Der Preis der Freiheit

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Der Preis der Freiheit
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Der Preis Der Freiheit

Von Renate Witte

Danksagung

Ich danke Wulf Loenicker und Marcus Brauer für die Hilfe an der Fertigstellung meines Buches.

Der Preis der Freiheit

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2002 Renate Witte

Email: reniwitte@yahoo.com

Web: www.renatewitte.com

Autor Foto, Titelseite und Cover Design © Rudi Weislein – alle Rechte vorbehalten. Buchgestaltung – Marcus Brauer

Originalausgabe 2002

Prolog

Der Parkplatz ist leer und das alte historische Restaurant steht völlig verlassen. Die Fenster sind zum Teil mit Brettern vernagelt, aber an der braunen verwitterten Außenfront sieht man immer noch das große helle Schild mit den aus Holz geschnittenen Buchstaben "EDELWEISS GERMAN RESTAURANT".

Obwohl jetzt einsam und verlassen, ist es doch eine stolze Erinnerung an die Vergangenheit. Der warme Wüstenwind, der um das verlassene Gebäude weht, ist der gleiche geblieben. Er bringt die Erinnerung an das erste Oktoberfest 1982 zurück. Das frohe Lachen der Gäste, die zum ersten Mal in Palmdale deutsche Musik hörten und die deutsche Gemütlichkeit erleben konnten.

Ich erinnere mich, dass ich 1991 vor diesem Schild gestanden habe. Damals überreichte ich dem Bürgermeister von Palmdale "Pete" Knight, der später unser Senator in Sacramento wurde, in Anwesenheit der Presse ein Stück der Berliner Mauer. Diese Gabe kann man noch heute als ein Symbol des Friedens und der Freiheit im Rathaus der Stadt Palmdale besichtigen. Es sind nur die Erinnerungen geblieben und bald wird das historische Gebäude, das älteste Restaurant in dieser Gegend, dem Abriss zum Opfer fallen.

Vor mehr als zwanzig Jahren, während eines Urlaubs mit meinem Lebensgefährten und späteren Ehemann, haben wir uns entschlossen, in der Wüste von Südkalifornien, der Ort hieß Palmdale, ein deutsches Restaurant zu eröffnen. Ich hatte keine Ahnung was auf uns zukam. Ich war erfolgreich als Aufnahmeleiterin beim Film, mein Lebensgefährte war ein bekannter Rechtsanwalt in Berlin. Wir kochten beide gerne, aber wir hatten keine Ahnung wie man ein Restaurant leitet. Wir nahmen die Herausforderung an und bauten ein erfolgreiches Geschäft auf, das 16 Jahre lang all unsere Kraft in Anspruch nahm.

Das alte Gebäude ist nun eine Erinnerung dieses Abschnittes unseres Lebens. Es bezeichnet den dramatischen Anfang meines Lebens in Amerika. Einem Land, das während meiner Kindheit immer in meinen Träumen war, als ich noch in Ostdeutschland lebte. Ein völlig neues Leben zu beginnen, ohne die Landessprache zu beherrschen und ein Restaurant zu eröffnen, ohne zu ahnen, worauf ich mich einließ, war jedoch einfach. Besonders wenn man es vergleicht mit den Opfern, die ich bereits erbracht hatte und den Preis, den ich zahlen musste, um in der Freiheit zu leben.

All das begann vor langer Zeit, als ich alles zurückließ, was ich einst besaß, meine Familie, mein Heim, meine Freunde und das größte Opfer von Allem, meine vierzehnjährige Tochter um im Kofferraum eines Autos die Mauer zu überwinden.

Der Preiss der Freiheit war nicht nur durch den Verlust aller dieser Güter bestimmt, die ich einst besaß, sondern mehr noch durch die Entscheidungen, die ich zu treffen hatte, um außerhalb der Mauer in Freiheit zu leben.

Dies ist meine Geschichte.

Teil I

Leben hinter der Mauer

[1940-1976]

Kapitel Eins

Ich war das jüngste Kind in meiner Familie, geboren 1940. Meine Schwester Eva Maria 1937 und mein Bruder Ulrich 1939 geboren. Unsere Familie lebte in Potsdam-Babelsberg östlich von Berlin. Mein Vater wurde Anfang des Krieges eingezogen. Meine Mutter sorgte für mich und meine Geschwister.

