Buch lesen: «Autochthone Minderheiten und Migrant*innen», Seite 4

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1.3 Migration und Diskurs

Diskurse sind nichts Individuelles, sie sind sozial. Jeder Mensch ist ein Teil von Diskursen; er trägt nicht nur zu seiner Gestaltung bei, sondern verinnerlicht Schemata und Modelle (oft vermittelt durch Medien, Organisationen, Erziehung usw.), die eben nicht individuell sind, sondern im Laufe der Sozialisation angeeignet werden. Dabei sind Diskurse alles andere als harmlose Prozesse. Sie bestimmen Handlungen und üben Macht aus, sie können sogar zu Angriffen auf Migrant*innen, Überfällen auf Flüchtlingsunterkünften oder Terror verleiten.132 Diskurse haben also die Macht, Handlungen zu ermöglichen oder zu verhindern, auch bestimmen sie, wie und auf welche Art gehandelt werden soll.133 Diskursanalysen thematisieren deshalb Texte mit Einbezug des sozialgeschichtlichen Hintergrundes, auf den sie sich beziehen und auf den sie sich wiederum auswirken. Denn sprachliche Prozesse speisen sich aus realen Ereignissen und reale Ereignisse wiederum werden durch sprachliche Prozesse beeinflusst.134

Schemata und Modelle im Sprechen über Migration werden ebenfalls oder gerade wegen fehlender Alltagserfahrungen im Laufe der Sozialisation angeeignet. Der mediale Migrationsdiskurs trägt wesentlich zu dieser Sozialisation bei. Zu ermitteln, wie Medien Migrationsdiskurse steuern und dadurch Macht ausüben, ist wesentlicher Bestandteil der Diskursanalyse. Wissenschaftliche Beiträge, in denen Migrationsdiskurse untersucht und dafür unterschiedliche Herangehensweisen der Diskursanalyse verwenden werden, haben sich gerade die Beantwortung derartiger Fragen zur Aufgabe gemacht.

Wesentlich sind hierbei die Aufsätze von Ruth Wodak und Bernd Matouschek.135 Sie heben verschiedene Formen von Migrationsdiskursen hervor und resümieren, dass in Österreich der Mitleids- und Bevormundungsdiskurs in einem starken Zusammenhang mit dem Rechtfertigungs- und Begründungsdiskurs steht, womit eine restriktive Migrationspolitik legitimiert wird.136 Zu nennen sind zudem die Untersuchungen von Margarete Jäger. In ihrem Aufsatz „Skandal und noch einmal“137 deckt sie diskursive Verschiebungen und Benennungspraxen des Einwanderungsdiskurses in (West-)Deutschland auf. Darüber hinaus hat sie in ihrem jüngsten Buch zum Flüchtlingsdiskurs in deutschen Medien 2015 und 2016 gemeinsam mit Regina Wamper herausgearbeitet, dass es – unter Anzweifelung einer wirklichen Krise – 2015 und 2016 auf jeden Fall zu einer diskursiven Krise kam: „Diskursiv wurde der Notstand ausgerufen, Katastrophisches beschrieben und prognostiziert, es wurde also massiv denormalisiert.“138 Stereotype und Topoi des antimuslimischen Rassismus hat zudem Yasemin Shooman139 anhand deutscher Medienberichterstattung und Zuschriften an die Türkische Gemeinde Deutschlands (TGD) offengelegt.

Auch Diskursanalysen, die Migration und soziale Medien zum Gegenstand haben, gehören zur neueren Forschung. Marieluise Mühe etwa analysierte rassistische Diskurse über Flüchtlinge in sozialen Medien in Deutschland. Sie stellte fest, dass rassistische Kommentare in Online-Debatten ein Feindbild von jungen, muslimischen Männern konstruieren, die der Armut entflohen sind. Auch schlussfolgert sie, dass sich das Medium Facebook verstärkt auf die einseitige Wahrnehmung von Flüchtlingen auswirkt.140 Eine Diskursanalyse der Sarrazin-Debatte nahm Sebastian Friedrich141 vor und identifizierte eine Verschiebung des Diskurses nach der Veröffentlichung von Thilo Sarrazzins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Er stellte fest, dass Migrant*innen zunehmend über das „Leistungsparadigma“ ausgegrenzt werden.142

