Auf ihren Spuren

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Aus der Reihe: Cecilia Hyde #1
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Ich helfe noch den Tisch abzuräumen, wobei Katja und Timo mehr herumalbern, als sich am Abräumen zu beteiligen. Darum überlasse ich ihnen den Abwasch und verdrücke mich in mein Zimmer.

Ich beneide Timo manchmal, wie ungezwungen und locker er mit Katja umgeht. Er hat überhaupt kein Problem damit, bei ihr auf Tuchfühlung zu gehen.

Katja höre ich noch kreischen, weil Timo sie beim Abwaschen von hinten umschlingt, sie an die Spüle presst und wer weiß was mit dem Wischwasser anstellt.

Ich schließe schnell meine Tür, gehe zu meiner Musikanlage und drehe meine Musik etwas lauter. Ich will die beiden nicht hören. Das verursacht immer einen seltsamen, unangenehmen Druck in meinem Bauch.

Ungeduldig ziehe ich eine Schalosie hoch und sehe aus dem Fenster, wo die letzten Sonnenstrahlen im Grau des aufsteigenden Abends versinken und alles in ein schönes Rot färben. Hinter den gegenüberliegenden Häuserblöcken sehe ich das Grün des Stadtparks ein letztes Mal aufleuchten.

Wenn Manuel nicht bald aufkreuzt und mit mir Mamas Laptop checkt, drehe ich durch. Nachdem wir wochenlang versuchten, den Pin zu knacken, hat er sich nun ein Programm zugelegt, dass unser Problem lösen soll. Das läuft seit gestern Abend und ich hoffe, dass wir endlich ein Ergebnis präsentiert bekommen.

Mir wird mulmig bei dem Gedanken, dass auch der Laptop bereinigt worden sein könnte, wie das zweite Handy meiner Mutter.

Das ist ein weiteres Geheimnis, das Manuel und ich entdeckten.

Als ich Manuel das Handy brachte, konnte er es soweit richten, dass wir es untersuchen konnten. Es war eine Prepaid Karte mit der üblichen IMSI und einer Kontaktliste. Da waren Nummern wie meine, die von ihrem Internetcafe, Onkel Andreas, von Michelle, die ich bei der Testamentseröffnung erst kennenlernte, ihrem Friseur, ihrer Autowerkstatt und vielen Taxiunternehmen aus fast jeder Stadt drauf. Alles ganz normal anzurufende Nummern.

Es gab aber auch andere gespeicherte Nummern, die mit irgendwelchen Namen zusammenhingen, die mir keinen Erkennungswert gaben. Natürlich versuchte ich überall anzurufen, weil ich herausfinden wollte, was diese Menschen mit meiner Mutter zu tun gehabt hatten. Doch eine mechanische Stimme wies mich immer wieder darauf hin, dass diese Nummern nicht vergeben sind.

Ich habe keine Ahnung, warum meine Mutter ihren Kontaktspeicher mit Menschen und Telefonnummern gefüllt hat, die es nicht gab.

Ansonsten fand ich keine Bilder, keine SMSen oder sonst was auf dem Handy. Nichts. Selbst die Anrufspeicher präsentierten mir ein vollkommen leeres Dasein und nicht mal ihr letzter Anruf wurde angezeigt.

Manuel ist aber ein Schlaukopf und fand heraus, dass meine Mutter auch einer gewesen sein muss. Und das, obwohl sie sich mir gegenüber immer als völlige Technikniete ausgab. Sie konnte nicht mal ihren Pin ändern oder etwas herunterladen. Doch Manuel fand ein Programm auf ihrem Handy, mit dem man Daten verschlüsseln und Kontakte als Privat kennzeichnen kann, die dann weder in den Kontakten noch in Anruflisten auftauchen. Aber weil auch alles andere aus dem Handy verschwunden war, glaubt er, dass Daten gelöscht wurden.

„Das kann man mit so einem Programm. Man kann von außerhalb auf das Handy zugreifen und alles löschen, was anderen nicht in die Hände fallen soll“, hatte er mit roten Wangen erklärt und seine blauen Augen hatte diesen Ausdruck, den sie schnell bekommen, wenn ihn etwas aufregt oder fasziniert. Er hatte damals auch diesen Blick, als Katja einzog. Daher wusste ich da schon, dass sie unser Untergang sein wird.

