Buch lesen: «Autochthone Minderheiten und Migrant*innen», Seite 5

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Ethnische Berichterstattung, mangelnde Meinungspluralität, Autoreferenzialität und die Folgen für die Migrationsberichterstattung

Medien stellen Öffentlichkeit her. Diese Öffentlichkeit sollte möglichst alle Bürger*innen eines Landes umfassen und ihnen die gleichen Informationsmöglichkeiten bieten. Gerade dies ist aber nur möglich, wenn alle Bürger*innen Zugriff auf dieselben Medien haben und dieselben Sprachen verstehen. In Südtirol ist jedoch Gegenteiliges der Fall. Da in Südtirol nicht von einer Gesamtgesellschaft die Rede sein kann, sondern vielmehr von nebeneinander lebenden Subgesellschaften mit eigenen Medien, fehlt es an einer wünschenswerten und notwendigen Berichterstattung für die Gesamtgesellschaft. Eine Umfrage aus dem Jahr 2000 hatte beispielsweise ergeben, dass zur damaligen Zeit lediglich 9 Prozent der italienischsprachigen Bevölkerung auch ab und an zur deutschsprachigen Dolomiten griff und immerhin 22 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung auch die Alto Adige las.199 Diese Trennung gilt und galt nicht nur für die Adressaten, sondern auch für die Auswahl der Nachrichten. Neben den allgemeinen Parametern der Nachrichtenfaktoren, also den Merkmalen, die den Nachrichtenwert bestimmen, gibt es in Südtirol den zusätzlichen ethnischen Nachrichtenfaktor.200

Die Tageszeitungen können also im Grunde als Spiegel des sozialen bzw. politischen Systems verstanden werden, das auf der ethnischen Trennung der drei Sprachgruppen – der deutschen, italienischen und ladinischen – beruht. Das bedeutet, dass jede Gruppe ihre eigenen einsprachigen Medien besitzt und als Folge dessen eine jeweils andere mediale Wirklichkeit präsentiert bekommt. Dadurch wird die Bevölkerung nicht auf gleiche Art und Weise über politisches Handeln aufgeklärt und es kommt vor, dass Medien der einen Sprachgruppe eine politische Maßnahme als unbedingt notwendig verkaufen, während Medien der anderen Gruppe diese als nutzlos bezeichnen. Im ethnisch geteilten Südtirol erschweren deshalb getrennte Realitäten gemeinsame Zustimmungsprozesse. Denn wenn eine getrennte Massenkommunikation zu einer segmentierten Öffentlichkeit führt, ist die Legitimation des politischen Systems asymmetrisch und brüchig.201 In der Zuwanderungspolitik hat dies insofern weitreichende Folgen, als Rechte, die sich u.a. auf wohlfahrtstaatliche Leistungen und politische Partizipation beziehen, stets durch die Gesamtbevölkerung legitimiert werden müssen.202 Das getrennte System verhindert eine Wir-Identität zwischen den beiden Sprachgruppen, vielmehr arbeiten beide Gruppen in wichtigen Fragen gegeneinander,203 was sich auch in der Migrationsberichterstattung widerspiegelt.

Eine weitere Charakteristik für das Südtiroler Mediensystem ist die mangelnde Meinungspluralität. Sowohl die Alto Adige als auch die Dolomiten haben innerhalb ihrer Sprachgruppe eine Reichweite von über 80 Prozent. Dies bedeutet, dass – laut einer ASTAT-Studie aus dem Jahr 2000 – 88 Prozent der deutschen-ladinischen Bevölkerung täglich die Dolomiten liest und 82 Prozent der italienischsprachigen Bevölkerung mindestens einmal pro Woche zur Alto Adige greift.204 Obwohl Südtirol eine wachsende Anzahl an regionalen und überregionalen Medien zur Verfügung stehen, fehlen nach wie vor konkurrenzfähige Alternativen. Unabhängige und kritische (Print-)Medien müssten in Südtirol mehr Einfluss und finanzielle Mittel erhalten, um am Leben erhalten zu werden.205 Geschieht dies nicht, werden Informationen weiterhin einseitig verbreitet. Dies wirkt sich im Besonderen auf die Wahrnehmung von Migration aus. Zugewanderte sind in Südtirol außerhalb des medialen Raums kaum öffentlich sichtbar, weshalb es dem Großteil der Bevölkerung nicht möglich ist, sich ein eigenes oder ausgewogenes Bild über viele Themen zu machen. 2016 kam es zudem zu einem großen Rückschritt für die Meinungspluralität in Südtirol, als die Alto Adige in den Medienkonzern der Athesia-GmbH einverleibt wurde.

