Buch lesen: «Freiheit in der Demokratie», Seite 5

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Die liberale Geisteshaltung

Am 17. April 1787 schrieb Benjamin Franklin an einen Herrn Arnaud: «Nur ein tugendhaftes Volk ist der Freiheit gewachsen […]»106 Ein Liberalismus, der sich auf die Menschenwürde abstützt, ist tugendethisch fundiert. Ethik befasst sich mit Aussagen über moralische Werte und moralische Handlungsnormen. Sie bietet Methoden an, auf dem Weg der Vernunft über richtige Handlungsweisen nachzudenken sowie Prinzipien und Kriterien moralischen Handelns zu entwickeln. Ein auf Ethik gestützter politischer Liberalismus ist jedoch nicht als umfassende Lebensphilosophie (Comprehensive Theory) zu verstehen, die sich auf das gute Leben insgesamt bezieht. Viele Fragen des politischen Alltags, aber auch staatspolitische Grundentscheidungen lassen sich nicht allein aus liberaler Optik bewerten. Eine auf die menschliche Fähigkeit zu Reflexion und Deliberation fokussierte Tugendethik nimmt den einzelnen Menschen keine eigenen Entscheidungen ab; sie erfüllt als philosophische Reflexion über Moral eine «Kompassfunktion», auf die nachstehend näher einzugehen sein wird. Es kann deshalb bei der Frage nach der ethischen Dimension des Liberalismus nicht darum gehen, moralisch richtiges Verhalten im Einzelfall zu definieren, sondern das moralische Bewusstsein zu schärfen und zur argumentativen Begründung und Rechtfertigung von liberalen Handlungen anzuleiten. Liberalismus ist kein Rezept, kein Dogma, sondern verlangt ein ständiges Ringen um den richtigen Weg und um die angemessene Lösung – mit dem Ziel, angesichts der sich verändernden Umfeldbedingungen möglichst grosse Freiheitsräume zu wahren oder zu schaffen.

Ethische Orientierung ist oft ein Such- und Abwägungsprozess. Die zu beachtenden Werte lassen sich nicht alle gleichermassen umsetzen, nicht einfach «befolgen» wie eine Regel des Strassenverkehrsgesetzes. Dieser Suchprozess findet sein Pendant in der Rechtstheorie mit der Unterscheidung zwischen Prinzipien oder Grundsätzen einerseits und Rechtsregeln andererseits. Erstere sind Optimierungsgebote, Letztere zu befolgende und durchsetzungsfähige Normen. Prinzipien bedürfen einer weiteren Vertiefung im Rahmen eines Abwägungsprozesses.107 Freilich gibt es auch universelle, «überpositive» Orientierungen, die in der sozialen Natur des Menschen angelegt sind, wie sie in der Goldenen Regel als «Reziprozität oder Symmetrie menschlichen Handelns» zum Ausdruck kommen.108 Es gilt: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu.» In der Erklärung des «Parlaments der Weltreligionen» von 1993 in Chicago kommt der Goldenen Regel eine vorrangige Rolle zu, weil sie in allen Weltreligionen eine wesentliche Rolle spielt. In abgewandelter Form findet sie sich auch im kategorischen Imperativ Kants. Der Theologe Hans Küng, der «Vater» des Projekts Weltethos, weist darauf hin, dass die Goldene Regel und das Prinzip der Mitmenschlichkeit, die Grundwerte der Ehrlichkeit und Partnerschaftlichkeit, der Gerechtigkeit und Friedfertigkeit sowohl säkular wie spirituell fundiert werden können.109

In diesem Sinn ist der Liberalismus aufgegeben, nicht vorgegeben. Liberale sind darauf verwiesen, situationsgerechte und folgenorientierte Wertungen, auch innere «Kompromisse» vorzunehmen. Sie können dazu gezwungen sein, mit sich zu ringen. Welche Haltung oder Entscheidung ist im konkreten Fall «richtig», insbesondere um dem Schutz der Menschenwürde aller am besten zu entsprechen? Wie werden die am Menschen orientierten, sachbezogenen und werthaltigen Aspekte der Verantwortung möglichst optimiert? Auch dafür brauchen sie Freiheit. Äussere individuelle Freiheit ist notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für eine erfüllte Freiheitsbetätigung. Freiheit, Rationalität und Verantwortung «über Gründe» sind begrifflich eng miteinander verknüpft. Das Medium der Verknüpfung liegt in der Fähigkeit zu theoretischer und praktischer Deliberation, zur Abwägung von Gründen.110

