem Antrag die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts zur zeitweiligen Flüchtlingsunterbringung.291 Im Landtag wurde dieser Antrag angenommen und im Juli 2000 schließlich genehmigte die Landesregierung den sogenannten Landesplan für Flüchtlinge. Dort hieß es: „Die Autonome Provinz Bozen gewährleistet den Flüchtlingen, welche sich kurz, mittel- oder langfristig in Südtirol aufhalten, Hilfe und Unterstützung […].“292 Vorgesehen waren Maßnahmen, die die Errichtung eines Aufnahmezentrums für eine kurze Aufenthaltsdauer (max. fünf Tage), finanzielle Unterstützung und die Bereitstellung von Wohnungen bzw. die Unterbringung in Privathaushalten für eine längere Anwesenheit (durchschnittlich ein Jahr) sowie Asylantenwohnheime für mittelfristige Aufenthalte umfassten. Ebenfalls war die Errichtung eines Flüchtlingszentrums für außergewöhnliche Notfälle vorgesehen.293

Auch die berufliche Integration wurde als ein Grundsatz der Flüchtlingshilfe angeführt:

„Neben der notwendigen humanitären Hilfe, soll den Flüchtlingen durch Bildungs- bzw. Berufsbildungsangebote die persönliche und berufliche Entfaltung bzw. Entwicklung ermöglicht werden.“294

Darüber hinaus genehmigte die Landesregierung den von Landesrat Otto Saurer im Dezember 1999 vorgebrachten Landessozialplan 2000 bis 2002, in dem zum ersten Mal der Bereich Flüchtlinge eigens angeführt wurde. Der Landessozialplan sah neben Maßnahmen zur Unterbringung von geflüchteten Menschen auch Integrationsmaßnahmen für Neuankömmlinge vor.295 Die Landesregierung hatte somit politische Rahmenbedingungen geschaffen, um Geflohenen eine bessere Unterstützung zu bieten. Als jedoch Cristina Kury von den Grünen im Jahr 2002 bei der Landesregierung nachfragte, was von den Maßnahmen des Landesplans für Flüchtlinge bereits umgesetzt worden sei, musste Landesrat Saurer gestehen, dass nicht alle Maßnahmen ausgeführt werden konnten, und schob dies u. a. auf die Schwierigkeiten der Strukturenbereitstellung sowie auf die Unvorhersehbarkeit von Fluchtbewegungen.296 Aus dem Landessozialplan 2007 bis 2009 geht jedoch hervor, dass bis 2006 72 Schlafplätze für Flüchtlinge in ganz Südtirol geschaffen wurden. Ziel bis 2009 war die Schaffung weiterer 78 Plätze.297

Weil es bis 2011 zu keinen größeren Fluchtbewegungen nach Italien und somit Südtirol kam und nur wenige Geflüchtete Schutz in der Provinz Bozen suchten, hielten sich in den 2000er-Jahren weitere politische Debatten über Flüchtlinge in Grenzen. Lediglich die Freiheitlichen griffen das Thema von Zeit zu Zeit auf. Zum Beispiel wurde am Weltflüchtlingstag im Jahr 2003 in einer Pressemitteilung darauf aufmerksam gemacht, dass die Asylpolitik nicht mit der Einwanderungspolitik zu vermischen sei.298 Oder 2004, nach den Anschlägen in Madrid, wurde eine Verschärfung des Asylrechtes (Beschleunigung der Verfahren, Meldepflicht und verschärfte Kontrollen für Asylberwer*innen, strikte Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und echten, politischen Flüchtlingen und sofortige Abschiebung bei gefälschter Identität) für Südtirol gefordert.299