Im englischsprachigen Raum hat Christopher Hart143 Migrationsberichterstattungen mithilfe einer Kombination von Diskursanalyse und Kognitionswissenschaft untersucht. Aidan McGarry und Helen Drake144 haben wiederum den Sicherheitsdiskurs in Frankreich unter dem Aspekt der Politisierung von Roma analysiert und Mikko Kuisma145 hat eine Arbeit zum Thema ökonomischer Nationalismus im Migrationsdiskurs von Finnen veröffentlicht. Kiumsa hatte dabei Argumentationen ausgemacht, die Migrant*innen in gute bzw. in böse Zugewanderte einteilen. Irland als Untersuchungsfeld für eine Diskursanalyse der Migration hat zudem Elaine Burroughs146 gewählt, und untersuchte mithilfe einer Argumentationsanalyse die diskursive Repräsentation von illegalen Migrant*innen in irischen Medien.

Kritische Diskursanalyse, historische Diskurssemantik und die Topos-Analyse

Sowohl in den Geistes-, als auch in den Sprach- und Sozialwissenschaften werden dem Begriff Diskurs unterschiedliche Bedeutungen und weit gestreute Verwendungsweisen zugemessen. Es gibt also keine einheitliche Definition des Diskursbegriffes, jedoch findet sich ein gemeinsamer Nenner in der wissenschaftlichen Anwendung des Begriffes. Denn der wissenschaftliche Einsatz – so resümiert Joachim Landwehr – richtet sich immer auf die Untersuchung des Sprach- und Zeichengebrauchs, unabhängig davon, ob es sich um mündliche oder schriftliche Texte, kleine oder große Korpora, bildliche der akustische Medien handelt.147

Die Analyse von Argumentationsstrategien bzw. Argumentationsmustern nimmt in der Diskursforschung eine bedeutende Stellung ein, insbesondere im Rahmen des in Wien von Ruth Wodak begründeten diskurshistorischen Ansatzes der Kritischen Diskursanalyse sowie im Rahmen der in Düsseldorf durch Georg Stötzel begründeten historischen Diskurssemantik. Aus diesem Grund wird in diesem Abschnitt sowohl auf die Kritische Diskursanalyse als auch auf die historische Diskurssemantik eingegangen. Ebenfalls werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Topos-Analysen herausgearbeitet, wobei die Argumentationsanalyse der Düsseldorfer Schule schließlich vorbildgebend für die vorliegende Arbeit war (siehe Kapitel 3, Teil 1).

Die Kritische Diskursanalyse wurde unter Anlehnung des Diskursbegriffs von Foucault von Mitarbeiter*innen des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) entwickelt. Wichtige Vertreter*innen sind der niederländische Sprachwissenschaftler Teun van Dijk, die österreichische Linguistin Ruth Wodak und der britische Sprachwissenschaftler Norman Fairclough. Sigfried Jäger hat im deutschsprachigen Raum zudem einen eigenen Ansatz zur Kritischen Diskursanalyse entwickelt.148 Die Kritische Diskursanalyse als interdisziplinäres Forschungsprogramm vereint ein breites Spektrum an Ansätzen, Theorien und Methoden. Allen gemeinsam ist der Fokus auf die Analyse von sozialen Macht-, Dominanz und Ungleichheitsstrukturen, die sich in Sprache manifestieren. Es geht also um das Aufdecken von Wirklichkeitsverzerrungen und irreführenden Repräsentationen von Ereignissen. Wobei auch festgehalten werden muss, dass es der Kritischen Diskursanalyse nicht um richtig oder falsch geht, aber doch darum, was mit derartigen Diskursen bewirkt werden kann.149