Meine Mutter hatte dieses Handy also nicht nur gesichert, sondern es gab auch jemanden, der alle Daten darauf gelöscht hatte, nachdem sie tot war. Natürlich gab ich Manuel auch Mamas anderes Handy.

Er konnte nichts darauf finden, dass Mamas Aufstieg zum Super-Technik-Hirn anzeigte. Es war ganz normal und ohne Schnick-Schnack und zu ganz normalem Gebrauch bestimmt, ohne irgendwelche Sicherheitsprogramme.

Nun warten wir darauf, dass Cecilias Laptop einen Blick in seine Daten preisgibt. Der hat hoffentlich noch einige Antworten für mich parat. Aber Manuel erklärte mir schon, dass ich Pech haben könnte und dort auch das Programm seinen Platz gefunden hat, das alles vor uns sichert oder sogar alles gelöscht ist. Das wäre natürlich fatal. Dann wären meine Nachforschungen am Ende. Zumindest die Nachforschungen, in die Manuel involviert ist.

Es gibt aber noch etwas, dass sich vehement dagegen wehrt, mir seinen Inhalt zu präsentieren und von dem ich mir einiges erhoffe. Es ist dieser versteckte Tresor in einem der beiden Schränke in meinem Zimmer. Niemand weiß, dass es ihn gibt. Ich entdeckte ihn, als ich hierherzog. Ich wollte dort meine drei Kisten mit den Sachen meiner Mutter aus unserer alten Wohnung verstauen. Um Platz zu schaffen, sollte die im Schrank befindliche Kiste entsorgt werden, die mit „Altkleider“ deklariert war. Ich hatte ihn bei meinem ersten Besuch in dieser Wohnung geöffnet und wirklich unansehnliche Pullover, alte Socken und so einen Kram darin gefunden. Klar, dass da keiner drin wühlen wollte. Nicht mal ich. Aber als ich ihn aus dem Schrank heben wollte, ging das nicht. Darum dachte ich mir, dass er etwas sehr, sehr schweres beinhalten muss und zog die unansehnliche Wäsche heraus. Und zu meinem Erstaunen fand ich den Grund, warum sich die Kiste nicht mal verschieben ließ. Sie war um einen Tresor gestellt worden und die Wäsche hatte meine Mutter nur oben auf platziert, um Neugierige von einem Blick hinein abzuhalten.

Bisher konnte ich diesen Tresor aber noch nicht öffnen.

Das mit der Kombination und den Passwörtern gestaltete sich wirklich schwierig, weil Mama nicht die genommen hat, die ich erwartete. Kein Geburtsdatum, keine denkenswerte Kombination passte und auch nicht Mamas heißgeliebtes und einziges Passwort, dass sie mir mein Leben lang präsentiert hatte, als wäre sie unfähig, sich mehr als ein Wort zu merken. So gab es dieses eine: Vogelmiere.

Natürlich hatte meine Mutter über die Vogelmiere auch einiges zu berichten. „Das ist ein wirklich zartes Gewächs mit winzigen, weißen Blüten, dass völlig unscheinbar wirkt. Aber es ist unglaublich widerstandsfähig. Es trotzt Wind und Wetter, Kälte und Schnee … einfach allem. Und es vermehrt sich unglaublich. Es ist einfach nicht totzukriegen.“ Das waren ihre Worte.

Mama liebte offenbar Kämpfer, obwohl sie mich eher zu einem Weichei machen wollte, mit ihrem: „Sei nett zu allen, respektiere jede Form von Leben und Lebensweise, sei immer hilfsbereit und zuvorkommend und denke immer daran, dass jeder Mensch gleich ist.“ Es fehlte nur noch: Wenn dich jemand schlägt, dann halte auch die andere Wange hin.

Manchmal schwelgte sie förmlich in Nachsicht und Verständnis für alles und jeden. Es kam mir dann immer so vor, als mochte sie Außenseiter besonders. Penner, Junkies, Homos, Psychopaten … alles ganz tolle Menschen, bei denen nur etwas im Leben anders gelaufen war.

Sie liebte auch Ordnung. Aber als ich damals das erste Mal in diese Wohnung kam, fand ich hier keine Spur von der ordnungsliebenden Cecilia. Ich denke, wenn mein Onkel Andreas gewusst hätte, dass Mama diese Wohnung nutzte und was darin zu finden war, dann hätte er sie vorher inspiziert und ausgeräumt. So stieß ich auf diese andere Cecilia.