Meine frühen Kindheitserinnerungen gehen bis 1944 zurück. Obwohl ich nur vier Jahre alt war, haben sich diese Ereignisse tief in meine Seele eingeprägt. Selbst in diesem frühen Alter erkannte ich, dass der Krieg meine kleine Welt veränderte und die Bequemlichkeiten und die Sicherheit, die ich vorher fühlte, waren mir durch den Krieg genommen worden.

Wenn wir die Sirenen hörten, rannten wir ohne zu zögern los und suchten Schutz im Luftschutzkeller. Manchmal während der schweren Luftangriffe auf Potsdam mussten wir Tag und Nacht im Keller bleiben. Ich erinnere mich, wie meine Mutter Decken über uns legte, um uns vor dem Lärm der fallenden Bomben zu schützen. Meine Mutter betete mit uns, solange bis wir die Entwarnung hörten und den Luftschutzkeller verlassen konnten. Sie kam durch die vielen Bombenangriffe niemals zum Ausruhen oder zum Schlafen und war sehr entkräftet. Bei einem dieser Bombenangriffe wollte sie in ihrem Bett liegen bleiben und meine Schwester Eva Maria überredete sie zum Aufstehen, um in den Luftschutzkeller zu gehen. Sie schaffte es und in der Nacht landete ein Blindgänger in ihrem Bett. Wir hatten Glück, dass die Bombe nicht explodierte, aber wir durften unsere Wohnung nicht mehr betreten, bis die Bombe entschärft wurde. An der Tür unserer Wohnung wurde ein Schild angebracht mit der Aufschrift:“ Eintritt verboten Explosionsgefahr“. Trotz dieser Warnung sind fremde Leute in unsere Wohnung eingedrungen und hatten sie ausgeraubt und fast leer zurückgelassen. Es wurde nahezu die ganze Wohnung ausgeräumt und wir waren völlig ohne Nahrungsmittel. Sogar meine kleine Puppe, die ich so von Herzen liebte, hatte man mitgenommen. Wir weinten bitterlich und kuschelten uns an unsere Mutter und fühlten ihre Wärme, die uns beruhigte. Durch die vielen Bombenangriffe wurde ich zum Bettnässer und für meine Mutter war es sehr schwer, mein Bett sauber und trocken zu halten, weil es kein Seifenpulver gab. Mein Bruder war immer sehr um mich besorgt. In den Nächten weckte er mich um mit mir zur Toilette zu gehen, dass ich nicht ins Bett machte. Er selbst litt unter Asthma mit schweren Anfällen. Manchmal hatten wir große Angst, dass er stirbt, denn es gab keine Medikamente und keine Inhalationsgeräte. Seine Lippen waren oft blau und dann fing ich an zu weinen, weil ich fühlte, dass es schlimm um ihn stand. Ich betete jede Nacht, dass der liebe Gott ihm hilft und dass er nicht stirbt.

In der Nachbarschaft hatte meine Mutter Freundschaft mit einer jüdischen Familie, Käthe Heilbronn mit Ehemann und ihrer Tochter Ruth, geschlossen. Es wurden gute Freunde für uns, die mit uns Hunger und Leid teilten. Ich erinnere mich, dass ich sehr oft zu ihnen ging, weil ich hungrig war. Immer hatten sie eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken für mich und in meiner kleinen Welt verstand ich überhaupt nicht, warum es kein Essen gab. Käthes Mann wurde von der SS abgeholt und in das sogenannte Lager 57 nach Großbeeren gebracht, wo niemand überlebte. Ich hörte oft Gespräche zwischen Käthe, Ruth und meiner Mutter, was passiert war. Man hatte Käthes Ehemann brutal geschlagen, verhaftetet und danach ins Lager gebracht. Von dort kam er nicht mehr zurück. Ruth wurde auf der Straße beschimpft, weil sie jüdisch war. Diese Misshandlungen konnte ich nicht verstehen, weil ich zu jung war. Wochen später fand sie mit Hilfe eines SS Mannes, der dort im Lager arbeitete, das Grab ihres Vaters.

Im Nachbarhaus von Käthe und Ruth wohnte ein Hitleranhänger, der ihnen das Leben sehr schwer machte. Er wollte, dass sie verschwinden und ich war froh, dass dies nicht geschah. In meiner kleinen Welt waren sie zwei Hauptpersonen und ich hatte sie sehr lieb. Später erfuhr ich, dass der gleiche Nachbar ein großer Anhänger der Kommunistischen Partei in der DDR geworden war.