Während Siegfried und Margarete Jäger im Wesentlichen auf den Theorien und Arbeiten von Michel Foucault und Jürgen Link aufbauen, betont Ruth Wodak, die sich unter anderem auf Jürgen Habermas bezieht, stärker die pragmatische Dimension der Diskursanalyse und versteht Diskurse als soziale Praxis in einem mit zu beachtenden Kontext.150 Eine Spielart der Kritischen Diskursanalysen ist deshalb die diskurshistorische Analyse, die von Ruth Wodak in Zusammenarbeit mit weiteren Wissenschaftler*innen entwickelt wurde.151 Wesentlicher Bestandteil des diskurshistorischen Ansatzes ist die Verbindung von Analysen sprachlicher Äußerungen mit dem Kontext, in dem diese entstanden sind. Denn Aussagen stehen nie für sich allein, sondern sind Bestandteil eines Diskurses, die in sprachliche, nichtsprachliche, gesellschaftliche, politische Kontexte und Handlungsräume eingebettet sind.152 Wodak beschreibt dabei drei Dimensionen, die zentral für die diskurshistorische Analyse sind: Der Inhalt der Daten, die eingesetzte diskursive Strategie (zum Beispiel Argumentationsstrategien und Topoi) sowie die linguistische Realisierung des Inhaltes und der Strategie.153 Argumentationen bilden in der diskurshistorischen Analyse eine der fünf diskursiven Strategien und sind wesentlich bei der Präsentation des positiven wir und negativen Anderen.154

Argumentationsstrategien bzw. Topoi sind also ein Bestandteil der diskurshistorischen Spielart der kritischen Diskursanalyse. Ruth Wodak und Martin Reisigl haben in ihrem Buch „Discourse and Discrimination: Rhetorics of Rasism and Antisemitism“155 eine Reihe von Argumentationsstrategien im österreichischen Migrationsdiskurs ausgemacht. Darunter u. a. den topos of danger, den topos of threat, den topos of humanitarianism oder den topos of justice. Martin Reisigl hat im Rahmen eines Vergleiches rechtspopulistischer und faschistischer Rhetorik ebenfalls unter Anwendung der Argumentationsanalyse Strategien wie den Topos des Nichts-Wissens oder den Topos der Freiheit formuliert.156

Auf ähnliche Art und Weise hat auch der Sprachwissenschaftler Martin Wengeler Argumentationsmuster bzw. Topoi formuliert und in einem großangelegten Forschungsprojekt Migrationsdiskurse untersucht. Anders als Wodak oder Reisigl ist die Argumentationstheorie von Wengeler jedoch nicht der Wiener Gruppe zuzuordnen, sondern der von Georg Stötzel begründeten Historischen Diskurssemantik, bei der die Analyse von argumentativen Topoi ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen.157 Georg Stötzel ist der Gründungsvater der Düsseldorfer Schule, der unter anderem auch die Sprachwissenschaftler*innen Matthias Jung, Karin Böke und Martin Wengeler angehören. Ihre Überlegungen zur Diskursgeschichte bauen auf Arbeiten von Dietrich Busse und Wolfgang Teubert auf,158 die das Programm der Historischen Diskurssemantik formulierten und sich dabei an Foucaults Diskurstheorie anlehnten. Sie waren es auch, die mit ihrer Behauptung, „Argumentationsanalyse könne eine Art von Tiefensemantik leisten und damit einen Ausschnitt einer Diskursanalyse im Foucault’schen Sinne darstellen“159, die systematische Begründung und Anwendung der Argumentationsanalyse möglich machten. Die Düsseldorfer Schule hatte also die Argumentationsanalyse neben Schlüsselwörtern, Metaphernfeldern und expliziten Sprachthematisierungen als ein Zugriffsobjekt der Diskursanalyse in ihr Methodenset aufgenommen. Sie kam insbesondere bei Auswertungen des Migrationsdiskurses in den 1990er- Jahren durch Martin Wengeler zur Anwendung und etablierte sich dadurch zunehmend.160 Laut Wengeler sollte durch die Argumentationsanalyse ein Zugang zu dominanten Denkmustern geschaffen werden, die immer Teil eines Diskurses sind, wobei er auch stets den subjektiven Charakter der Analyse betonte, da die Überzeugungskraft einer Argumentation nur subjektiv bestimmt werden könne.161