Die Flüchtlinge und der politische Diskurs 2011 bis 2014

Zur ersten gesetzlichen Verankerung von politischen Maßnahmen hinsichtlich der Integration von Menschen anderer Nationalitäten kam es 2011. Zwar führte bereits der Landessozialplan für 2000 bis 2002 die Integration geflüchteter Menschen als eine wesentliche Aufgabe an, doch erließ die Südtiroler Landesregierung erst 2011 auf Druck der Opposition ein Integrationsgesetz für Zugewanderte und Flüchtlinge. Dieses schuf in den Bereichen sozialer Spracherwerb, Fürsorge, Gesundheit, Wohnbauförderung sowie Aus- und Weiterbildung Möglichkeiten, die über staatliche Bestimmungen hinausgingen. Ebenso sah das Integrationsgesetz die Schaffung eines mehrjährigen Programms zur Einwanderung, die Gründung einer Antidiskriminierungsstelle sowie eines Landeseinwanderungsbeirates vor.300 Zu Recht kritisierten die Grünen jedoch, dass dieses Gesetz keine spezifischen Verpflichtungen gegenüber „Flüchtlingen, Staatenlosen, Asylbewerbern und Personen, die unter internationalem Schutz stehen“301 vorsah. Angesichts der Ankunft Tausender Flüchtlinge aus Nordafrika in Italien und der Unterbringung von 0,9 Prozent jener Geflohenen (das entsprach 169 Asylwerbenden) im Jahr 2011 wurde der Landesregierung deshalb erneut übermäßige Zurückhaltung vorgeworfen. Denn für die Flüchtlinge, die aufgrund des Ausbruchs des Bürgerkriegs in Libyen ihre Heimat verlassen mussten und in Südtirol unter anderem in Bozen, Meran und Vintl (Fischerhaus) Aufnahme fanden, enthielt das Integrationsgesetz keine spezifischen Maßnahmen zur Eingliederung in die Südtiroler Gesellschaft.

Auslöser für die Flucht Tausender aus Nordafrika stammender Menschen nach Italien war die arabische Demokratie-Bewegung, auch Arabischer Frühling genannt, die 2011 in Tunesien und Ägypten zu einem Sturz der Regime führte und folglich Protestbewegungen in Libyen, Jemen und Syrien hervorrief. Sie begannen als Bürgeraufstände und waren gegen die Willkür der Regime gerichtet.302 In Libyen mündeten die Proteste jedoch in einen Bürgerkrieg zwischen Aufständischen und den regierungstreuen Truppen des Machthabers Muammar al-Gaddafi, was zu einer Flucht über einer Million Menschen aus Libyen führte.303 Obwohl Italien 2011 im Gegensatz zu den Nachbarländern Libyens (zum Beispiel Ägypten oder Tunesien) lediglich einen Bruchteil der nordafrikanischen Geflüchteten aufnahm und die Zahl der aufgenommen Schutzsuchenden für Italien keinesfalls eine neue Dimension darstellte, löste jene Flüchtlingsbewegung in Europa enorme Ängste vor einem unaufhaltsamen Zustrom irregulärer Migrant*innen aus. So ging Italiens Außenminister Franco Frattini im Frühjahr 2011 von 200.000 bis 300.000 Menschen aus, die nach Italien flüchten und einen Exodus biblischen Ausmaßes verursachen würden. Auch der italienische Innenminister Roberto Maroni (Lega Nord) befürchtete, dass die libyschen Flüchtlinge Italien in „die Knie zwingen“ würden. Prognosen, die keinerlei Bezug zur Realität hatten und sich im Nachhinein als maßlose Übertreibung entblößten.304 Italien setzte anschließend auf die Abwehr der Flüchtlinge und unterzeichnete im Juni 2011 mit Libyen eine Vereinbarung für den Kampf gegen die illegale Einwanderung. Obwohl in Libyen der Bürgerkrieg noch nicht geendet hatte, wurden tausende Schutzsuchende zurückgeschickt.305