Neben der ethnischen Berichterstattung und der mangelnden Meinungspluralität ist das Südtiroler Mediensystem auch von ethnischer Autoreferenzialität geprägt. Dies bedeutet, dass Ereignisse und (politische) Akteur*innen der eigenen Sprachgruppe stärker berücksichtigt werden. So dominieren in der deutschsprachigen Zeitung deutschsprachigen Personen und in der italienischsprachigen die italienischen. Die ethnische Autoreferenzialität führt ebenfalls dazu, dass sich die Alto Adige stärker auf Ereignisse in den Ballungszentren konzentriert, dort, wo die italienischsprachige Bevölkerung eine Mehrheit bildet. Dies wirkt sich auch auf die Migrationsberichterstattung aus. Denn ebenfalls Migrant*innen suchen ihren neuen Lebensmittelpunkt bevorzugt in den Ballungszentren Südtirols. So lebt zum Beispiel ein Drittel aller Zugewanderten in der Landeshauptstadt Südtirols.206 Die Alto Adige bildet somit eine unterschiedliche (Medien-)Realität ab als die Dolomiten, die ihren Fokus stärker auf den ländlichen Raum legt,207 wo sich lange Zeit nur vereinzelt Migrant*innen niedergelassen haben. Erst in den letzten Jahren kam es auch hier zu einem Anstieg.208

2. Das Korpus – 20.000 Artikel und Leserbriefe
2.1 Das Korpus

Das Korpus Migration und Südtirol umfasst insgesamt 20.788 ausgewählte und digitalisierte Zeitungsartikel (Berichte, Meldungen, Interviews, Kommentare, Leserbriefe etc.) zum Thema Migration und Südtirol. Grundlage für das Medienkorpus bilden die zwei auflagenstärksten Tageszeitungen Südtirols, die italienischsprachige Alto Adige und die deutschsprachige Dolomiten, von 1990 bis 2014/15. Beide Tageszeitungen erscheinen täglich und umfassen durchschnittlich 7.000 (Dolomiten) und 14.000 (Alto Adige) Seiten pro Monat. Für die Erstellung eines für die Beantwortung der Forschungsfragen angemessenen Korpus und zur Eingrenzung des schieren Umfangs an Nachrichtenmeldungen wurde lediglich die regionale Berichterstattung beider Tageszeitungen berücksichtigt und nach Stichworten durchsucht.

Das Korpus liegt in digitalisierter Form vor und setzt sich aus eingescannten PDF-Dateien oder bereits in Textdateien umgewandelte Ausgaben der Tageszeitungen zusammen. Längst digitalisierte Bestände (PDF-Dateien mit Texterkennung) der Alto Adige stehen in der Stadtbibliothek Bozen in Form von CDs zur Verfügung, dieser Bestand deckt die Jahre 1990 bis 1999 ab. Die Jahrgänge 2000 bis 2003 wurden von der Verfasserin in den Räumlichkeiten der Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann in Bozen digitalisiert. Und die Jahrgänge 2004 bis 2015 konnten dem Online-Archiv209 der Alto Adige entnommen werden. Dieses Online-Archiv stellt Textdateien sowie PDF-Ausgaben der Tageszeitung kostenpflichtig zur Verfügung.

Textdateien der Dolomiten können nach persönlicher Absprache vom Dolomiten-Archiv der Athesia AG kostenpflichtig erworben werden. Das Dolomiten-Archiv der Athesia archiviert die Dolomiten seit 1991. Der Jahrgang 1990 wurde von der Verfasserin selbst digitalisiert. Die eingescannten PDF-Seiten wurden mittels Texterkennung in maschinenlesbare PDFs – nicht in XML-Dateien – umgewandelt und somit für die weitere computerbasierte Auswertung aufbereitet.