Wie die Wiener Schule verstand auch Wengeler Argumentationen als konstitutives Element von Diskursen.162 Aber es gab auch Unterschiede zwischen den beiden Schulen. Während Vertreter*innen der diskurshistorischen Analyse Argumentationsstrategien dafür nutzten, um plausible bzw. trugschlüssige Aussagen aufzudecken und diese zu kritisieren,163 standen ideologie- und machtkritische Überlegungen bei der Historischen Diskurssemantik im Hintergrund. Dies bedeutete natürlich keineswegs, dass nicht auch die Düsseldorfer Schule ihre Untersuchungen kritisch reflektierte und auf gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen aufmerksam machte.164 Insbesondere Wengeler hatte den kritischen Anspruch, Veränderungen von „Wirklichkeitssichten“ aufzuzeigen und den Einfluss auf das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung offen zu legen.165

1.4 Diskurs und digitale Korpora

Die digitale Revolution hat den Umgang mit Texten für Wissenschaftler*innen maßgeblich verändert; Immer mehr Texte werden in ein digitales Format gebracht,166 womit Forscher*innen immer größere Mengen zur Auswertung zur Verfügung stehen. Dieses digitale Format ermöglicht nicht nur einen vereinfachten Zugang zum Text, die schiere Größe an Daten verlangt zudem einen Rückgriff auf Methoden, die automatisierte bzw. semi-automatisierte Strukturierungen von Texten vornehmen können.167 Denn für Forschende ist es nicht möglich, die immer größer werdenden Textbestände allein zu bewältigen.168 Diese Grenze ist nicht erst bei Millionen von Zeitungsartikeln anzusetzen, es reichen bereits einige Zehntausende.

Die wachsenden Datenbestände bedürfen also zunehmend des Rückgriffs auf Methoden der digitalen Geisteswissenschaft. Die alleinige Anwendung von digitalen Analysen steht jedoch zunehmend unter Kritik, weil sie nicht in der Lage sind, linguistische Muster im Kontext zu verorten. Umgekehrt wird aber auch die auszugsweise Analyse von Texten ohne Miteinbezug des Gesamtkorpus hinterfragt. So betonen einzelne Wissenschaftler*innen169, dass für eine repräsentative Diskursanalyse eben auch ein vollständiges Korpus analysiert werden müsse. Kritisiert wird beispielsweise die auszugsweise Auswahl von Texten, wodurch Zweifel bezüglich der Repräsentativität der Studie aufkommen würden. Auch könne die Analyse von einer kleinen Anzahl an Texten oder Textfragmenten keine Aufschlüsse über Entwicklungen über Jahre hinweg leisten.170 Immer häufiger gibt es deshalb Ansätze, Diskursanalysen in digitalen Textkorpora durchzuführen. Zu verweisen sei in diesem Fall auf die Studie von Costas Gabrielatos und Paul Baker171, die die diskursive Konstruktion von Flüchtlingen und Asylsuchenden mithilfe von Konkordanz- und Schlüsselwortanalyen untersuchten und dafür ein 140 Millionen Wörter umfassendes Korpus von britischen Presseartikeln zwischen 1996 und 2005 heranzogen. Auf die Arbeit und Methodik von Gabrielatos und Bakers aufbauend, analysierte des Weiteren Alyona Boeva172 die Migrations- und Flüchtlingsberichterstattung britischer und amerikanischer Zeitungen im September 2015. Ebenfalls mit (semi-)automatischen Identifikationen und Analysen von Argumentationen haben sich im Rahmen der Förderlinie eHumanities des BMBF drei interdisziplinäre Projekte beschäftig: e-Identity, ePol und VisArgue.173

Zur Problematisierung qualitativer Forschung in der digitalen Geisteswissenschaft

Die Anwendung von Methoden aus dem Repertoire der digitalen Geisteswissenschaften ist seit der digitalen Revolution stark angestiegen. Die Kombination von Diskursanalysen und Text Mining Methoden stellt aber nach wie vor ein neues Forschungsfeld dar.