Auf diese tugendethische Verortung der Freiheit hat bereits Adam Smith hingewiesen. Vor allem in seinem ersten Werk «The Theory of Moral Sentiments» (1759)111 entwickelt er seine Vorstellungen von Sympathie (im Sinn von Empathie), Fantasie und Schicklichkeit («propriety», als gerechtes und angemessenes Verhalten in den zwischenmenschlichen Beziehungen). Innovativ erscheint auch seine Figur des unparteiischen Zuschauers, der als innere Instanz oder als Gewissen eigene Haltungen und Handlungen objektiv beurteilen und verurteilen soll, mit allen und trotz aller Einbussen, die der menschlichen Natur eigen sind. Smiths Unterscheidung von Tugend und Regeln hat auch heute noch ihre Bedeutung: Der oder die Tugendhafte braucht keine Regeln, so die bildhafte Zuordnung. Regeln sollen die «Nichttugendhaften» zur Tugend anleiten – mit dem Ziel, dass sich diese das richtige Verhalten aneignen. Gute Regeln sollen so das autonome Individuum nicht (mehr) beschränken, weil es diese freiwillig anerkennt.

Gefahren einer Wertediskussion

Jeder Diskurs über Grundwerte sieht sich der Herausforderung ausgesetzt, zu reflektieren, was unter Werten zu verstehen ist.112 Auf einer abstrakten Ebene können Grundwerte mit Karen Horn «als Fluchtpunkte des moralischen Denkens» definiert werden. Werte erscheinen stets in der Mehrzahl; sie können auch in Konflikt zueinander geraten, wie die Vielfalt unterschiedlicher Freiheitsinteressen und das scheinbare Gegensatzpaar Freiheit und Sicherheit anschaulich belegen. Ohne Verdeutlichung und Beschränkung ist eine sachhaltige Diskussion über Werte und ihr gegenseitiges Verhältnis kaum möglich. Bleiben sie vage, substanzlos, geschichtsblind und undifferenziert, ist eine Diskussion über Werte anfällig für Populisten aller Schattierungen. Sie ist aber ein grosser Gewinn, wenn sie das Bewusstsein für verbindende und verbindliche Grundwerte schärft und zur (Wieder-)Belebung geteilter Werte in der Gesellschaft beiträgt.

Liberale Werte im Überblick

Über liberale Werte ist oft nachgedacht worden. Hier sollen in einer Art «Übersichtsdarstellung» ausgewählte Stimmen zu Wort kommen, die auf liberale Werte eingehen, bevor im nächsten Abschnitt einzelne, aus meiner Optik essenzielle Werte beleuchtet werden. Grundsätzlich ist dem Liberalismus eine Geisteshaltung eigen, in den Worten Immanuel Kants eine «Liberalität der Denkungsart», die durch reflexive Tugenden, unvoreingenommenen Realitätssinn, Komplexitätsbewusstsein, Kooperationsfähigkeit und ein starkes Verantwortungsbewusstsein geprägt ist. Vom Ökonomen Wilhelm Röpke, einem Vordenker des Ordoliberalismus, stammt der Satz: «Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Masshalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde der anderen, feste sittliche Normen – das sind alles Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen.»113 Nach Kurt Eichenberger ruft der Liberalismus eine Grundhaltung und praktische Gesinnungen hervor, «die sich der entschlossenen Aggressivität enthalten, die die geballte Konzentration vermeiden und die das Getümmel spektakulärer Kämpfe scheuen. Den Liberalen fehlt das Zeug zur fanatisierten Verdichtung und zur demagogischen Einfärbung».114 Insofern haben Liberale oft Mühe, sich im politischen Kampf zu bewähren – heute in einem aufgeputschten und polarisierten politischen Umfeld erst recht. Liegt hier die – oder zumindest eine – Erklärung dafür, dass es Liberale in allen Demokratien schwer haben, sich in- und ausserhalb von Parteien zu behaupten und Mehrheiten zu gewinnen?

Mir scheint, dass der Rekurs auf Werte in der liberalen Theorie nicht immer Eingang gefunden hat in die weiteren Reflexionen über liberale Postulate. Die tugendethische Dimension bleibt etwa auf der Strecke, wenn Freiheit als blosse Abwehr von staatlichen Eingriffen verstanden wird.

Die Werte der Verfassung

Die für die ganze Rechtsgemeinschaft verbindlichen Grundwerte sind primär in der Verfassung zu suchen. Ich staune, wie wenig die Verfassung genannt wird, wenn von Grundwerten gesprochen wird. Denn Menschenwürde, Menschenrechte, rechtsstaatliche Demokratie mit Gewaltenteilung und Kollegialprinzip sowie Verhältnismässigkeit als Leitwert des Masses und der Mässigung, zudem sozialer Ausgleich, Föderalismus und Minderheitenschutz stellen liberale Grundwerte dar, auf welche die Bundesverfassung verpflichtet. Dazu gehören auch die Religionsfreiheit und das Bekenntnis zum säkularen Staat. Ohne religiöse Neutralität keine rechtsstaatliche Demokratie.