Obwohl die Qualität der Scans sehr gut ist, treten Fehler bei der Texterkennung auf. Unebenheiten in der Zeitung und unterschiedliche Schriftbilder verursachen durchschnittlich fünf bis zehn Fehler pro Seite. Für Positiv-Suchen – wie es in dieser Arbeit der Fall ist – stellt dies kein größeres Problem dar. Bereits 80 Prozent Buchstabengenauigkeit reichen aus – so auch Konstantin Baierer und Philipp Zumstein –, um aussagekräftige Ergebnisse zu erlangen.210 Bei Zeitungen aus dem 21. Jahrhundert und qualitativ hochwertigen Scans liegt die Buchstabengenauigkeit zudem weit über 80 Prozent. Darüber hinaus muss bedacht werden, dass die computergestützte Volltextsuche weitaus mehr Resultate liefert als das händische Durchblättern der Zeitungen. Obwohl bei einer Buchstabengenauigkeit von 90 bis 99 Prozent selbstverständlich einzelne Inhalte unentdeckt bleiben, steht dies in keiner Relation zur Ungenauigkeit der manuellen Suche.211 Der Verzicht auf eine computergestützte und komplexe Volltextsuche hätte die Zahl der gefundenen Artikel deutlich eingeschränkt. Allzu häufig verbergen sich wichtige Aussagen gerade dort, wo Überschriften nicht explizit auf das Thema Migration hinweisen. Auch wäre es im vorgegebenen Zeitrahmen nicht möglich gewesen, ein derart großes Korpus auf jede einzelne Überschrift, geschweige denn jedes einzelne Wort zu durchsuchen. Aus diesem Grund ist selbst eine leicht fehlerhafte computergestützte Volltextsuche effektiver als das eigenständige Durchsuchen von Zeitungen und hat somit seine Berechtigung.


Grafik 1: Frequenzanalyse aller Zeitungsartikel des Korpus Migration und Südtirol

Die Anzahl der in den beiden Tageszeitungen gefundenen Artikel ist beträchtlich. Insgesamt 10.065 wurden im Zeitraum von 1990 bis 2014/15 der Dolomiten entnommen und 10.723 der Alto Adige. Für die deutschsprachige Dolomiten wurden folgende Suchbegriffe herangezogen:

Nicht-EU-Bürger*, Nicht-EG-Bürger*, Zuwander*, Zugewanderte*, Saisonkräfte*, Saisonarbeitskräfte*, ausländisch*, *migra*, Einwander*, Ausländer*, Gastarbeiter*, Saisonarbeiter*, Fremdarbeiter*, Fremde, Flüchtling* (asylant*, asylberechtigt*, asylsuchend*, Asylwerber*, Asylbewerber*).

Für die italienischsprachige Alto Adige:

extracomunitar*, migra*, stranier*, lavorator* stagional*, profugh* (rifugiat*, fuggiasc*, fuggitiv*, asilo politico, richiedenti asilo).

Das Resultat der Stichwortsuche ist ein individuell zusammengestelltes Korpus mit individuell gewählten Stichworten. Die Keywords wurden speziell für die Beantwortung der Forschungsfragen gewählt. Bewusst wurde dabei auch auf Begriffe wie Illegale oder clandestini verzichtet, da sie stets in Zusammenhang mit den bereits oben aufgeführten Begriffen vorkamen. Grafik 1 zeigt die absolute Frequenz der entnommenen Zeitungsartikel beider Tageszeitungen zwischen 1990 und 2014.

Nicht jeder Artikel, der die oben genannte Stichworte enthielt, wurde in das Subkorpus aufgenommen. Kamen Stichworte ohne weitere Thematisierung und Kontextualisierung vor, hat dies zum Ausschluss jener Artikel geführt. Es handelt sich hierbei um durchschnittlich 20 Prozent der vorgefundenen Artikel, die für die Beantwortung der Forschungsfragen als nicht relevant angesehen wurden. Fraglos hätte die Wahl anderer Stichworte zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt. So wurde beispielsweise bewusst nicht nach Nationalitäten oder Herkunftsländern gefragt. Eine möglichst vollständige Suche wäre nur unter extrem hohem Zeitaufwand möglich gewesen und die Konzentration auf einige wenige Nationalitäten oder Länder hätte zu einer selektiven Auswahl und somit Verzerrung der Ergebnisse geführt.

