Buch lesen: «Lichtblau», Seite 2

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LEA

#imagine

Rauch? Lea schnupperte und blinzelte verschlafen. Als sie den Arm unter der Jacke hervorzog, wunderte sie sich über die Enge. Unwirsches Grummeln antwortete ihr. Erschrocken riss sie die Augen auf. Wer lag bei ihr im Bett? Wo war sie? Brannte es?

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Durch den Zelteingang reichte ihr eine Hand einen weißen Fetzen. »Gegen das Tränengas, ist besser, wenn du eine bei dir hast.« Eine Zigarettenlänge später tauchte ein grinsendes Mädchengesicht auf, Sommersprossen um die Nase, Strähnen hennaroten Haars fielen ihr in die Stirn. »Magst du Tee?« Das Gesicht war schon verschwunden, als Lea nickte. Sie rappelte sich auf, stopfte die Minigasmaske in die Hosentasche, langte nach ihrem Rucksack, erneutes Grummeln von der jungen Frau, neben der sie geschlafen hatte, ließ sie leise aus dem Zelt schlüpfen.

»Guten Morgen, Ti!« Ein verschmitztes Lächeln begrüßte sie zu ihrer neuen Identität. Der Sprayer von gestern Abend hockte auf dem Weg und malte an einem Plakat.

»Am ersten Tag Terroristen«, entzifferte Ti, »am zweiten Provokateure, am dritten …« Fragend schaute sie auf.

»Demonstranten«, erklärte er, »aber wichtig ist der vierte: Am vierten Tag wurden wir zum Volk!« Er lachte. Lea stimmte ein und nahm den Tee, den das Hennamädchen ihr reichte.

»Gibt’s hier irgendwo Simit oder Börek?«, fragte Lea. »Ich hab einen Bärenhunger, vor lauter Aufregung hab ich gestern glatt vergessen, etwas zu essen.«

»Und wir dachten schon, du bist Gezi-besoffen wie wir alle hier, als du gestern hier angetaumelt kamst. Übrigens, ich bin Tayfun.«

Lea grinste. Schwach erinnerte sie sich daran, dass sie am Vorabend mit dem Sprayer gehen wollte, aber einfach umgekippt war. Wie sie ins Zelt kam, wer die Mädchen waren, neben denen sie geschlafen hatte, war ihr schleierhaft. »Ich hol mal Simit«, sagte sie.

»Geh nicht zu einem der fliegenden Händler!«, rief das Hennamädchen.

»Aber …«

Das Mädchen wurde richtig streng, als sie erklärte: »Die meisten sind Polizeispitzel, immer noch! In Gezi heißt die Devise: kein Geld, kein Eigentum, alles ist für alle da!«

»Oder auch: nichts für niemanden!« Tayfun lachte. »Da vorn ist der Gezi-Supermarkt, schau mal, was du da findest.« Er wies mit dem Pinsel um drei Ecken, und Lea lief los, stolperte über Beine und Katzen, Heringe, Leinen und Decken. Alle drei Schritte blieb sie stehen, beäugte Graffiti, Aufkleber, Zettel mit Parolen oder Annoncen, lächelte Neuankömmlingen zu, beantwortete Fragen, stellte selber welche, lauschte einer Querflöte, sprang einer Gruppe junger Mütter bei, die von Kindern bemalte Laken zwischen Bäume spannten, während die Kleinen auf Steinen und Wegen weiterwerkelten, lehnte Zigaretten ab, reichte Wasserflaschen und Gasmasken von Hand zu Hand, wenn sie gerade durch eine Versorgungskette lief, staunte über ein Grüppchen, das mitten auf dem Pflaster sitzend meditierte, und fühlte sich als alte Gezi-Häsin. Endlich fand sie den Supermarkt.

