Buch lesen: «Freiheit in der Demokratie», Seite 2

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Unterschiedliche liberale Zugänge in der politischen Praxis

In der praktischen Politik beanspruchen mehrere Parteien, liberales Gedankengut zu vertreten – oft im Dunkeln lassend, was sie unter Freiheit verstehen. Trotzdem wird ein Funktionsverlust liberaler Parteien in Europa festgestellt, was eigentümlich mit der Verwirklichung liberaler Prinzipien in den Gesellschafts- und Rechtsordnungen koinzidiert.20 Innerhalb des liberalen Lagers ist die tradierte Fokussierung auf die Wirtschaftsordnung und die Staatsskepsis aufgebrochen worden – mit der Ausweitung der «Kampfzone» auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen, internationale Herausforderungen sowie auf kulturelle Dimensionen und Zukunftsfragen. Für die Schweiz mögen Immigration, ihr Verhältnis zu Europa und die Klimaveränderung als Beispiele dienen.

Krisenbeschwörung ist im Grunde keine liberale Eigenschaft. Fruchtbarer erscheint mir, unterschiedliche liberale Zugänge anzuerkennen, wenn sie vom Anliegen getragen sind, dass alle Menschen in der Lage sind und nötigenfalls in die Lage versetzt werden, ein grösstmögliches Mass an Freiheit und Selbstbestimmung wahrzunehmen. Sollten Liberale aller Prägungen nicht aufgefordert sein, den offenen Diskurs darüber zu führen, was Freiheit in der Lebenswirklichkeit hic et nunc bedeutet, als dass sie versuchen, die Lufthoheit über andere Auffassungen des Liberalen zu erringen? Die anderen Liberalen als die «falschen» Liberalen zu brandmarken, ist kontraproduktiv.21 Der Liberalismus hat ein einziges übergeordnetes Ziel – diejenigen politischen Bedingungen zu sichern, die für die Ausübung der persönlichen und kommunikativen Freiheit aller notwendig sind.

Ruf nach Erneuerung des Liberalismus

Angesichts dieser Krisendiagnostik erstaunt es nicht, dass der Liberalismus zum Gegenstand fundierter und auch kontroverser Auseinandersetzungen wurde und verschiedene Stimmen zu dessen Erneuerung aufrufen.22 Als prominentes Beispiel sei auf die Vorschläge des englischen Philosophen Timothy Garton Ash verwiesen. Er fordert, dass sich der Liberalismus in Form eines Dreizacks neu erfinden muss. Erstens hat er die traditionellen liberalen Werte und Institutionen zu verteidigen; darunter versteht Garton Ash die freie Rede und die unabhängige Justiz, den Kampf gegen den Populismus und für eine pluralistische Gesellschaft, unabhängige Medien und eine wehrhafte Zivilgesellschaft. Zweitens muss sich der Liberalismus mit dem Versagen dessen auseinandersetzen, was in den letzten dreissig Jahren als Liberalismus durchging: einem eindimensional ökonomischen Liberalismus, im schlimmsten Fall einem «dogmatischen Marktfundamentalismus», der mit der Wirklichkeit so wenig zu tun hat wie die Dogmen des dialektischen Materialismus oder der päpstlichen Unfehlbarkeit. Dieses Versagen hat nach Garton Ash Millionen von Wählerinnen und Wählern zu den Populisten getrieben. Kampf gegen den Populismus heisst auch Kampf gegen seine Ursachen. Und drittens kommt ein erneuerter Liberalismus nicht darum herum, sich mit den globalen Herausforderungen unserer Zeit, wie Klimawandel, Pandemien und dem Aufstieg Chinas, auseinanderzusetzen – und zwar mit liberalen Mitteln. Er muss also zurück- und vorwärts-, nach innen und nach aussen schauen. So die überzeugende Analyse und die weiterführenden Postulate von Garton Ash.23

Elemente eines menschenwürdigen Liberalismus

Im zweiten Teil dieses Bands mit dem Titel «Freiheit gehört auch den Anderen» geht es mir nicht darum, den Liberalismus neu zu definieren, sondern zur Idee eines Liberalismus beizutragen, der auf der Menschenwürde gründet und diese ernst nimmt. Obwohl dies in abstrakter Höhe niemand bestreiten würde,24 steht im praktischen Diskurs in aller Regel die Freiheit derjenigen im Vordergrund, die sie für sich in Anspruch nehmen und gegen staatliche Vorkehrungen verteidigen wollen. In diesem Essay wird demgegenüber im Sinn eines ganzheitlichen Menschenbilds postuliert, dass die Freiheit allen gehört und sie damit auch die Freiheit der Anderen einschliesst – die Freiheit vor allem auch derjenigen Menschen, denen selbstverantwortliches Handeln nicht oder nur beschränkt möglich ist. Diese Freiheitsdimension wird vom «klassischen» Radar des Liberalismus oft nicht erfasst. Die Anderen: Das sind etwa auch Junge, Ältere, Schwache, Flüchtende, Menschen anderer Kulturen oder Menschen künftiger Generationen.