2.2 Die Begründung der Wahl der Zeitungen, des Zeitraums und der Konzentration auf regionale Berichterstattung

Bewusst wurde für diese Arbeit auf die auflagenstärksten Tageszeitungen in Südtirol, die deutschsprachige Dolomiten und die italienischsprachige Alto Adige, zurückgegriffen. Diese Wahl liegt nicht nur in der Tatsache begründet, dass beide Tageszeitungen das politische und soziale System in Südtirol widerspiegeln, sondern auch darin, dass beide Tagblätter die wesentlichen Meinungsträger in Südtirol sind und das gespannte Verhältnis zwischen den Sprachgruppen reflektieren.212 Für die Analyse der Wahrnehmung und Darstellung von Migration in einer ethnisch gespalteten Gesellschaft bieten sich deshalb in besonderer Weise die ethnisch getrennten Tageszeitungen des Landes an.

Soziale Medien wie Facebook, Twitter etc., die mittlerweile fraglos eine wesentliche Rolle in der Meinungsbildung spielen, konnten hingegen in dieser Arbeit keine Berücksichtigung finden. Die immense Anzahl an Zeitungsartikeln der Dolomiten und Alto Adige hatte eine Eingrenzung des Themas auf die beiden großen Tageszeitungen notwendig gemacht. Außerdem bietet Eva Pfanzelter in ihrem Aufsatz Menschenhass 2016? „Soziale“ Medien und Migration213 einen kleinen Einblick in dieses Thema. Ebenfalls überregionale Medien, wie etwa die Bild-Zeitung oder Die Zeit, die ebenfalls – wenn auch in weitaus geringerem Ausmaß – zur Meinungsbildung in Südtirol beitragen, wurden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt. Sie hätten wenig zur Beantwortung der Forschungsfragen beitragen können und den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Die Fragestellungen dieser Forschungsarbeit sind an lokale Ereignisse gekoppelt, für dessen Beantwortung sich die Lokalpresse nun einmal am besten eignet. Auch ist es die Lokalberichterstattung, die in Südtirol die breite Masse erreicht und somit wesentlich zur Meinungsbildung im Land beiträgt. Dies kann ebenfalls statistisch belegt werden. Eine ASTAT-Studie hatte 2006 ergeben, dass in Südtirol 89 Prozent der Frauen und 83 Prozent der Männer täglich zu einer der lokalen Tageszeitungen greift und das Hauptinteresse der Rezipient*innen an der lokalen Berichterstattung liegt.214

Im Allgemeinen betrachtet wird von Tageszeitungen verlangt, dass sie Öffentlichkeit herstellen, zur Meinungsbildung beitragen sowie das Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge fördern. Sie sollen zudem eine Kritik- und Kontrollfunktion einnehmen und zur Sozialisation und Integration der Bevölkerung beitragen. Eine ihre Hauptaufgaben ist es, der Leserschaft eine uneingeschränkte Möglichkeit der politischen, sozialen und kulturellen Partizipation zu bieten.215 In einer durch ethnische Minderheiten geprägten Gesellschaft, wie es jene in Südtirol ist, bilden Tageszeitungen einen wesentlichen Beitrag zur Friedenstiftung. Mit ethnischen Minderheiten wird einerseits auf die autochthonen Minderheiten verwiesen, aber auch auf neue Minderheiten im Sinne von Migrant*innen und Flüchtlingen. Den Tageszeitungen in Südtirol kommt die Aufgabe zu, ein öffentliches Klima zu schaffen bzw. aufrechtzuerhalten, das ethnische Konflikte dekonstruiert, Vorurteile abbaut und dadurch Spannungen minimiert.216 Wesentlich bei der Lokalberichterstattung ist außerdem der Einfluss des Raums auf die Inhalte der Zeitung. Die Strukturen der lokalen Lebenswelt dienen als Prinzipien, nach denen Wirklichkeit in der lokalen Berichterstattung konstruiert wird.217 Es wird davon ausgegangen, dass sowohl der Raum und als auch die Zeitung in einer ständigen Wechselwirkung zueinanderstehen. Aus diesem Grund bildet für die vorliegende Forschungsarbeit die Rekonstruktion des politischen und historischen Kontexts eine wesentliche Grundlage.