Bereits im Jahr 2000 argumentierte der italienische Literaturwissenschaftler Franco Moretti,174 es wäre unmöglich alle Bücher innerhalb eines Interessengebiets zu lesen und führte die Methode des Distant Reading zur Analyse großer Datenmengen ein. Morettis Distant Reading galt – wie auch Matthew Jockers’175 (2013) macroanalysis – als Antwort auf den Umgang mit riesigen Datenmengen. Es handelt sich hierbei um Methoden, die es ermöglichten, einen Zugang zu immensen Datenbeständen zu erhalten, ohne jeden Text einzeln lesen zu müssen. Beide Begriffe, Distant Reading als auch macroanalysis, wurden jedoch in starker Abgrenzung zu zum exakten Lesen gebraucht. Jockers hob hervor: „The sheer quantity of available data makes the traditional practice of close reading untenable as an exhaustive or definitive method of evidence gathering”176. In der aktuellen Debatte werden hingegen immer stärker die Grenzen der quantitativen Big Data Analyse bzw. der Makroanalyse hervorgehoben; Forschungsfragen könnten nur bis zu einer bestimmten Grenze beantwortet und Hypothesen nur bis zu einem gewissen Punkt überprüft werden.177 Das exakte Lesen bzw. die akribische Detailanalyse durch Forschende sei deshalb nach wie vor die Methode, um in einem Forschungsprojekt zu validen Forschungsergebnissen zu kommen.178

Zwischen Mikro- und Makroanalyse

Es steht außer Frage, dass computergestützte Analyseverfahren essentiell für die Auswertung von großen Datenmengen sind und zu einem erheblichen Erkenntnisgewinn historischer, politischer oder sozialwissenschaftlicher Analysen beitragen. Sie dienen der Strukturierung von ursprünglich unstrukturierten Textdaten und schaffen einen Zugang zu Datenmaterial, das ohne computergestützte Auswertung nicht hätte erschlossen werden können.179

Trotzdem sind der computerbasierten Auswertung eindeutig Grenzen gesetzt, wie Jeffrey Drouin in seinem Artikel „ Close- and Distant-Reading Modernism: Network Analysis, Text Mining, and Teaching the Little Review” treffend zum Ausdruck brachte: „[…] the main weakness of big data methodologies is their inability to read the works that their algorithms quantify, to see what they actually say or how they position themselves in context”180. Mit dieser Aussage traf Drouin den Nerv des eigentlichen Problems: Die Unfähigkeit der Erfassung des historischen oder diskursiven Kontextes. Auch Paul Baker stellte fest: „However, a traditional corpus-based analysis is not sufficient to explain or interpret the reasons why certain linguistic patterns were found (or not found). Corpusanalysis does not usually take into account the social, political, historical, and cultural context of the data.”181 Aus diesem Grund sind automatisierten Auswertungen insbesondere bei qualitativen Textanalysen (Diskursanalysen) klare Grenzen gesetzt. Selbst wenn es diskurslinguistische Methoden gibt, die auch eine Diskursanalyse mittels Makroanalyse ermöglichen, wie zum Beispiel die Berechnung von Kollokationen,182 für eine schlüssige Interpretation und für die Kontextualisierung sind fraglos nach wie vor die Kenntnis des Gesamttextes sowie die menschliche Kompetenz des hermeneutischen Sinnverstehens des Forschenden gefragt.183 Für ein diskursanalytisches Verstehen müssen also Kontextinformationen miteinbezogen werden, weshalb Detailanalysen notwendig sind.184

Die Kombination von Mikro- und Makroanalyse – in Stulpes und Lemkes Nomenklatur als Blended Reading bezeichnet – scheint einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma zu bieten. Eine Schlussfolgerung, zu der neben Drouin185 und Baker186 unter anderem auch Hitchcock187, Fraas/Pentzold188, Lemke/Stulpe189, Lemke/Wiedemann190, Yanni Alexander Loukissas191 gekommen sind. Hierbei geht es um die Verknüpfung von computerbasierten Auswertungen (z. B. Frequenzanalysen) mit qualitativen Analysen, die mithilfe des genauen Lesens durchgeführt werden (z. B. Diskursanalysen).