Die Freiheit aller wird als konstitutive Freiheit im Licht der Dogmatik der Freiheitsrechte im demokratischen Verfassungsstaat gedeutet. Denn Geltung, Ausprägungen und Verwirklichung der Freiheitsrechte sind nicht nur massgeblich von liberalen Ideen entwickelt und genährt worden; sie vermögen in einer umgekehrten Sichtweise auch die Diskussion in der politischen Theorie über die liberale Freiheit zu befruchten. Ist es nicht erstaunlich, wie wenig sich philosophische Auseinandersetzungen über den Liberalismus in den letzten Jahrzehnten von den verfassungsrechtlichen Freiheitsverwirklichungen und Freiheitsdebatten befruchten liessen?

Von der liberalen Geisteshaltung

Der menschenwürdige Liberalismus wird nicht nur durch die substanzielle Freiheit im Sinn der Selbstbestimmung aller definiert, sondern auch durch eine liberale Geisteshaltung. Liberale Grundwerte wie Mitmenschlichkeit, Demut, Respekt, Toleranz und Fairness verstehe ich im Sinn eines Kompasses, der die Richtung angibt, aber unterschiedliche Wege offenlässt. Liberale Verantwortung äussert sich nicht nur im Was, in der Sorge um die Freiheit, sondern auch im Wie, im Umgang und in der Methode, wie Freiheit zu bestimmen und Freiheitsbedürfnisse aller aufeinander abzustimmen und bestmöglich zu realisieren sind. Hier manifestiert sich besonders deutlich die tugendethische Fundierung des Liberalismus, seine Wertegebundenheit. Ein besonderes Gewicht lege ich auf die liberale Offenheit und ihre Abgrenzung zum Konservatismus, wobei sich die Grenzen je nach Definition als fliessend erweisen können. Liberale bauen Brücken – auf der Basis von Empathie und als Voraussetzung zur wechselseitigen Verständigung.

Selbstverantwortung und Mitverantwortung

Dass Selbstverantwortung im Fokus jeder liberalen Verantwortungsdiskussion steht, erscheint unbestritten. Eine realitätsbezogene Sicht verkennt aber nicht, dass das unabdingbare Postulat der Selbstverantwortung seine Grenzen kennt. Einmal kann es an der individuellen Bereitschaft fehlen, Verantwortung zu übernehmen. Welche Folgerungen zieht der Liberalismus daraus? Eine der drängenden Fragen besteht zudem darin, zu fragen, welcher Voraussetzungen es bedarf, dass Menschen in der Lage sind oder in die Lage versetzt werden können, Verantwortung effektiv wahrzunehmen.

Mitfühlender, sozialer und nachhaltiger Liberalismus

Dies führt mich zur Mitverantwortung, die zur Selbstverantwortung hinzutreten muss – entgegen dem geläufigen Sprachgebrauch, der meistens nur die Selbstverantwortung anspricht. Die liberale Mitverantwortung wird anhand von drei Dimensionen näher beleuchtet. Der mitfühlende Liberalismus gründet auf der Empathie zu Anderen, während der Einbezug der sozialen Voraussetzungen und Bedingungen autonomer Freiheitsausübung zum sozialen Liberalismus führt. Entsprechend ist von der klassischen Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit abzurücken – zugunsten einer sozialen Freiheit, die sich vom Verständnis einer konstitutiven Freiheit, wie sie dem Verfassungsstaat zugrunde liegt, befruchten lässt. Die Sorge für Mit- und Nachwelt, die Bewahrung von Freiheit und Natur in der Zukunft schliesslich wird mit dem nachhaltigen Liberalismus zum Ausdruck gebracht. Ich erblicke in der Nachhaltigkeit der Freiheit ein grosses Desideratum des Liberalismusdiskurses.

Einer menschenwürdigen Freiheit entspricht – neben der Garantie des Eigentums mit seinen verschiedenen Funktionen – die Idee der sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft, wo der Wettbewerb zur Förderung von Freiheit und Wohlstand aller heute und morgen genutzt werden kann. Der Wettbewerb steht nicht über der Freiheit aller, sondern in deren Dienst. Er findet dort seine Grenzen, wo Freiheitsbedürfnisse nicht mit dem Instrument des Wettbewerbs befriedigt werden können.