»Willkommen im Çapulcu-Markt« stand krakelig auf einem Pappschild. Auf einer Pyramide aus Steinen lag alles, was das Herz begehrte, Schokoriegel, Saft, Cracker, Wasserflaschen, sogar Käse, Honig, Konfitüre in Portionsdosen. Oben hinter dem Pappschild drängten sich Plastiktüten mit Einkäufen und Mitbringseln für den fliegenden Marktplatz. Sie griff nach Keksen, hielt nach Obst aber vergeblich Ausschau. Gleich nachher würde sie irgendwo eine Riesentüte Obst besorgen, einen Apfel abzweigen und den Rest in den Soli-Supermarkt tragen.

Auf dem Rückweg fand sie den Weg von einer größeren Gruppe auf dem Boden sitzender Leute versperrt. »Ah, die Yogis sind auch schon da«, sagte jemand. Lea setzte sich dazu. Eine Vorturnerinnenstimme lud zum Sonnengruß ein.

Als Lea nach dem letzten Ausatmen die Arme senkte, stieß ihr Ellbogen den Nachbarn an. »Pardon!«, sagte sie und traf auf Tayfuns Grinsen.

»Ich hab dich gesucht. Simit-Holen kann ja keine Stunde dauern!«, sagte er theatralisch. »Es wimmelt hier nur so von Terroristen, Provokateuren, Demagogen. Und Tschapulierern natürlich.« Er zwinkerte ihr zu, zog sie aus dem Pulk der Yoga-Mädchen und nahm sich einen Keks aus ihrer Packung. »Noch einen Tee, dann aber an die Arbeit!« Lea ließ sich gern entführen.

Vor einem Zelt teilte eine ältere Frau Tee aus, deren Goldzahn aufblitzte, wenn sie lachte, und sie lachte ununterbrochen. Gleich daneben hockten zwei Männer und spielten Tavla. Tayfun wies Lea auf die zusammengefalteten Zettel hin, die neben dem aufgeklappten Spielbrett lagen. »Sie spielen ›Verschlossener Umschlag‹«, erklärte er. »Vor dem Spiel notiert jeder Spieler etwas auf einem Zettel. Der Verlierer muss dann tun, was der Gewinner ihm zugedacht hat.«

»So ungefähr wie Flaschendrehen zu zweit.« Lea lachte, dann stutzte sie. Verschwommen stieg eine Erinnerung in ihr auf.

»Es hat etwas mit Vertrauen zu tun«, sagte Tayfun und in Leas Kopf riss ein Schleier.

*

»Das ist reine Vertrauenssache, Ti!«, hatte der Vater gesagt und Lea den Umschlag aus der Hand genommen. Wie viele Jahre war das her? Er hatte sie zum Wochenendbesuch abgeholt und abends zu Freunden mitgenommen. Sie spielten »Verschlossener Umschlag«. Lea wollte wissen, was der Freund für ihren Vater notiert hatte, was würde er tun müssen, wenn er das Spiel verlor? Doch der Vater legte den Umschlag auf den Tisch zurück. »Ich vertraue meinen Freunden«, sagte er. »Was sie für mich entscheiden, ist richtig.« Er war Tavla-süchtig, doch die Umschläge kamen nur selten ins Spiel. Vertrauenssache! Lea wusste, dass sie am Ende erfahren würde, was darin stand. Der Verlierer würde seinen Umschlag öffnen und ihn lesen, erst für sich, oder, wenn er Mut hatte, auch gleich laut für alle. Man würde lachen und diskutieren und der Verlierer würde tun, was der Gewinner für ihn vorgesehen hatte. Was aber im verschlossenen Umschlag für den Gewinner für den Fall seiner Niederlage bestimmt gewesen war, blieb Geheimnis des Verlierers.

Seit der Trennung der Eltern waren die wenigen Tage mit dem Vater Sternstunden für Lea. Er lebte in einer anderen Welt als die Mutter, die den ganzen Tag arbeitete und kaum Zeit für die Tochter hatte. Vater Ziya schien unendlich viel Zeit zu haben, vor allem aber war er, im Gegensatz zur Mutter, die nach Feierabend meist nur noch ihre Ruhe wollte, nie allein. Er nahm sie in den Verein mit, auf Demos, zu Veranstaltungen, in Konzerte, zu Freunden sowieso. Gemeinsam wurde gelacht, viel schwarzer Tee heiß aus kleinen taillierten Gläsern getrunken, gegessen und diskutiert, oft lautstark.