Ich hatte die Schlüssel schon seit der Testamentsvollstreckung im Besitz, war aber noch so entsetzt, dass Mama tot war, dass ich gar nicht in der Lage war, mich dem Leben wirklich wieder zu stellen. Damals war es auch eher Timo, der darauf brannte zu erfahren, wie es um diese von mir geerbte Wohnung bestellt war. Er malte sich aus, dort einziehen zu können, wenn er sein Studium beginnt. Natürlich ahnten wir beide nicht, dass es eine superteure Penthousewohnung ist. Das wusste nur Onkel Andreas, weil er meiner Mutter wohl damals gesteckt hatte, dass sie noch zu kaufen ist.

Timo lag mir lange in den Ohren mit seiner WG Idee. So raffte ich mich eines Tages auf und fuhr mit dem Bus in die nahegelegene Stadt, um sie mir anzusehen.

Natürlich wollte Timo mit. Aber ich wollte erst alleine hinfahren und mich dem Stellen, was mir dort begegnen würde. Ich rechnete nicht mit viel. Doch was ich fand, haute mich um.

Das sechsstöckige Haus mit den Geschäften im Erdgeschoß war erst vor einigen Jahren erbaut worden. Onkel Andreas Baufirma hatte wohl einen nicht geringen Anteil an dessen Entstehung. Die nächsten vier Stockwerke waren Büroanlagen verschiedenster Firmen und oben gab es dann die Wohnungen. Ich weiß nicht warum, aber diese stand wohl lange leer, bis meine Mutter sie kaufte. Ich weiß nicht mal, ob sie die Küche ausgesucht hatte oder ob die schon drinnen war. Zumindest gebraucht worden war sie nie. Es gab auch kein Geschirr oder Töpfe.

Der Eingangsbereich hatte mich schon schlucken lassen. Der Flur war groß und mit schwarzweiß gekachelten Fliesen belegt, sowie einer schwarzen Flurgarderobe. Die gleichen Fliesen waren auch in der Küche und im Badezimmer zu finden. Alle anderen Räume sind mit Holzfußboden. Das Wohnzimmer ist riesig und bietet einen Balkon und einen unglaublichen Blick über die Stadt und hat einen offenen Bereich in die Küche. Mich hatten diese drei Räume schon sprachlos gemacht und ich konnte nicht fassen, dass uns das schon lange gehörte und wir doch niemals hergezogen waren.

Ich war langsam durch das Wohnzimmer geschlichen und hatte in alle Räume geschaut, deren Türen offenstanden. Aus irgendeinem Grund umging ich die einzige Tür, die geschlossen war. Doch als ich alles inspiziert hatte und mich sogar der Ausblick von dem großen, überdachten Balkon schwindelig gemacht hatte, steuerte ich diese Tür an. Ich erwartete nichts. Gar nichts. Aber was ich fand, zog mir die Beine unter dem Arsch weg.

 

Der Raum war dunkel, weil alle Schalosien heruntergelassen waren. Als ich das Licht anknipste, offenbarte sich mir ein voll eingerichteter großer Raum mit einem überdimensionalen Schreibtisch, einem dicken Leder-Chef-Drehsessel, zwei großen, massiven Schränken, die fast eine ganze Wand einnahmen, und einem Sofa mit einem kleinen Glastisch gegenüber der Schränke. Erst als ich den Raum betrat, sah ich die Nische mit dem Bett, das durchwühlt war, als hätte darin noch vor Kurzem jemand geschlafen. Und über allem lag Mamas Parfüm, dass sie immer großzügig aufgetragen hatte, wenn sie zur Arbeit oder sonst wohin ging. Es schwebte beständig durch unsere alte Wohnung wie eine undurchdringbare Dunstwolke. Dass meine Klamotten diesen Geruch annehmen könnten, beunruhigte mich mit zunehmendem Alter. Deshalb trat ich dem süßlichen Gestank mit einer maskulinen Duftnote und Zigarettenqualm entgegen. Als Cecilia sich darüber aufregte, dass ich in meinem Zimmer rauche, konterte ich, dass sie erstens auch raucht und ich zweitens somit diesen süßen Duft entgegensteuere, der penetrant alles verseuchte.

Wir stritten uns um so viele Kleinigkeiten und um so viel Unnützes. Dabei gab es so viel, um was wir uns wirklich hätten streiten können. Zum Bespiel ihrem Lebenswandel, den sie so akribisch vor mir verbarg und dem Umstand, dass sie eine Penthousewohnung besaß. Mal ganz zu schweigen von den vielen Lügen, die sie mir immer aufgetischt hatte.