1.5 Die Tageszeitungen Dolomiten und Alto Adige

Südtirols Medienlandschaft wird von zwei großen Tageszeitungen dominiert: der italienischsprachigen Alto Adige und der deutschsprachigen Dolomiten. Beide Tagblätter sind nicht nur die auflagenstärksten Zeitungen, sie sind auch wesentliche Repräsentanten der jeweiligen Sprachgruppe. So informiert die deutschsprachige Tageszeitung die deutsche Sprachgruppe, ihr italienischsprachiges Pendant richtet sich hingegeben an die italienischsprachigen Leser*innen. Sie sind auch die wesentlichen Meinungsträger in Südtirol; Während die Dolomiten das meistgelesene schriftliche Medium auf deutscher Seite darstellt – der weiteste Leserkreis umfasste 2016 259.000 Leser*innen über 14 Jahre –,192 bedient das italienischsprachige Blatt den Großteil der italienischsprachigen Bevölkerung in Südtirol. Andere Tageszeitungen in Südtirol spielen hingegen lediglich eine untergeordnete Rolle.193

Die Tageszeitung Dolomiten der Athesia-Presse wurde 1945 gegründet und konnte nach 1947 als die einzige deutschsprachige Tageszeitung in Südtirol verzeichnet werden. Ebenfalls arbeitete die Zeitung eng mit der Südtiroler Volkspartei zusammen und war – insbesondere im Rahmen der Südtirol-Frage – das wesentliche Sprachrohr der Südtiroler Bevölkerung. Die Athesia-Presse hatte also kaum ernsthafte Gegner.194 Zum ersten Mal in Frage gestellt wurde das Monopol der Dolomiten und des Athesia Verlagshauses mit der Zeitschrift Die Brücke. Es folgten Wochenzeitschriften und Monatszeitschriften wie die Volkszeitung oder Tandem, trotzdem konnten diese Zeitschriften nicht das absolute Monopol der Dolomiten antasten. Dies änderte sich erst 1980 mit der Gründung der Wochenzeitschrift FF-Die Südtiroler Illustrierte, die mit ihrem unabhängigen Journalismus eine Konkurrenz zur Dolomiten darstellte. Ebenfalls die 1996 gegründete Neue Südtiroler Tageszeitung kurz Tageszeitung stellte und stellt ein erfolgreiches Gegenpol zur Dolomiten dar.195

Während sich die Athesia als zentrales Medienunternehmen auf deutscher Seite etablieren konnte, dominierte die Alto Adige den italienischsprachigen Markt. Bis 1945 hatte die italienische Bevölkerung in Südtirol ohne eigene Tageszeitung auskommen müssen. Die Comitato di Liberazione Nationale (CLN) nahm sich schließlich dem Anliegen einer italienischsprachigen Zeitung an und fungierte bis zur Gründung der Genossenschaft SETA – Socita editrice tipografica atesina – im Dezember 1945 als Herausgeberin der Alto Adige. Das italienische Tagblatt hatte nach einem anfänglichen Auflagenrekord – bedingt durch das Fehlen nationaler Zeitungen – jedoch mit finanziellen Problemen und Umsatzschwierigkeiten zu kämpfen.196 Seit den 1990er-Jahren gibt es auch für die Alto Adige regionale Alternativen. Dazu gehörten die Mattino dell’ Alto Adige, die seit 1991 erschien und 2003 eingestellt wurde, die Corriere dell’ Alto Adige, eine Beilage der nationalen Tageszeitung Corriere della Sera und Il Giorno dell’ Alto Adige. Regionale italienische Tageszeitungen sind in Südtirol jedoch dadurch limitiert, dass die Anzahl der italienischsprachigen Südtirol*innen gering ist und nationale Zeitungen bereits viel abdecken.197 2016 schließlich verkaufte die Finegil Editoriale SPA 71 Prozent der Druckereigenossenschaft SETA SPA, Herausgeberin der Alto Adige und der Trentino. Die Athesia-AG kaufte diese Anteile und konnte somit die Alto Adige in den Medienkonzern einverleiben. Damit ging eine historische Epoche zu Ende, war doch die jeweils eigene Tageszeitung für die zwei großen Sprachgruppen in Südtirol ein von den Alliierten im Mai 1945 eigens erteiltes Recht. Beide Tagesblätter waren von Anfang an identitäts- und meinungsstiftend für die jeweils ethnische Gruppe und gingen politisch weit auseinander. Diese Gruppen erhaltende Manipulation hat sich bis heute erhalten.198 Gespannt kann deshalb in die Zukunft geblickt werden, denn noch ist offen, wie sich die Einverleibung der Alto Adige in die Athesia-AG auf die Berichterstattung auswirken wird.