»Du bist mein Sonnenstrahl, Ti!«, lachte der Vater jedes Mal, wenn er sie abholte. Ti war sie nur bei ihm. Wie fast immer hatten die Eltern sich auch beim Namen für die Tochter nicht einigen können, deshalb trug sie einen Doppelnamen: Lea für die Mutter, Tirêj für den Vater. »Aber das ist doch ein Jungenname!«, hatten Vaters Freunde gelästert. »Es ist der schönste Name auf der Welt: Sonnenstrahl, ein ganzes Bündel voller Sonnenstrahlen und obendrein noch mit den Farben des Regenbogens«, hielt der Vater stets dagegen. »All das ist meine Tochter für mich. Als Sohn hätte sie diesen Namen bekommen, warum soll sie nicht auch als Tochter so heißen?« Und Lea trug den Namen mit Stolz, für ihren Vater und für seine Freunde.

Der Vater hatte damals das Tavla-Spiel verloren. Er war blass geworden, als er las, was der Freund geschrieben hatte. Laut wollte er die paar Zeilen nicht vorlesen. Er hatte den Zettel gefaltet, in die Hemdtasche gesteckt, dem Freund die Hand gereicht und mit eiskalter Stimme gesagt: »Mein Wort darauf!« So sehr Lea auch bettelte, sie erfuhr nie, was auf dem Zettel für den Vater stand. Kurz darauf war er fort gewesen. Er rief nur noch an, zunächst häufig, dann immer seltener, und stets versprach er: »Ich bin bald wieder da.« Doch wo er war, verriet er nie. Lea war todtraurig, er vertraute ihr also nicht. »Du wirst es eines Tages verstehen«, flüsterte er durchs Telefon. Später meinte Lea, er hätte dabei jedes Mal einen Kloß im Hals gehabt.

Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Und seinen Namen für sie nie wieder benutzt. Bis gestern.

*

»Ti? Warum weinst du?« Tayfun nahm ihren Ellbogen. »Was ist los? Hab ich was Falsches gesagt?«

Ein Schauer durchzuckte sie, sie schüttelte den Kopf, wischte mit dem Handrücken energisch über die Augen. »Nur eine Erinnerung«, murmelte sie. »Ist schon vorbei!« Tayfun musterte sie besorgt, sie zog die Mundwinkel hoch. Zwing dich zum Lächeln, du wirst staunen, wie sich das Spiel der Muskeln auf deine Stimmung auswirkt! Eine Yogi-Regel. Oder so.

»Hörst du das?« Sie lauschte. Der Pianist auf dem Taksim-Platz spielte immer noch oder schon wieder. Sie mussten nicht darüber reden, Hand in Hand liefen sie los, schlängelten sich durch die Menschen, die auch an diesem Morgen zahlreich in den Park strömten. »Imagine all the people«, summten sie mit, »Living for today …«

Sie setzten sich ein wenig abseits, sangen laut mit all den Menschen, Hunderte, Tausende, Hunderttausende, die hier auf den Beinen und in Bewegung waren: »You may say I’m a dreamer … But I’m not the only one …«

Als Lea aufstehen wollte, kribbelten ihr die Beine, zu lange hatte sie im Schneidersitz verharrt, stundenlang erst der Musik dann den Debatten über das weitere Vorgehen gelauscht. Tayfun hatte sich bald gelangweilt, nachdem zunächst er es gewesen war, der unbedingt teilnehmen wollte, denn: »Das ist Basisdemokratie!« Lea war ihm gefolgt, obwohl sie viel lieber von einem Zelt zum anderen gewandert wäre, um das bunte Treiben im Park auf sich wirken zu lassen. Dann fesselte die Diskussion sie doch. Für sie war alles neu. Aber die Proteste dauerten nun schon zwei Wochen an und es drängte die Frage, wie es weitergehen sollte. Sich organisieren, eine Partei gründen, wollten die einen, die anderen hielten dagegen: Unsere Stärke ist unsere Vielfalt, gerade ohne Organisation. Und wie mit einer Räumung umgehen, die manchen undenkbar, anderen aber unmittelbar bevorzustehen schien? Endlos war es hin und her gegangen. Lea wollte bleiben, als es Tayfun weiterzog. Rasch notierte er seine Handynummer auf ihrem Arm. »Für alle Fälle!« Er zwinkerte ihr zu und weg war er. Als das Fazit am Ende lautete: »Wir bleiben, wir kämpfen weiter!«, war Lea fast enttäuscht. Natürlich würden sie bleiben! Der Park gehörte den Menschen, das war doch wohl klar. Aber eine Zukunftsansage war das nicht.