Und genau auf die traf ich in diesem Zimmer.

Auf dem Fußboden fand ich Wäsche und einige vollgezeichnete Blätter. Genau solche Zettel hingen auch an der Wand über dem Schreibtisch. Sie zeigen Orte oder Szenen mit Strichmännchen an.

Mama war kein Maler. Überhaupt nicht. Das sah man.

Ich hob völlig perplex ein Wäschestück auf, auf das ich sonst getreten wäre. Es war ein Pullover meiner Mutter, den ich kannte. Alle anderen Wäschestücke, die ich aufsammelte, kannte ich nicht. Es sah so aus, als hätte sich hier jemand eilig angezogen und dabei alles Mögliche ausprobiert. Von Unterwäsche über zusammengeknuddelten Netzstrümpfe, Strapse, ein schwarzer Rock aus Plastik oder Gummi, ein anderer aus Spitze, Schnürkorsetts in verschiedenen Farben und Ausführungen und eine Maske mit Verzierungen und Federn lagen auf dem Boden verstreut und erinnerte mich an Utensilien, die ich in diversen Pornos gesehen hatte.

Ich wusste in dem Moment, dass ich der anderen Cecilia noch ein weiteres Stück mehr auf die Schliche gekommen war. Der Cecilia, die auch ein Stück weit in unserer alten Wohnung gelebt hatte. Auch dort war ich ihr nach ihrem Tod schon begegnet.

Als mein Onkel Andreas, meine Cousins Timo und Martin und eine Umzugsfirma die Wohnung ausräumen wollten, hatte ich mir ein Herz genommen und hatte Mamas Zimmer in Angriff genommen. Bis dahin hatte ich nur viele Stunden in ihrem Bett gelegen und versucht zu erfassen, dass sie nicht mehr zurückkommt. Doch da musste ich mich entscheiden, was ich von ihr behalten wollte. Onkel Andreas hatte mir drei Kisten zugestanden und ich hatte mir die größten der Umzugskartons herausgesucht und mich in Cecilias Zimmer eingeschlossen. Alle Kleider, Röcke, Jeans, Pullover, Blusen, die mir einen bestimmten Erkennungswert an schöne Zeiten gaben, legte ich zusammen und verstaute sie in einer Kiste. Auch ihren heißgeliebten alten Mantel und ihre Stiefel und Puschen. Auch dort gab es Unterwäsche, die mich schwer Schlucken ließ und die bei mir die Frage aufkommen ließ, wann Mama so etwas getragen hat.

Ich packte auch einige Bücher ein, zwischen denen ich auf ein A5 Heft stieß, wie wir sie in der Schule haben. Das machte mich natürlich neugierig und ich sah hinein. Es gab eine Überschrift mit einer Geschichte, die über vier Seiten ging. Dann folgte eine weitere Überschrift mit erneuten drei Seiten und so weiter. Sie waren in Mamas feinsäuberlicher Schrift geschrieben.

Ich wusste bis dahin nicht, dass Mama überhaupt Geschichten schrieb. Es gab dazwischen gefaltete Dina 4 Blätter, die von einem PC stammten und ausgedruckt worden waren. Ich dachte, dass das alles ein kleines Sammelsurium netter Kurzgeschichten ist und nahm mir vor, sie irgendwann zu lesen.

Mittlerweile hoffe ich, sie stammen alle von jemand anderem. Denn die Geschichten darin können einem schlaflose Nächte bereiten. Darum dürfen sie niemanden in die Hände fallen.

Auch ihren Schmuckkasten, ihr Parfüm und ihre Schminksachen … alles behielt ich. Die CDs mit ihrer Musik und mit unseren Fotos und Videos, ihren kleinen Koffer mit Erinnerungen, die wohl aus ihrer Kindheit stammen und alles, was mich an sie erinnert, packte ich auch ein. Der restliche Hausstand wurde sowieso verpackt, sowie die Möbel. All das lagerte Onkel Andreas in einem Teil seiner Halle ein. Nur meine drei Kisten klebte ich mir ans Bein. Sie gingen, wohin ich ging und waren mit fast einer ganzen Rolle Paketkleber verklebt gewesen, damit niemand sie öffnen konnte.