Der für die Analyse der Wahrnehmung von Migration in den Südtiroler Tageszeitungen gewählte Zeitraum (1990–2014/15) stand nicht von Anfang an fest, sondern wurde mittels stichprobenartiger Voruntersuchungen ermittelt. Diese haben ergeben, dass Migrant*innen in den späten 1970er-Jahren sowie in den 1980er-Jahren medial kaum präsent waren. Dies lag daran, dass Südtirol zu dieser Zeit mehr Auswanderungs- als Einwanderungsland war, eine Tatsache, die sich Ende der 1980er-Jahre umkehrte. 1990 stieg die Anzahl zugewanderter Menschen in die Provinz Bozen erheblich an und damit auch die Migrationsberichterstattung. Aus diesem Grund wurde das Jahr 1990 als Ausgangsjahr für die Analyse gewählt. Beendet wurden die Auswertungen 2014, womit das Korpus einen Zeitraum von 25 Jahren umfasst. Lediglich der Flüchtlingsdiskurs wurde auf 2015 – den Höhepunkt der weltweiten Massenflucht – ausgedehnt.

2.3 Begründung des Miteinbezugs von Leserbriefen

Neben Berichten, Meldungen, Kommentaren, Interviews, Reportagen, Portraits und Umfragen wurden auch Leserbriefe in das Untersuchungskorpus aufgenommen. Leserbriefe sind – im Unterschied zu den restlichen Textsorten – zumeist von Privatpersonen verfasst, die mit wertenden Äußerungen an die Medienöffentlichkeit treten.218 Trotzdem können sie nicht als Form der direkten Meinungsäußerung verstanden werden, sondern stellen einen bedeutenden Teil der Printöffentlichkeit dar.219 Die Briefe werden redaktionell ausgewählt, wodurch eine selektive Vorauswahl stattfindet. Diese kann mitunter stark vom Interesse der jeweiligen Zeitung gelenkt sein. Publizierte Leserbriefe reflektieren also die Anliegen der Redakteure bzw. der Zeitung, die wiederum bestimmten ideologischen oder politischen Grundsätzen folgt.220

Veröffentlichte Leserbriefe sind typischerweise redaktionell bearbeitet, sprich gekürzt und in einigen Fällen auch stilistisch bearbeitet. Leserbriefschreiber*innen – und das hat sich auch in den beiden Südtiroler Tageszeitungen gezeigt – greifen zudem auf Ausdrücke und Argumentationsstränge zurück, die ihnen aus vorangegangen Nachrichtenmeldungen bekannt sind. Sie kreieren deshalb keine neuen Inhalte, sondern stärken zumeist bereits vorhandene Diskurse. Leserbriefe sind also durch intertextuelle Bezüge gekennzeichnet und nehmen Bezug auf bereits existierende Aussagen.221 All diese Faktoren machen es legitim, Leserbriefe als einen Teil der Medienrealität zu begreifen und in das Korpus aufzunehmen. Werden Zitate aus Leserbriefen in dieser Arbeit wiedergegeben, sind diese stets als Leserbriefe gekennzeichnet. Auch wird klar hervorgehoben, bei wie vielen Texten zu einem Diskurs es sich um Leserbriefe handelt. Gleiches gilt auch für die anderen Textsorten.

2.4 Themenfelder im Korpus Migration und Südtirol

Themen, die in den 1990er-Jahren die Migrationsberichterstattung bestimmten, waren einerseits die Errichtung illegaler Barackensiedlungen in Bozen und andererseits die Ankunft von Flüchtlingen aus Albanien und Ex-Jugoslawien. Zu Beginn der 1990er-Jahre ließen sich Zugewanderten aus Nord-, Zentral- und Südafrika aufgrund des mangelnden Wohnungsangebots in Bozen illegal und in selbstgebauten Siedlungen nieder. Auch wenn es sich lediglich um einige Hunderte Menschen handelte, führten die inhumanen Zustände sowie die politisch kommunizierte Unlösbarkeit ihrer Situation zu einer übermäßigen Medienpräsenz. Ebenfalls bildete die Umsiedlung von Roma-Flüchtlingen und Sinti – die sich ebenfalls in illegalen Barackensiedlungen (den sog. Zigeunerlagern) in Bozen niedergelassen hatten – einen Höhepunkt in der Migrationsberichterstattung der 1990er-Jahren.