In ihrem Kopf herrschte ein ähnlicher Trubel wie im Park. Sie wühlte sich durch die wogende Menge, die plötzlich stockte. Ein gespenstisch stiller Zug von zehn, vielleicht fünfzehn Gestalten schlängelte sich durch die Menschen. Einige in Schwarz, nur die Gesichter weiß bemalt, andere als Clowns geschminkt. Ein Mädchen mit roter Pappnase und schneeweißer Riesenblüte im Haar kam Lea bekannt vor. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Das war doch Özlem, das Mädchen aus dem Bus! Sie wollte ihren Namen rufen, doch etwas hielt sie zurück. Wie sie da stumm gleichsam durch die Menge schwamm, ging von der Gruppe ein majestätisches Schweigen aus, das nicht nur Lea in ihren Bann zog. Pantomime!

Voran stolzierte ein Mann im schwarzen T-Shirt, das weiße Gesicht maskenhaft. Oder war es eine Frau? Wie ein Zirkusdirektor schritt er, oder sie, breit die Beine, die Brust geschwellt, führte er seine Truppe durch den Park. Unvermutet schlenderte er, spähte nach links und rechts, lächelte selig, bückte sich, hob etwas auf, die Leute reckten die Köpfe, wollten sehen, was er vom Boden klaubte, doch seine schlanken Hände waren leer, das heißt, nur er sah, was er hielt, er beäugte es, strich sanft darüber, steckte es in die­ ebenso wenig vorhandene ­Tasche, stapfte weiter, verfiel in Laufschritt, bahnte sich mit hektischen Gesten einen Weg durch die Menge, wie auf der Flucht. Plötzlich erstarrte er, wie getroffen, von einem Schlag, einer Kugel, einer Tränengasgranate, riss den Arm hoch, den Kopf zurück, den Mund auf, Schmerz auf der weißen Maske, stürzte rücklings. Hände reckten sich ihm entgegen, Arme griffen vor, ihn aufzufangen, ohne ihn zu berühren. Sekundenlang froren die Darsteller ein, nur die Clowns gingen weiter, tänzelten um die Szene herum, klatschten lautlos, riefen, weinten, lachten, ohne den geringsten Laut. Da drängelte sich Özlem durch die Menge, das Mädchen mit der roten Pappnase, lautlos ächzend fuhr sie eine fiktive Schubkarre auf den Platz. Die Pantomimen luden vorsichtig etwas Langes, Schweres und doch zerbrechlich Zartes ab, einer kauerte und grub, Özlem setzte sorgsam in das unsichtbar gegrabene Loch, was sie zuvor gemeinsam von der Karre hoben. Ringsum herrschte atemlose Stille. Die Clowns schlugen begeistert die Hände zusammen, lautlos, bestaunten das Werk, den Blick verzückt in den Himmel gerichtet. Als Özlem begoss, was sie imaginär in den Park gepflanzt hat, hatten es alle verstanden. Enthusiastisch applaudierte die Menge.