Freiheit und Konkordanz

Freiheit ist immer lebenswirkliche Freiheit im Kontext. Freiheit aller führt regelmässig zu Güterabwägungen von Freiheitsbedürfnissen und Freiheitsoptionen; ich nenne sie liberale Binnenkonflikte. Der Liberalismus ist durch das Mass geprägt, weil Freiheitsoptionen auszumessen und gegeneinander abzuwägen sind. Die Güterabwägung erfolgt auf dem Weg einer verhältnismässigen Herstellung von Konkordanz durch demokratisch legitimierte Instanzen in legalen Verfahren, um auf dem weiten Feld der Freiheiten (im Plural) ein Optimum an Freiheit für alle zu gewährleisten. Diese Abwägungsprozesse können komplex sein und grosse Gestaltungsspielräume eröffnen. Oft geht es nur vordergründig um eine Gegenüberstellung von Freiheit und Staat, von privaten und öffentlichen Interessen, denn öffentliche Interessen können auch Schutzinteressen von Privaten mit einschliessen, deren Wahrung dem Gemeinwesen aufgetragen ist. Der Schutz von Autonomie selbst liegt auch im öffentlichen Interesse. Das Konzept der Konkordanz, wie es in der Verfassungslehre entwickelt worden ist, und das Prinzip der Verhältnismässigkeit können die Diskussion um Freiheitsabwägungen befruchten.

Chancengleichheit und Fähigkeitsansatz

Es kann dem Liberalismus nicht um eine Angleichung der Lebensumstände gehen, sondern um die Annäherung an eine Gleichheit der Startbedingungen, um eine Chancengleichheit. Auch deshalb sorgen sich Liberale um eine entsprechende Bildung und Ausbildung aller. Den Fähigkeitsansatz amerikanischer Philosophen erachte ich als weiterführend, um die Lebenschancen aller mit Inhalt zu füllen. Chancengleichheit ist in einem Annäherungsprozess kontextbezogen zu bestimmen. Sie ist mehr Idee und Ziel als feste Grösse.

Keine Freiheit ohne rechtsstaatliche Demokratie

Zur Freiheit gehört essenziell die politische Freiheit. Sie stellt die Kehrseite der persönlichen Freiheit dar. Der Verfassungsstaat wird in erster Linie durch den Schutz der Freiheit aller legitimiert. Dieser Freiheit steht heute nicht der autoritäre Staat gegenüber, der die Liberalismusdiskussion (zu) lange beherrscht hat, sondern der Staat der rechtsstaatlichen Demokratie, der Verfassungsstaat. Die rechtsstaatliche Demokratie wird im internationalen Sprachgebrauch oft als liberale Demokratie bezeichnet. Damit wird das unabdingbare liberale Gedankengut angesprochen, das der Demokratie mit der Geltung von rechtsstaatlichen Essentialen wie den Menschenrechten, dem allgemeinen Wahlrecht, dem Repräsentationsprinzip, der Gewaltenteilung und dem Gesetzmässigkeitsprinzip zugrunde liegt. Doch das Verhältnis der Liberalen zur Demokratie war und ist nicht spannungsfrei. Zwar war die liberale Bewegung des 19. Jahrhunderts vom Glauben getragen, Demokratie sei ein Mittel, ja die Grundlage zur Verwirklichung von Freiheit. Doch viele Liberale taten sich schwer mit dem allgemeinen Wahlrecht und erst recht mit der direkten Demokratie; sie fürchteten Unruhen und den Verlust bürgerlicher Werte. Eine massgebliche Herausforderung für die liberale Idee liegt im Mehrheitsprinzip, das der Demokratie zugrunde liegt. Dieses muss rechtsstaatlich eingegrenzt werden, um Individuen wie Minderheiten zu schützen. Auch wenn Liberale um die konstituierende Funktion von Mehrheitsprinzip und Parlamentarismus sowie – in der Schweiz – um die integrierende Bedeutung von Volksrechten wissen, anerkennen sie deren Schranken im Interesse von Freiheitsrechten und Minderheitenschutz.25 Auch eine Mehrheit kann irren. Vor allem vermag eine Tyrannei der Mehrheit individuelle Freiheit im Kern zu bedrohen. Umso wichtiger erscheint ein unabhängiger Rechtsschutz, der Freiheiten auch gegenüber politischen Entscheidungen des Gesetzgebers und des Volkes abzuschirmen vermag. Deshalb kann ich nicht verstehen, dass sich liberale Politikerinnen und Politiker unter Berufung auf die Volksrechte oder auf das Primat des Parlaments gegen die Einführung einer integralen Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene sträuben.26