Müssen Liberale beispielsweise nicht widersprechen, wenn die Schweiz als christliches Land bezeichnet wird? Was heisst «Land»? Die Schweiz als verfasstes Gemeinwesen ist nicht christlich. Hingegen haben das Christentum wie auch andere Ideen und Wirkmächte (wie die griechische und römische Kultur und vor allem die Aufklärung) unsere Entwicklung stark geprägt und sichtbare Spuren hinterlassen. Die (beschränkte) Trennung von Staat und Religion ist hart erkämpft worden, kulturkämpferische Nachwehen waren bis in die jüngste Gegenwart Realität.

Auch ausserhalb der verfassungsmässigen Grundwerte spielen Werte eine wichtige Rolle. Sie sind nicht juristisch allgemeinverbindlich, dennoch aber in Teilbereichen von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft oft von erheblicher sozialer Relevanz. Zu denken ist auf der politischen Ebene etwa an die für die Schweiz typische politische Kultur, den Gemeinsinn,115 die Bereitschaft zum Kompromiss als Lebenselixier jeder Demokratie, das besondere Gewicht von Minderheiten – essenzielle liberale Werte, die aber nicht dekretiert werden können und die einem Wandel unterworfen sind. Ein Dialog über gesellschaftliche Werte ist sinnvoll, wenn darob nicht vergessen geht, dass sie Menschen mit einem anderen Wertehorizont nicht aufoktroyiert werden dürfen.

Werte ohne Wert-Schätzung

Werte sind in erster Linie zu leben. Sie verkümmern, wenn sie nicht beachtet werden. Diese Einsicht droht zuweilen zu verblassen, wenn in der Alltagspolitik polemische Diskussionen über Bestand und Bedeutung von Werten vom Zaun gerissen werden. Die grösste Gefahr für Werte bricht nicht von aussen über sie herein, sondern sie besteht darin, dass diese nicht mehr geschätzt werden, es also an der «Wert-Schätzung» fehlt.

Nach Zygmunt Bauman liegt die schlimmste Gefahr für die ethischen Werte darin, dass zwischenmenschliche Beziehungen und Interaktionen einer moralischen Bewertung entzogen und in der Praxis als moralisch neutral behandelt werden. Der Bereich moralischer Verpflichtungen, für die wir Verantwortung übernehmen, wird verengt. Die Tendenz, gegenüber bestimmten Menschen eine moralische Verantwortung abzulehnen, führt zu einer verhängnisvollen kognitiven Dissonanz und bereitet den Weg für einen Ausschluss aus der Kategorie der legitimen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten. Sie öffnet das Tor für menschenunwürdige Verhaltensweisen, was Bauman anhand der Flüchtlingsproblematik aufzeigt.116 Er plädiert für einen Dialog, der zu einem wechselseitigen Verständnis zu führen vermag, in den Worten von Georg Gadamer zu einer «Horizontverschmelzung». Einleuchtend erscheint auch das Bild einer «Distanznahme» von einer Sache, um sie von allen Seiten prüfen und beurteilen zu können.117

Werte ohne Feindbilder

Eine Annäherung an Werte hat primär durch Erkundung ihrer Substanz und nicht durch blosse Abgrenzung gegenüber «Fremdem» zu erfolgen. Es braucht auch keine Feindbilder, um über eigene Werte nachzudenken – die europäische und die schweizerische Geschichte liefern uns genug Anschauungsmaterial dafür, wie um Werte gerungen wurde, wie in mühsamen und schrecklichen Prozessen Frieden, Menschenrechte und Demokratie sowie Religionsfreiheit und säkularer Staat erkämpft werden mussten.

Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit

Das Junktim von Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit prägt das liberale Credo. Beide bilden auch den ersten der sieben Rotkreuzgrundsätze: «Der Mensch ist immer und überall auch Mitmensch.» Die Devise des Roten Kreuzes fordert, so zu handeln, dass der Mensch und der Respekt für die Würde des Menschen im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen. Für Jörg Paul Müller ist menschliche Politik eine Politik ganzer Menschen im Hinblick auf ganze Menschen.118

Aus liberaler Sicht sind Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit auf weitere zentrale Leitwerte angewiesen, auf die nachstehend einzugehen ist. Einzuräumen ist freilich, dass diese Tugenden hohe Anforderungen an die Liberalen selbst aufrichten, wenn sie liberale Werte propagieren und zu leben versuchen. Der liberale Weg ist auch das Ziel. Insofern ist zu wiederholen, dass der Liberalismus aufgegeben und nicht vorgegeben ist.