Lea schmunzelte. Der Mensch sucht stets nach Sinn, dachte sie, immer will er sofort verstehen, will Muster zuschreiben, sortieren, urteilen, bewerten, statt sich einfach nur zu öffnen, zu schauen, zu staunen und zu warten, bis das Geschaute von selbst Gestalt in ihm annimmt, ihn in sich hineinzieht. Wie jetzt das stumme Theater sie. Lea war nur noch Auge, war den Pantomimen dankbar, einen Moment der Stille in den Tumult gebracht zu haben. Der Park nahm pausenlos sämtliche Sinne in Beschlag, alles stürmte auf sie ein, und sie war begierig, alles aufzunehmen. Nun merkte sie, wie viel intensiver Erleben sein kann, wenn nur ein Sinn angesprochen ist und die anderen die Chance bekommen, sich von Innen her zu beteiligen.

Zwei Hände legten sich auf ihre Augen. »Pst!«, zischte es hinter ihr. Lea zögerte.

»Tayfun?« Ein Mädchen neben ihr lachte. Lea spürte ihren Hörsinn explodieren, kaum war sie für eine Sekunde ganz blind, drängte sich ein anderer Sinn in den Vordergrund. Ungeduldig ließ Tayfun seine Hände auf ihre Schultern gleiten.

»Es wird schon dunkel, kommst du heute Abend mit?« Kurz war Lea hin und her gerissen. Natürlich wollte sie mit auf Spraytour gehen, aber die Pantomime hatte etwas Neues in ihr ausgelöst. »Na, wenn du nicht willst, geh ich eben allein.« Lea griff nach Tayfuns Hand.

»Warte! Ich komme mit!« Sie kramte ein Post-it aus der Tasche, kritzelte ihre Telefonnummer darauf, setzte ihren Namen darunter.

»Bist du noch länger hier?«, fragte sie das zierliche Mädchen neben sich.

»Keine Ahnung, man kommt und geht halt«, lachte die. Hilfesuchend blickte Lea Tayfun an. Er grinste und hob fragend die Augenbrauen.

»Wo brennt’s denn?«

»Das Mädchen mit der roten Pappnase und der Blume im Haar, das ist Özlem, mit ihr bin ich hergekommen, im Bus, wir hatten uns verloren, aber jetzt …«

Da schnappte sich die Zierliche an ihrer Seite die Notiz mit der Telefonnummer und wieselte erst durch die Zuschauermenge, dann durch die Pantomimegruppe, war im Nu bei Özlem, flüsterte ihr etwas ins Ohr, steckte ihr den Zettel in die lichtblaue Tüllhülle, warf Lea eine kurze Kusshand zu und verschwand auf der anderen Seite in der Menge.

»Das sind die Mädels von Gezi!«, lachte Tayfun. »Kommst du jetzt mit?«

6

MARIE

#standtall

heute, 21:00h, 5 min stehenbleiben, egal wo ihr seid, unterstützt den protest in der türkei! #duran­adam #diren­geziparkı

Es war schon fast zehn. Um neun hatte sie in der Bahn gesessen. Hätte sie den Tweet früher gelesen, wäre sie aufgestanden. Bei dem Gedanken musste sie grinsen. Schweigemärsche waren geläufig. Aber aus Protest einfach irgendwo stehenbleiben?

»Du brauchst ein Smartphone.« Manfred stellte ihr den Lama-Becher mit dampfendem Tee neben den Laptop. »Mach doch Schluss für heute.«

Ein Tag mit zwei Vorstellungsgesprächen lag hinter ihr, viel Hoffnung machte sie sich nicht. Kaum aus Bremen zurück, hatte sie den Laptop aufgeklappt, um auf Twitter nach der Situation in der Türkei zu schauen. WLAN gab es im Regionalexpress leider nicht.