Die Fixierung auf das Potenzial einer freiheitsbedrohenden Staatsmacht blendet oft aus, dass Freiheitsgefährdungen auch von privater Macht oder von Naturereignissen ausgehen können. Stehen Schutzpflichten des Staates im Blickwinkel, so ist zu fragen, «welcher» Staat zum Freiheitsschutz Anderer in der Lage ist: Staat ist nicht gleich Staat. Deshalb wende ich mich auch gegen eine illiberale Staatsverteufelung. Der gesellschaftliche Liberalismus wendet sich unter anderem gegen veraltete, diffuse Vorstellungen einer Bürgerlichkeit, die oft mit dem Liberalismus in eins gesetzt werden.

Krisenerscheinungen in der Demokratie

Im dritten Teil «Von den Säulen der Demokratie» geht es um den Versuch, angesichts einer weltweit diagnostizierten Demokratiemüdigkeit, ja einer Krise der liberalen Demokratie bis hin zu deren Verfremdung zu einer «illiberalen Demokratie»,27 Grundelemente der Demokratie in den Fokus zu rücken. Die Globalisierung hat in westlichen Gesellschaften ein Gefühl der Machtlosigkeit hervorgerufen, das zu Ressentiments und Schuldzuweisungen führt. Die Schuld an dieser Entwicklung wird wahlweise den Immigrierten, den Musliminnen und Muslimen, anderen Ethnien oder den kulturellen Eliten zugewiesen. Negative Auswirkungen der Globalisierung werden als essenzielle Bedrohung wahrgenommen. Dazu zählen neben der Migration auch die Suche nach einer verlorenen Identität sowie das Spannungsverhältnis zwischen einem Verlust an nationalstaatlicher Souveränität und einer parallel dazu schwindenden nationalstaatlichen Problemlösungsfähigkeit. Darauf gehe ich in meiner Studie über den Nationalstaat im vierten Teil dieses Bands näher ein.

Carlo Strenger verdanken wir eine schonungslose Analyse der liberalen Demokratie und deren Krise. Er geht vom dominanten Konflikt zwischen Liberalismus und Autoritarismus und damit zusammenhängend zwischen Universalismus und Nationalismus aus.28 Ängste29 und Verunsicherungen aufgrund von Globalisierung, Zukunftsunsicherheit, Identitätsverlust und Migration werden von rechtspopulistischen Demagogen instrumentalisiert. Ein Kennzeichen rechtspopulistischer Führer ist ihre Schamlosigkeit, sind Lügen und die Verletzung von Regeln des Anstands.30 Die grösste Gefahr für die Demokratie geht nach Strenger vom «Sturmangriff» auf die Wahrheit aus.31

Das Feindbild der populistischen Führer sind die «abgehobenen» liberalen kosmopolitischen Eliten, welche die «historische Einheit» von Volk, Sprache und Staatsgebiet auflösen wollen. Eliten werden für den Verlust der Arbeitsplätze verantwortlich gemacht. Doch es ist nicht die Migration, sondern der wirtschaftliche Umbruch (wie Outsourcing oder Automatisierung), der zum Verlust der Arbeitsplätze führt. Diese an sich unentbehrlichen Eliten bringen den Anderen wenig Achtung entgegen, ja sie stempeln diese oft als rückständig und provinziell ab. Kultur- und Identitätsfragen spielen nach dieser Auffassung eine bedeutend grössere Rolle als die «Vernachlässigung» wirtschaftlich benachteiligter Klassen. Der populistische Nationalismus hat vielen Angehörigen sozioökonomisch schwächerer Schichten eine Stimme und ihren Stolz zurückgebracht. Diese hassen nun die Elite (Upward Contempt). Die kosmopolitischen Eliten sind in die Pflicht zu nehmen, weil kein Nationalstaat in der Lage ist, globale Herausforderungen wie Migration, Klima oder Terrorismus zu bewältigen.

Strenger plädiert für einen «klassischen» Liberalismus im Sinn der offenen Gesellschaft von Karl Popper, in der die Bürgerinnen und Bürger in Freiheit und Würde die öffentlichen Angelegenheiten «halbwegs rational» verwalten, mit Pressefreiheit, Forschungsfreiheit und unabhängiger Justiz, und in der es gilt, eine Tyrannei der Mehrheit zu verhindern.