Tatsächlich öffnete ich sie erst, als ich in diese Wohnung zog. Dass ich hierherziehen würde, stand für mich in dem Moment fest, als ich diese Wohnung das erste Mal betrat und Mamas zweites Leben vorgefunden hatte.

Ende Juli war es dann soweit. Da Timo ab September etwas zum Schlafen in der Stadt brauchte, willigte Onkel Andreas ein, dass wir meine Penthousewohnung beziehen durften. Ich allerdings nur mit der Auflage, dass ich mich vorbildlich benehme, immer brav zur Schule gehe und er keinen Ärger wegen uns bekommt. Somit riefen wir unsere WG ins Leben, der Manuel sich anschloss.

Die Möbel aus unserer alten Wohnung wurden wieder aus der Versenkung geholt und unser neues Domizil damit eingerichtet. So veränderten sich die Räume im Nu. Nur Mamas Zimmer blieb wie es war.

Mein Onkel war nicht so erstaunt wie ich, dass Cecilia die Wohnung genutzt hatte. Ich weiß nicht, ob er mehr über das weiß, was meine Mutter dort getrieben hat. Er war immer sehr kurz angebunden, wenn ich versuchte, mehr aus ihm herauszuquetschen. Er sprach auch erst wirklich von ihr, als wir uns in unserem Urlaub etwas mehr annäherten.

Um uns von dem Tod meiner Mutter zu erholen, buchte mein Onkel in den Sommerferien für uns alle eine Finka auf Mallorca. Vier Wochen verbrachten wir dort und das hat uns als Familie ein wenig mehr zusammengeschweißt. Ich hatte nie viel mit Onkel Andreas zu tun gehabt. Nur mit meinen Cousins und meiner Cousine und meiner Tante, die aber vor einigen Jahren mit einem von Onkel Andreas Bauarbeitern durchbrannte. Das war im selben Jahr, als auch Oma und Opa starben. Ich glaube, da hatte meine Mutter mir das mit dem - selbstverantwortlich für sein Schicksal sein – erzählt und dass man diese alten Resonanzen aus anderen Leben aufarbeiten muss.

Die Geschichten, die mein Onkel mir von sich und Cecilia erzählte, gaben mir ein Bild einer glücklichen Kindheit. Zumindest solange, wie mein Onkel noch zuhause lebte. Meine Mutter war zwölf, als er auszog und in die Lehre ging. Deshalb hatte er auch nicht viel aus ihrer späteren Jugendzeit zu berichten … oder er wollte es nicht.

Nach dem Urlaub war das Verhältnis zwischen mir und meinem Onkel allerdings fast schon freundschaftlich und uns hatte die gemeinsame Zeit ein Stück weit Mamas Tod verkraften lassen. Darum ließ er uns das mit der WG in Angriff nehmen.

Ich hätte sowieso die Schule wechseln müssen und so suchte ich mir ein Gymnasium ganz in der Nähe der Wohnung und wurde dort in die elfte Klasse aufgenommen, weil mir zu viel Stoff wegen Mamas Tod fehlte und mein Zeugnis somit nicht das beste war. Am 3 August hatte ich dort meinen Einstand, muss aber sagen, dass mich alle für etwas eigenbrötlerisch halten. Aber ich habe auch zu viel mit dem zu kämpfen, was ich bisher herausfand.

Wenn man von dem Menschen, den man glaubte am besten zu kennen, plötzlich lauter verrückte Dinge erfährt, dann ist das schwer zu verkraften.

Das Prepaid Handy mit dem Sicherheitsprogramm war ja schon seltsam … und dass wir in einer Mietwohnung lebten, obwohl Mama eine Eigentumswohnung hatte. Dazu kommt der Tresor in der Altkleiderkiste, den ich bisher nicht knacken konnte. Mamas Unterwäschegeschmack war auch seltsam und dass sie auf Geschäftsreisen ging, obwohl sie doch angeblich nur das Internetcafe besaß. Gut, das mit den Geschäftsreisen hatten erst in den letzten drei Jahren begonnen. Ich war ja froh, dass ich dann sturmfreie Bude hatte und habe das nie hinterfragt. Wir waren viel zu beschäftigt damit, dann Partys zu feiern. Mein Freund Jonas war wirklich der Held in Partys organisieren. Ich hatte nicht mal ausgesprochen, dass Mama weg sein würde und er hing schon am Telefon und lud Leute ein.