»Oder ein Tablet, ja.« Sie nippte dankbar am Tee – und hörte die Stimme ihres Vaters im Hinterkopf: Reichen dir PC und Laptop denn nicht? Digitale Aufrüstung ist doch nur Ersatzbefriedigung! Erweitere lieber deinen Bewerbungshorizont! Ihr eher praktisch als empathisch veranlagter Vater schickte ihr Anzeigen für Sekretariatsstellen. Sie hatte es aufgegeben, sich darüber aufzuregen, dennoch versetzte es ihr nach wie vor jedes Mal einen Stich. Manfred verteidigte ihre Eltern, sie würden es doch nur gut mit ihr meinen. Er mit seiner Lebensstellung beim Rundfunk hatte gut Reden. Und für ihre Eltern, die, mit dem sicheren Nachkriegsmodell »Sie Hausfrau, Er solide-Ausbildung-feste-Stelle-Rente« im Rücken zwei Kinder in die Babyboomerjahre gesetzt hatten und Veranlassung weder für emotionale noch materielle Unterstützung sahen, war jeder seines Glückes Schmied. Nur wer hart durchmusste, hatte Wohlstand verdient. Sie vertrauten weniger der eigenen Tochter als vielmehr dem System, das sie schließlich eigenhändig nach der Gnade der Stunde Null mit aufgebaut hatten.

Mit Tablet hätte Marie schon im Zug auf den Vogel getippt. Twitter, komprimierter als Facebook, war Informationsquelle Nummer eins, nicht nur für die Millionen der Gezi-Bewegung in der Türkei, mittlerweile auch für sie. Mit Hashtags hatte sie sich schnell angefreundet. Wie praktisch, man setzte ein Gitter # und damit war der entsprechende Begriff verschlagwortet. Anhand der Beliebtheit der Hashtags ließ sich ablesen, was gerade vielen auf den Nägeln brannte. Dazu gehörte dieser Tage alles, was #gezi enthielt.

#duranadam gab sie in die Suche ein. Endlos ploppten Posts vor ihr auf und sekündlich kamen neue Tweets hinzu. Ankündigungen von Aktionen, Berichte und Fotos, erste Analysen, wer dieser Mann war, der sich gestern Abend auf den Taksim-Platz gestellt hatte und mit dieser so einfachen wie effektvollen Geste quasi eine Revolution zivilen Ungehorsams ausgelöst hatte. Marie klickte einen Link an. Ein Blogartikel. Titel: Stand tall. Sie schmunzelte. Stand tall, don’t you fall … Das musste jemand in ihrem Alter geschrieben haben, wer kannte heute noch den alten Song, der ihr in der Jugend über so manche Krise hinweggeholfen hatte.

Marie speicherte den Blogpost als PDF-Datei ab und las. Wow, dachte sie, eine schöne kleine Skizze mit Gedankenanstößen und Referenzen an Raumkonzepte.

Stehen heißt: Raum nehmen. Sich das Recht auf Raum erstehen. Wo ich stehe, gehöre ich hin. Der Platz, auf dem ich stehe, gehört mir, und sei es für die Dauer des Stehaktes. Ich erhebe Anspruch auf diesen Raum. Ich besetze den Raum. Besetzter Raum lässt Atmosphäre entstehen. Und hier: Es entsteht etwas, wo einer steht und andere sich zu ihm stellen. Zu ihm stehen. Einer steht für alle da, alle stehen für einen ein.

In der Türkei blieben plötzlich überall Menschen einfach stehen, vor allem vor Amtsgebäuden, Denkmälern, Polizeiwachen, Parteibüros. Was für eine Idee! Ausgelöst von einer spontanen Reaktion eines einzelnen Performancekünstlers, der behauptete, es sei gar keine Performance gewesen, nicht einmal eine Aktion. Er habe einfach nicht anders gekonnt, als auf dem Taksim-Platz stehenzubleiben. Stundenlang. Bis er verhaftet wurde. Wegen unbefugten Stehens auf einem Platz und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Stehen erregt Aufsehen. Ist ein Ärgernis. Wie wahr, dachte Marie und lachte. Manfred nahm den Blick vom Fernsehapparat und drehte ihr fragend den Kopf zu.

»Hier ist ein toller Text. ›Gedanken im Fluss‹, steht darunter, scheint eine Reihe zu sein. In der heißen Phase geschrieben war.«

»Bist du schon wieder bei den Istanbuler Protesten?«

Marie nickte und klickte auf den Autorennamen. Mavi, Studentin, 24, Deutsch-Kurdin, derzeit Istanbul. »Ich schreib mal drauflos«, stand noch in der kurzen Autorennotiz.