Bescheidenheit und Demut

Zur Menschlichkeit gehört Demut. Wie auch immer diese verstanden wird, so gehört die realistische Selbsteinschätzung des Menschen in seiner Position in der Welt und seinem begrenzten Erkenntnisvermögen in der Welt dazu. In aller Regel können wir Menschen nur (im besten Fall weiterführende) Ideen und Anstösse vermitteln, wenn wir auf Bewährtem und Überliefertem auf- und weiterbauen, mit Gleichgesinnten kooperieren und aus den Diskussionen mit Andersgesinnten profitieren. Problemlösungen sind oft unspektakulär, langatmig, «sitzungsintensiv», auch mühsam, so wie es der deutsche Soziologe Max Weber umschrieben hat: als «starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmass zugleich».

Odo Marquard hat in überzeugender Weise auf die Unausweichlichkeit von Demut im Umgang mit Politik und Moral wie auch auf die Bescheidenheit hingewiesen, weil wir endliche und mit mancherlei Mängeln bedachte Wesen sind, die «am harten Brot der Wirklichkeit hängen». Er spricht sich für eine Kultur des «unsensationellen» Sinns aus, also gegen die Deckung eines Sinnbedarfs durch das Sensationelle und gegen die Verachtung «kleiner Sinnantworten». Er plädiert für einen Abschied vom Sensationellen, auch vom Unsinn eines Vollkommenheitswahns und von den Perfektionismen, welche «als Sinnvermiesungen im Wesentlichen als Potenzsteigerungsmittel für Jammerpotenzen» wirkten.119

Respekt und Toleranz

«Doch diese Welt muss ohne Toleranz zur Hölle werden», so Friedrich Dürrenmatt.120 Zur Menschlichkeit gehören Respekt und Toleranz anderen Menschen und Haltungen gegenüber, auch und gerade in der Politik. Nach Ronald Dworkin fliessen aus der Menschenwürde die Prinzipien des Selbstrespekts und des Respekts vor anderen.121 Respekt und Toleranz sind untrennbar miteinander verbunden122 und bilden das Fundament des «mitfühlenden Liberalismus», auf den ich später näher eingehe. Toleranz äussert sich in einer bestimmten Einstellung zum Anderen – zu anderen Menschen, ihren individuellen, sozialen, kulturellen Eigenarten, ihren Wertvorstellungen, Meinungen und Weltbildern.123 Die gegenwärtige Tendenz zu menschenverachtenden Sprachgewohnheiten, rüden Attacken, Diskriminierungen, zum «Lächerlich-Machen», zur Ausgrenzung der Gegnerinnen und Gegner und zur bewussten Lüge erachte ich als verheerend, gerade auch für eine halbdirekte Demokratie. Ein menschlicher und mitmenschlicher Umgang ist für eine Demokratie essenziell. Gerade, aber nicht nur im Cyberspace hat sich die Kommunikation enthemmt und radikalisiert. Was nicht der eigenen Vorstellung von Liberalität entspricht, wird als Sozialismus, Planwirtschaft, ja in der Schweiz neuerdings sogar als Diktatur abqualifiziert, ohne Rücksicht «auf Verluste». Denn auf diese Weise werden Gräben aufgerissen, die einem deliberativen Prozess der Verständigung diametral entgegenstehen. Karen Horn betont zu Recht, das Ringen um die Freiheit sei nicht trivial, im liberalen Haus habe es viel Platz, und zum Liberalismus gehöre «eine Haltung der Demut, der intellektuellen wie der menschlichen Offenheit, der Toleranz, des Verzichts auf Übergriffigkeit und des Respekts».124 Ich wandte mich immer gegen die neuerdings im Vormarsch begriffene, irrige Auffassung, in der Politik gehe es nur um Inhalte, der Anstand, die faire Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, seien nebensächlich.