Die Panikmache in Italien übertrug sich auf Südtirol, wo sich die Landesregierung erneut zögerlich und ablehnend gegenüber jenen Menschen zeigte, die vor kriegerischen Auseinandersetzungen flüchteten. Landeshauptmann Luis Durnwalder äußerte sich im März 2011 in der Dolomiten wie folgt: „Südtirol verfügt über wenige geeignete Strukturen, in welchen Flüchtlinge aus Libyen untergebracht werden können. […] Das Land kann höchstens 50 Personen unterbringen.“306 Kurze Zeit später sank diese Zahl weiter auf 20 bis 30 Personen, obwohl laut Landessozialplan 2007 bis 2009 mehr Plätze für Flüchtlinge geschaffen wurden. Die Landesregierung betrachtete es offensichtlich nach wie vor nicht als ihre Aufgabe, Menschen aufzunehmen, die Hilfe und Sicherheit in einem für sie fremden Land suchten. Vielmehr wurden die Zuweisung und die Aufnahme von geflüchteten Personen als Bürde oder als Zumutung wahrgenommen, die einem kleinen und speziellen Land wie Südtirol auferlegt würde. Ernstgemeinte Gastfreundschaft oder Hilfsbereitschaft, bei der das tragische Schicksal von Menschen und nicht eigene Interessen im Vordergrund standen, zeigten sich im politischen Diskurs nur selten und lediglich bei den Grünen.

Darüber hinaus hatte die abwehrende Haltung gegenüber Geflüchteten zur Folge, dass besonders auf Seiten der Freiheitlichen die Forderung nach mehr Autonomie und Recht auf Mitbestimmung in der Flüchtlingsfrage laut wurde. Begründet hatte die Partei ihre Forderung mit der Andersartigkeit Südtirols:

„In der Flüchtlingspolitik braucht es in Südtirol eine andere Denkart als in einem großen Staat. Ein Minderheitenland wie wir es sind darf kein Flüchtlingsland sein […]. Ein Minderheitenland muss in der Einwanderungsfrage primäre Gesetzgebung haben, damit wir die Zuwanderung selbst steuern können. So wie es jetzt geschieht, handelt es sich bei der Zuwanderung um eine Unterwanderung der deutschen und ladinischen Volksgruppe und das kann nicht sein!“307

Die Sorge, dass sich der ethnische Proporz in Südtirol durch die Eingliederung ausländischer Bürgerinnen und Bürger zugunsten der italienischen Sprachgruppe verschieben könnte, weil sich „ein guter Teil der Einwanderer und Flüchtlinge […] längerfristig der italienischen Volksgruppezugehörig erklärt“308, lag nicht zuletzt in der historisch versuchten Italianisierung Südtirols begründet. Vor allem Zugehörige des rechten Parteienspektrums sahen in der vermuteten Integration der Flüchtlinge in die italienische Sprachgruppe eine Gefahr für die Existenz der deutschen und ladinischen Bevölkerung. Aber nicht nur die Freiheitlichen und die Süd-Tiroler Freiheit, sondern auch die Südtiroler Volkspartei äußerte immer wieder ähnliche Bedenken.

Des Weiteren warnten die Freiheitlichen vor einer Islamisierung Südtirols sowie vor der Einreise von Islamisten in Südtirol. Die Partei schreckte auch davor nicht zurück, einen Beschlussantrag zu diesem Thema einzureichen, in dem folgendes gelesen werden konnte:

„Die schleichende Islamisierung Europas schleicht unaufhaltsam voran. Auch Südtirol wird davon immer stärker betroffen. […] Es ist zu befürchten, dass mit den sich abzeichnenden Flüchtlingsströmen aus Nordafrika auch weitere Islamisten nach Europa kommen und es grenzt an Blauäugigkeit, einfach darauf zu hoffen, dass in Nordafrika jetzt automatisch demokratische Staaten entstehen werden.“309

In Anbetracht der Tatsache, dass im Jahr 2011 nicht mehr als 2,5 Prozent der Südtiroler Gesamtbevölkerung Muslim*innen waren und lediglich 196 nordafrikanische Asylbewerber*innen in Südtirol untergebracht wurden, hatten diese Ängste keine ernsthafte Grundlage.310 Dass die Panikmache jedoch ihre Wirkung in der Bevölkerung nicht verfehlte, zeigt der Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft in Vintl (Fischerhaus) im Mai 2011.311

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