Als Studentin hatte auch Marie drauflosgeschrieben. Einige wenige Texte hatte sie unterbringen können. Dann führte sie die Mitarbeit im El-Salvador-Komitee gewissermaßen in die Welt, dort hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, anerkannt und gebraucht zu werden. Zu Beginn traute sie sich kaum, den Mund aufzumachen, übernahm aber gern Aufgaben, die andere in dem kleinen Kreis lästig fanden: Protokoll schreiben, dies tippen, das übersetzen. Hier sagte niemand: Ganz nett, üb schön weiter. Ihre Texte gingen an die Presse. Den Spanischkurs konnte sie sich bald schenken, die Praxis lehrte sie viel mehr als ein Kurs es je gekonnt hätte. Sie schrieb kleine Texte, über Cardenals Liebeslyrik, über Camilo Torres und Bischof Romero, über Lyrik und Befreiungstheologie. Wie fühlte sie sich damals aufgerufen und ohnmächtig zugleich. »Nicht gescheitert, nur die Ziele zu hoch gesteckt!« Sie lachte bitter auf, als ihr diese Zeile aus einem ihrer frühen Gedichte in den Sinn kam. Diesmal zog Manfred die Augenbrauen hoch, als sein Kopf sich erneut zu ihr drehte.

»Immer noch nicht fertig? Die Tagesthemen fangen gleich an.«

»Bin sofort da.«

Aufgewühlt lief sie in die Küche. Sie war doch schon so lange unterwegs, vor jeder Ecke hatte sie gehofft, hinter dieser endlich angekommen zu sein, nur um nach kurzer unbehaglicher Rast weiterziehen zu müssen. Jedes Mal tröstete sie sich: Es ist noch nicht soweit, geh weiter, nimm auch diese Erfahrung mit, für irgendetwas wird sie schon gut sein. Seit Jahrzehnten war sie unterwegs und trug eine Art Werkzeugkasten mit sich. Klein und handlich, dünnwandig, unförmig, unscheinbar, doch unverwüstlich, gierend nach allen Werkzeugen dieser Welt. Und Marie begann zu sammeln, was ihr unterkam, was ihr verwertbar schien, sie anlachte oder ihr vor die Füße fiel, oft auch musste sie mit Händen danach greifen, reißen, zerren und sich lange mühen, bis es in den Kasten passte. Nichts ging verloren. Doch statt dass der Kasten sich füllte, eng und prall wurde, schaffte jedes Werkzeug Raum für neues, Raum für Dinge, an die nie zuvor gedacht war, denn jedes kam mit seiner eigenen Geschichte, öffnete Türen, wo zuvor nicht einmal Mauern gewesen waren. Der Werkzeugkasten wuchs zu einem Kosmos, der nie durchmessen, nie umfänglich erforscht, vor allem aber nie ganz gefüllt sein würde. Das hatte sie mit Staunen zur Kenntnis genommen. Und irgendwann akzeptiert.

Marie war unterwegs. Sie war auch mit gut Mitte vierzig noch lange nicht angekommen. Manchmal blieb sie stehen, blickte zurück, staunte über die zurückgelegte Strecke, über die Kurven, die ihr beim Gehen gar nicht wie solche vorgekommen waren. Ihr Weg war noch lang. Sie würde ihn gehen. Auf einem Platz in Istanbul hatte sich einer hingestellt.

»Aufstehen!«, sagte sie laut und räumte den Lamabecher in die Spülmaschine.

»Was?«, fragte Manfred aus dem Wohnzimmer.

Ins Auge fassen, wogegen es sich zu wehren gilt, Widerstand leisten. Stehen. Und dann gehen.

»Ich mach noch einen Tee, willst du auch?«, rief sie zurück. Sie hörte ihn förmlich den Kopf schütteln. Als das Wasser kochte, langte sie nach dem lichtblauen Keramikbecher mit den silbernen Sternen. Genau der richtige für den Klarer-Geist-Tee und den Blick in die Kristallkugel. Wo nur, wo sollte sie hin? Mit sich und ihren brachliegenden Talenten …

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