Aber dann hatten wir einen heftigen Streit, weil er mit Marie in Mamas Zimmer geschlichen war und sie in ihrem Bett gevögelt hatte. Ausgerechnet das einzige Mädchen, dass ich gut fand und ausgerechnet das einzige Zimmer, dass niemand betreten durfte.

Ich war sowas von sauer, zumal Jonas wusste, dass ich das Mädchen mochte. Er meinte zwar, Marie war diejenige, die ihn in das Zimmer gezogen hatte und vernaschte. Aber das war mir egal. Jonas war für mich gestorben. Und Marie sowieso. Somit gab es keine Partys mehr bei mir, die ich nur zugelassen hatte, weil ich Marie näherkommen wollte. Die fanden woanders statt und meistens ohne mich. Aber das war mir egal. Nach der Pleite mit Marie verbrachte ich meine Zeit lieber mit Internetspielen.

Und dann war meine Kindheit sowieso mit einem Schlag vorbei. Der Tod meiner Mutter hatte alles aus den Angeln gehoben und nachhaltig meine Grundfesten erschüttert, weil ich erkennen musste, dass ich sie nie wirklich gekannt habe. Nun will ich ihre Geheimnisse ergründen. Alle.

Gut, sie hatte mich in dem Brief inständig gebeten, genau das nicht zu tun. Aber sorry, wer kann so etwas einhalten? Also ich nicht!

Ich hatte am ersten Tag, als ich meine neue Wohnung begutachtete und Mamas geheimes Domizil fand, all ihre Wäsche zusammengelegt und in dem Schrank verstaut, in dem auch noch einige andere Kleidungsstücke zu finden waren, die mich Mama mit anderen Augen sehen ließen. Während es Zuhause nur nette Sommerkleider, schicke Röcke und Blusen, bequeme Pullover und Jeans gab, fand ich hier im Schrank hautenge, schwarze, rote, oder blaue Kleider und Hosen, zum Teil aus diesem Plastik oder Gummi oder was das auch immer sein mag. Ihre Unterwäsche und seltsamen Korsetts waren echt nuttenmäßig. Extrem nuttenmäßig. Erschreckend nuttenmäßig. Und ihre Mäntel und Röcke waren aus Leder oder Lederimitat. Dazu hatte sie fünf Paar Stiefel im Schrank, die alle einen so hohen Schaft hatten, dass man sich darin hätte verstecken können. Dazu die hochhakigen Schuhe. Lauter Knochenbrecher.

Natürlich ahnte ich, dass ich eine Seite meiner Mutter aufgedeckt hatte, die mich entsetzte und verstörte. Ich fragte mich ernsthaft: War meine Mutter eine Prostituierte oder ein Spion?

Mir gefiel die Sache mit dem Spion natürlich besser. Dazu passten auch das Handy und die seltsamen Zeichnungen, die ich alle vom Fußboden aufgelesen hatte und von den Wänden klaubte und auch in besagtem Mama-Schrank deponierte. Mit ihnen kann ich bis heute nichts anfangen. Gar nichts. Denn sie zeigen seltsam kranke Dinge.

Natürlich bekamen auch alle anderen Sachen mit Erinnerungswert einen Platz dort. Er wurde zu meinem Riesentresor mit Erinnerungen, den ich immer abgeschlossen halte, um ihn vor unliebsamen Blicken zu schützen. Genauso, wie meine Mutter den Inhalt des kleinen Tresors in diesem Schrank immer noch vor meinen Blicken schützen kann. Ich finde einfach nicht die Kombination heraus. Es ist zum Verzweifeln.

Ich versuchte auch ihre Geschäftsreisen zu rekonstruieren, die wenigstens ein wenig in meine Spion-Wunschvorstellung passen. Aber ich musste feststellen, dass mich Mamas Ausflüge so wenig interessiert hatten, dass ich kaum etwas Verwertbares auf die Reihe bekam.

Sie sagte: „Schatz, ich bin für drei Tage da und da“, und ich sagte nur: „Super!“, ohne wirklich zu registrieren, was sie sagte. Fertig. Ich merkte meistens erst richtig, dass sie länger ausblieb, wenn der Kühlschrank sich langsam leerte und ich nicht mehr fand, worauf ich Appetit hatte.

So weiß ich nur, dass sie schon einmal in Frankfurt war und einmal länger in Berlin. Daran erinnere ich mich, weil ich auch immer mal nach Berlin wollte und der Kühlschrank wirklich leer war, bevor Mama wieder da war.