Toleranz125 beruht einerseits auf Offenheit und der Vorläufigkeit aller Erkenntnis und andererseits auf der Anerkennung aller Menschen in ihrer Menschenwürde. Toleranz ist anspruchsvoll, weil eine bestimmte Haltung eigenen Vorstellungen und Werthaltungen widersprechen kann und das als subjektiv richtig Erkannte zu relativieren vermag. Deshalb hatte (und hat) sie es schwer in Glaubensangelegenheiten, wenn Einsichten in das «Wahre» als absolut und abschliessend gelten. Religiöse Konflikte veranschaulichen diese Unversöhnlichkeit bis heute auf dramatische Weise. Toleranz als humanitäres Gebot ist zweifellos Grundvoraussetzung jeder liberalen Demokratie. Liberale Toleranz ist jedoch trotz der etymologischen Herkunft des Begriffs mehr als Gleichgültigkeit, mehr als blosse Duldung oder als ein Gewährenlassen anderer Überzeugungen, Glaubensansichten und weltlichen Haltungen. Denn wer bloss duldet, geht von der Unumstösslichkeit der eigenen Wahrheit aus und neigt dazu, Andere gering zu schätzen.

Entsprechend lehnt Martha Nussbaum den Begriff der Toleranz ab, weil diese eine herablassende Erlaubnis der herrschenden Gruppe und keine Haltung des gleichen Respekts vor Personen und ihrer Freiheit, sich auf ihre eigene Weise auszudrücken, darstelle. Liberale Toleranz bedeutet jedoch Achtung und Schutz eines wichtigen Aspekts der Würde jedes Menschen und ist in der Demokratie eine Vorbedingung einer friedlichen Auseinandersetzung über das, was als Recht gelten soll.126 Sie vermag eigene Anschauungen herauszufordern und zu Reflexionen Anlass zu geben, im Bewusstsein, dass auch Andere recht haben können. Kommunikation mit Anderen stellt unsere einzige Möglichkeit dar, mehrere Leben und dadurch viele Geschichten zu haben; und zwar nicht nur die – simultane – Kommunikation mit gleichzeitigen Anderen, sondern auch die – historische – Kommunikation mit Anderen aus anderen Zeiten und fremden Kulturen.127

Freilich bedeutet Toleranz nicht, dass auf moralische Urteile zu verzichten wäre. Liberale sind im Gegenteil dazu aufgerufen, das sittliche Urteilsvermögen wachzuhalten und auf sittliche Bedingtheiten und Alternativen aufmerksam zu machen.128 Zur Toleranz gehört auch der Mut, zur eigenen Meinung und zu den eigenen Werten zu stehen. Der Tolerante respektiert andere Meinungen und Werte und setzt sich mit ihnen auseinander. Karl Jaspers plädiert für eine «innere Anerkennung des Anderen ohne das Aufdrängen von etwas».129

Grenzen der Toleranz?

Findet Toleranz dort ihre Grenzen, wo sie auf Intoleranz trifft? Wann verdienen Intolerante Toleranz? Die Problemstellung entspricht der Frage nach der Freiheit der Freiheitsfeinde, auf die oben bereits eingegangen worden ist. Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper plädiert dafür, dass im Namen der Toleranz das Recht beansprucht werden darf, die Intoleranz nicht zu tolerieren. Demgegenüber muss es nach John Rawls bloss erlaubt sein, Intolerante in angemessener Weise zu zwingen, die Freiheit der Anderen zu achten. Es gibt in der Tat keinen Grund, die Freiheit der Intoleranten generell zu missachten, wenn die Grundwerte der Verfassung nicht in Gefahr sind.130 Die oft zu hörende Forderung nach «Nulltoleranz», etwa gegen Extremismus oder Drogenmissbrauch, ist gefährlich, weil sie einen jakobinischen Charakter aufweist und in ihrer Absolutheit jegliche Differenzierung vermissen lässt.

Toleranz ist abzugrenzen von der Inzivilität. Der aus dem Französischen stammende Begriff bedeutet Duldung von antisozialen Handlungen und Meinungen, die deutlich von Normen der Zivilgesellschaft oder des gesellschaftlichen Umgangs miteinander abweichen, wie beispielsweise beleidigende Meinungsäusserungen, Pöbelei, Gewaltandrohung oder gar Gewaltanwendung. Inzivile Kommunikation scheint in Online-Kontexten verstärkt aufzutreten und erweist sich vielerorts als drängendes Problem – vor allem in öffentlichen Debatten oder Diskussionen in politischen Organisationen. Wo die Grenzen zwischen Toleranz und Inzivilität verlaufen, mag im Einzelfall nicht einfach zu bestimmen sein. Liberale suchen Wege, um auf antisoziale Aktionen angemessen zu reagieren – durch graduell abgestufte und unterschiedlich ausgeprägte Formen der Bewältigung.131 Falsche Toleranz gegenüber inzivilem Verhalten kann die gesellschaftliche Desintegration fördern, Verzicht auf jegliche Toleranz die Freiheitsidee missachten. Es handelt sich um eine Gratwanderung, auch um einen liberalen Abwägungsprozess.

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