Anne Applebaum geht der Frage nach, warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Eine wichtige Rolle spielt nach ihrer Auffassung der von rechtsextremen nostalgischen Visionen eingefangene Wunsch, eine vermeintlich verlorene Heimat wiederaufzubauen. Sozialen Medien und Verschwörungstheorien kommt dabei eine grosse Bedeutung zu.32

Zum Wandel der demokratischen Öffentlichkeit

Eine der grossen Herausforderungen der liberalen Demokratie stellt der Strukturwandel der Öffentlichkeit dar. Im Essay über die Freiheit (im zweiten Teil) versuche ich, Erscheinungen dieses Wandels, welche die Freiheit in der kommunikativen Öffentlichkeit bedrängen und gefährden, zu beleuchten. Die moderne Kommunikationstechnologie weist neben ihren unbestreitbaren Vorteilen mit dem Effekt der Echokammern auch gravierende Gefahren für die Demokratie auf, denn viele Individuen nutzen nur noch jene Sender, Kanäle und Websites, auf deren politischen Linie sie ohnehin bereits sind. Andersdenkende werden dämonisiert. Die Aufmerksamkeitsökonomie prämiert jene Stimmen, die mit provokanten Zitaten und Tweets aufwarten und die Gegenseite besonders aggressiv kritisieren, was zu einem eigentlichen Kulturkrieg führen kann. Das politische Klima wird von einer prekären Debattenkultur geprägt, was ich anhand von Cancel Culture und der politischen Korrektheit sowie der umstrittenen Identitätspolitik zu vertiefen suche. Liberale lassen sich in diesen Debatten nicht vereinnahmen, sondern setzen sich für eine grösstmögliche freie und offene Dialogkultur ein.

Repräsentationskrise

In einzelnen Demokratien ist der Respekt vor Andersdenkenden erodiert. Es ist ein Vertrauensverlust in grundlegende demokratische Mechanismen festzustellen, etwa in das Ergebnis von Wahlen und in repräsentative Entscheidungen, in eine für jede Demokratie essenzielle Kompromissbereitschaft sowie in demokratietypische langwierige Verfahren im Interesse einer deliberativen Rationalität. So fühlt sich ein beträchtlicher, aber schwer bezifferbarer Teil des Volkes von den gewählten Behörden nicht mehr vertreten. Diese heterogenen Bevölkerungsgruppen finden sich in ihrer generellen Ablehnung einer erweiterten Staatsmacht zusammen; sie sprengen die politische Links-rechts-Typologie. Denn sowohl «rechte» Querdenker und Ultraliberale sind hier anzusiedeln wie auch Linke, die jeglicher «Überwachung» durch den Staat abhold sind. Und Gleichgültige, die sich ihre «Alltagsfreiheit» (etwa die Durchführung von Partys oder den Verzicht des Maskentragens) nicht nehmen wollen. Die fortschreitende Dominanz elektronischer Kommunikation im Alltag hat den kollektiven Eindruck weiter intensiviert, nicht vertreten zu sein. Statt mehr Teilhabe an der politischen Öffentlichkeit ist mit den elektronischen Medien und ihren Echokammern mehr Absonderung und Einsamkeit eingetreten, was wiederum dem Populismus dienlich ist.33 Für die repräsentative Demokratie stellt es eine grosse Herausforderung dar, wie es gelingen kann, dass alle Schichten in der Politik repräsentiert werden. Direktdemokratische Elemente können, je nach Kultur und Entwicklungsstand, diesen Prozess unterstützen. Vor allem aber stellt sich – nicht nur, aber vor allem – in parlamentarischen Demokratien die Frage, ob institutionelle Veränderungen die Krise der Repräsentation zu beheben oder zu mildern vermögen. Müssten sich Liberale nicht an vorderster Front für solche Anliegen engagieren?

Der Aufsatz «Von den Säulen der Demokratie» geht auf die Repräsentationsproblematik sowie auf weitere Kernelemente der Demokratie ein. Das Volk der Demokratie ist nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. Es bedarf auch in der Schweiz mit ihren Volksrechten der Repräsentation, einer doppelten sogar. Denn die jeweils entscheidende Volksmehrheit bei einer Abstimmung über Sachvorlagen stellt bloss eine Minderheit des Volkes dar. Diese «repräsentiert» somit das ganze Volk. Zudem und vor allem sind repräsentative Institutionen und eine unabhängige Justiz für jede Demokratie essenziell, was im Politalltag einer aktiven und von Bewegungen aller Art geprägten Zivilgesellschaft – jedenfalls in der Schweiz – oft ausgeblendet wird. Das Mehrheitsprinzip muss seine Grenzen an freiheitlichen Grundwerten finden. Minderheiten sind zu respektieren. Ein Blick auf den gegenwärtigen Initiativenbetrieb zeigt problematische Tendenzen für die rechtsstaatliche Demokratie auf.

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