Ich reiße mich von dem Anblick der untergehenden Sonne los, gehe zu meinem Schreibtisch und werfe mich auf den Drehsessel.

Ich hätte sie fragen sollen, was sie auf diesen Geschäftsreisen tat. Ich hätte sie auch fragen sollen, wie ihr Leben so ist und ob es ihr gut geht. Mir wird klar, dass ich nicht annähernd der Mann im Haus war, den ich in mir zu sehen glaubte. Ich war nur ein dummer Junge, der nicht mal schnallte, was seine Mutter so trieb.

 

Mit dem Gedanken schieben sich wieder die Geschichten aus dem Heft in meinen Kopf. Das passiert mir immer, wenn sich mir aufdrängt, dass meine Mutter diese Geheimnisse hatte. Diese seltsamen, kranken Geheimnisse.

Irgendwie wiederstrebt es mir, Mama die Geschichten überhaupt anzulasten.

Vielleicht gab es noch jemanden in ihrem Leben als mich. So ein echt widerliches, krankes Arschloch. Vielleicht hatte sie deshalb die Doku über Psychopaten.

Dass Mama einer sein könnte, das kann ich nicht glauben. Obwohl sie schon manchmal komisch war. Vor allem in den letzten zwei Jahren.

Ich springe aus dem Sessel, gehe zum Schrank, ziehe den Schlüssel aus meiner Hosentasche und schließe ihn auf.

Einerseits widerstrebt es mir, diese Geschichten erneut zu lesen. Andererseits will ich ergründen, warum Mama die hatte. Und zwar bei uns zu Hause. Da, wo sie eigentlich die brave Cecilia Jekyll war.

Gut, sie waren in ihrem Schrank versteckt und ich hätte sie nie gefunden, weil ich niemals ihren Schrank durchsucht hätte. Aber dennoch erschreckt mich, dass Mama sie überhaupt in unserem Zuhause hortete. Es fühlt sich so an, als hätte ich ein ganzes Arsenal schlimmster und perversester Pornos bei ihr gefunden.

Okay, das hätte mich wahrscheinlich nicht ganz so geschockt, weil das irgendwo normale Lektüre ist, die man überall herunterladen oder kaufen kann. Aber diese Geschichten …

Ich greife mir das Heft und ziehe eine der ausgedruckten Seiten heraus. Das Heft lege ich zurück und schmeiße den Schrank zu, während mich erneut diese seltsame Unruhe packt … und auch eine gewisse Erregung.

Ich werfe mich auf mein Bett und versuche letzteres zu ignorieren, weil es mir sogar vor mir selbst peinlich ist. Genauso wie der Umstand, dass ich mich beim letzten Mal nach einer dieser Lektüren genötigt sah zu onanieren, um den aufgestauten Druck loszuwerden.

Ich falte die Seite auseinander und sehe, dass sie eine Überschrift hat, die mir sofort auf den Magen drückt. Ich seufze einmal tief durch, als läge Schwerstarbeit vor mir und beginne zu lesen.

Das Hotelzimmer der Vergewaltigung

Es ist Abend. Ich sitze mit meinen vier Freunden an einem Tisch in einem noblen Hotelzimmer und wir spielen Poker. Das Zimmer ist schalldicht. Vielleicht sogar hoch oben über einer Stadt mit einem unglaublichen Ausblick und Fenstern, durch die man das Gefühl hat, von jedermann beobachtet zu werden. Natürlich darf uns niemand beobachten können.

Wir spielen Runde für Runde mit hohem Einsatz. Meine Freunde denken, es geht nur um das Pokern. Uns werden laufend Getränke gebracht. Immer nur von einem Hotelangestellten. (Mann)

Es geht auf Mitternacht zu und alle sind gut gelaunt. Der Hotelangestellte bringt Austern und andere Leckereien und Champagner. Für alle steht fest, dass unser Pokerabend bald zu Ende geht. Aber wie immer sind alle überdreht und gut gelaunt und wollen nicht, dass der Abend endet. Ich frage, ob ich noch etwas Nettes als Nachtisch bestellen soll.

Um den Abend noch nicht ausklingen zu lassen, willigen alle ein.

Ich rufe an und fordere den Nachtisch. (Das ist das Stichwort)

Es wird geschmolzene Schokolade gebracht und Früchte … oder irgend so was. (Egal, aber geschmolzene Schokolade wäre gut und vielseitig)

Diesmal kommt nicht der Hotelangestellte (Mann), sondern eine Hotellangestellte (Frau).