Die Ankunft und Aufnahme von Flüchtlingen, die den Kriegen und Umwälzungen in Albanien und Ex-Jugoslawien entflohen, markierte zwischen 1990 und 2000 den zweiten wichtigen Themenschwerpunkt. 1991 wurde Südtirol zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg mit der Aufnahme einer größeren Anzahl von Schutzsuchenden konfrontiert. Es waren jene Menschen, die aus Albanien nach Italien flohen und im Rahmen des staatlichen Asylsystems in ganz Italien verteilt wurden. 1992 folgten Schutzsuchende aus dem ehemaligen Jugoslawien, die aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen ihre Heimat verlassen mussten. Die geplante staatliche Zuweisung von weiteren Menschen aus dem Kosovo im Jahr 1999 fand ebenfalls ein breites Echo in den Tageszeitungen, auch wenn die Zuweisung schließlich nicht zustande kam. Während die Migrantinnen und Migranten in den Barackensiedlungen mit überwiegend negativen Schlagzeilen etikettiert wurden, gab es für Flüchtlinge in den 1990er-Jahren mehr Verständnis und Hilfsbereitschaft – mit Ausnahme der Roma-Flüchtlinge aus Mazedonien, die in sogenannten Zigeunerlagern Unterkunft gefunden hatten.

2002 waren Saisonarbeitskräfte aufgrund fehlender Kontingentzuweisungen ein wichtiges Gesprächsthema in Südtirol, aber lediglich die deutschsprachige Dolomiten berichtete regelmäßig über die einzelnen Umstände. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Gastarbeiterinnen und -arbeiter in den Bereichen Tourismus und Landwirtschaft dringend gebraucht wurden, beides Sektoren, in denen vorwiegend Deutschsprachige tätig waren und sind. Die italienischsprachige Bevölkerung arbeitete und arbeitet hingegen eher in der Industrie.

In der Alto Adige hingegen bildete das neu erlassene Bossi-Fini Gesetz die Grundlage für eine breite Debatte um illegale Migrant*innen, den sogenannten clandestini. Zurecht kann hierbei von einer Korrelation zwischen einem politischen Ereignis und der Migrationsberichterstattung gesprochen werden. Darüber hinaus hatte die steigende Anzahl von Menschen mit ausländischem Pass die Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen. Sowohl der freie Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt als auch das freie Niederlassungsrecht in der EU für Menschen aus der Slowakei (2006) sowie Rumänien und Bulgarien (2007) hatten zu einem deutlichen Zuwachs von Menschen anderer Herkunft geführt.

Debatten um Integration, Wohnbauförderung sowie Moscheebauten dominierten zwischen 2006 und 2009 die Berichterstattung beider Tageszeitungen. All diese Themen fanden aufgrund von Wahlkampfaussagen wichtiger deutschsprachiger und italienischsprachiger Parteien (Südtiroler Volkspartei, Freiheitlichen, Lega Nord) ihren Weg in die Tageszeitungen. So hatten in der Alto Adige beispielsweise die Parlamentswahl 2006, die Landtags- und Parlamentswahl 2008 sowie die Europawahl 2009 deutlichen Einfluss auf die Präsenz von oben genannten Migrationsthemen. In der Dolomiten schien hingegen lediglich die Landtagswahl 2008 die Migrationsberichterstattung zu beeinflussen. Während lokale Wahlen sich also auf den Migrationsdiskurs beider Tagblätter auswirkten, war dies bei nationalen oder gesamteuropäischen Wahlen nicht der Fall.

Nicht mit regionalen bzw. nationalen Wahlen, sondern mit der Verabschiedung des Landesgesetzes Integration ausländischer Bürgerinnen und Bürger im Jahr 2011, ging eine weitere öffentlich geführte Debatte über Integration einher. Darüber hinaus erregte die Ankunft von Flüchtlingen als Folge des Arabischen Frühlings die mediale Öffentlichkeit. Das Thema Integration kam zum letzten Mal im Jahr 2013 auf die Tagesordnung, diesmal im Rahmen der Stopp der Gewalt-Debatte der Dolomiten, die sich gegen Übergriffe von Eingewanderten richtete und auf einer hochemotionalen Ebene geführt wurde. Ab 2014 wurden zudem Flüchtlinge aus Asien, Afrika und dem Nahen Osten zu einem Dauerthema in beiden Tagblättern.

Natürlich gab es auch Sachverhalte, die durchgehend eine wichtige Rolle spielten. Dazu gehörten die Fragen nach der Unterbringung von Zugewanderten und Flüchtlingen sowie die Gewalt- und Kriminalitätsberichterstattung (darunter auch Illegalität): beides Themen, denen in den 25 Untersuchungsjahren unverhältnismäßig viel Raum zugesprochen wurde.