Ich frage und tue überrascht: „Holla, wo ist denn unser Page?“

Sie: „Es ist Schichtwechsel. Ich werde sie weiter bedienen.“

Ich gehe zur Tür und sage: „Das ist gut!“ und verschließe sie, damit sie nicht mehr raus kann.

Meine Freunde werden verunsichert stutzen.

Sie sieht sich gehetzt um und bittet: „Bitte, kann ich gehen?“

Ich antworte nur lapidar: „Später vielleicht, wenn wir mit dir fertig sind.“

Nun schnallen meine Freunde, was ich vorhabe. Sie sind immer noch verunsichert. Aber ich greife mir die Frau und küsse sie. Sie versucht sich loszureißen. (Natürlich ist sie nicht kräftig) Ich rufe meinen Freunden zu: „Hey. Hält mal einer die kleine Wildkatze fest? Ich will sehen, was so eine Hotelangestellte unter dem Hoteldress trägt.“

Sie kommen langsam näher und einer nimmt ihre Arme und hält sie ihr hinter dem Rücken fest.

Die Frau ist entsetzt, als ich beginne ihre Bluse aufzuknöpfen. Sie trägt schöne Spitzenunterwäsche und hat einiges zu bieten. Das bringt auch die Zurückhaltenden auf den Plan. Sie schreit, aber keiner hört sie. Wir zerren sie zu dem Bett und ich hole die Schokolade. Während die anderen sie weiter ausziehen, schiebe ich ihr die in Schokolade getauchten Früchte in den Mund, während die anderen sie festhalten.

Ich lasse die warme Schokolade aus dem Topf von ihren Lippen über ihren Körper rinnen. Die ersten beginnen gierig die Schokolade von ihrem Körper zu lecken. Aber ich befehle: „Haltet sie fest und zwei winkeln ihre Beine an.“ Ich schiebe ihr eine in Schokolade getunkte Erdbeere zwischen die Schamlippen und sage: „Wer die als erstes im Mund hat und isst, bekommt den Topf und die Früchte und darf weitermachen.“

Alle stürzen sich auf sie.

Sie ist hart im Nehmen und kann alles ertragen, was uns einfällt. Sie wimmert und weint nur. (Das muss, damit es authentisch wirkt.)

Wir toben uns an ihr aus. Jeder auf seine Art, die ihm gefällt.

Es ist eine stilvolle Vergewaltigung, mit allem Drum und Dran und völlig tabulos.

Wenn wir fertig sind, drohe ich ihr: „Zu niemanden ein Wort oder ich werde dafür sorgen, dass du diesen Job los bist und niemals wieder in einem Hotel angestellt wirst. Notfalls werden wir sagen, dass du dich uns angeboten hast.“

Sie verspricht, dass sie schweigen wird und geht.

ALZ 13007

Ich atme tief durch und kann einen Moment nicht klar denken. Andere Geschichten waren ähnlich. Es gab nur wenige, die von einem romantischen Zusammentreffen mit jemandem erzählten, das mit Massage und netten Liebesspielen letztendlich bei einer heißen Nacht endete. Die meisten waren brutale Zusammentreffen mit Gewalt und erschreckenden Spielen. Alle endeten damit, dass der Schreiber befriedigt wurde. Und dabei ging es nicht immer nur um sexuelle Befriedigung. Am harmlosesten fand ich die Geschichte - ich denke, die hat eine Frau geschrieben - mit den vielen schönen, nackten Männern, die ihr alle möglichen Speisen bringen und sie füttern sollten. Das einzige, was mich dabei irritierte, war, dass alle Männer stets einen Ständer haben sollten. Mir war nicht klar, wie das gehen soll.

Wie immer, wenn ich eine dieser Geschichten las, bin ich seltsam betroffen. Und mir macht Angst, dass Mama irgendwie mit den Geschichten und den Schreibern zu tun gehabt haben könnte. Und alle enden mit einer Buchstaben-Zahlen-Kombination.

Es klopft an meine Tür und ich springe aus dem Bett und schiebe die Seite unter das Kissen.

„Hi, Joel. Es ist so weit. Der Laptop deiner Mutter …“ Es ist Manuel, der ins Zimmer stürmt, direkt auf den Schreibtisch zu. Er schiebt meine Tastatur beiseite, um für Mamas Laptop Platz zu haben.