Potsdam wurde durch den Bombenregen fast zerstört und im April 1945 von der russischen Armee besetzt. Der Krieg endete im Mai 1945 und Potsdam-Babelsberg wurde russische Besatzungszone.

Wir mussten miterleben, dass Deutsche ihre Mitbürger denunzierten, um ihre eigene Haut zu retten. Eine Frau aus unserer Nachbarschaft bezichtigte meine Mutter, eine Spionin zu sein. Sie führte eine Gruppe russischer Soldaten in unsere Wohnung, dass sie meine Mutter verhaften konnten. Ihr Beweis, dass sie eine Agentin war, ergab sich angeblich daraus, dass meine Mutter die polnische und russische Sprache beherrschte. Wir Kinder konnten nicht verstehen, was vor sich ging. Als die Soldaten meine Mutter mitnehmen wollten um sie zu erschießen, sprang meine ältere Schwester Eva Maria zwischen meine Mutter und dem Soldaten, der seine Waffe auf sie gerichtet hatte. Mein Bruder und ich hatten sie umklammert und weinten bitterlich. Russen sind für ihre Kinderliebe bekannt und der kommandierende Offizier griff ein und gab den Befehl, nicht zu schießen. Die Kinderliebe des Offiziers rettete das Leben meiner Mutter. Sie musste dafür bitter bezahlen, da der Offizier sie vergewaltigte. Meine Mutter war seelisch und moralisch zerstört und wollte nicht mehr leben. Sie ging zur Havel, die nicht weit vom Haus entfernt war, um Selbstmord zu begehen, da sie nicht schwimmen konnte. Viele Frauen, die vergewaltigt wurden, haben sich in dieser Zeit umgebracht. Ich fragte Eva und Ruth, was vor sich geht, sie versuchten es mir zu erklären, aber ich verstand es nicht. Ich fühlte nur, dass unter den Menschen Böses passierte. Ruth und Eva fanden meine Mutter sitzend an der Havel. Sie brachten sie zurück. Mit der Hilfe von Ruth und uns Kindern schaffte sie es stark zu werden.

Der Hunger nahm kein Ende und wir sammelten im Park Babelsberg Brennnesseln und meine Mutter kochte daraus Spinat. Eva Maria kochte Kartoffelschalen, die wir mit Heißhunger verschlangen. Unsere Mutter wurde immer dünner, weil sie uns ihr Essen gab. Sie nahm den einzigen Schmuck ihrer Mutter und tauschte ihn bei den Bauern für ein paar Kartoffeln oder einen Kanten Brot ein, dass wir nicht verhungerten. Ich fand es später sehr ungerecht, dass die Bauern in dieser harten Zeit die Situation ausnutzten und den Menschen ihr letztes Stück, das sie liebten, nahmen. Meine Familie überlebte und das Leben stellte weitere schwere Aufgaben an meine Mutter.

 

Um Brot für uns zu bekommen, meldete sie sich bei den Russen. Sie bekam eine Arbeit, Kohlen vom Lastwagen zu entladen. Da sie keine Handschuhe hatte, musste sie mit bloßen Händen arbeiten. Wenn sie nach Hause kam, hatte sie Blasen und große Risse an den Händen. Meine Schwester behandelte sie mit gekochter Kamille, indem sie die Hände darin badete. Wir Kinder waren glücklich, denn unsere Mutti brachte für jeden von uns ein Stück Brot mit. An einem dieser Tage, an dem sie Kohlen ablud, sprach sie ein russischer Major an, warum sie diese Arbeit täte. Sie erzählte ihm, dass sie drei Kinder hätte, die immer hungrig seien. Er wollte wissen ob sie kochen könnte und meine Mutter bejahte. Dieser russische Major war aus der Ukraine. Er hatte zwei eigene Kinder und zwei deutsche Kinder, die er an den Straßen in den Trümmern gefunden hatte und mit nach Haus nahm. Meine Mutter kochte für diese Familie und brachte alle ihre Speisereste mit nach Hause. Das war in dieser Zeit für uns ein großes Geschenk. Sie teilte mit Käthe und Ruth. Das war für sie eine Selbstverständlichkeit. In dieser Zeit, während meine Mutter arbeitete, behütete uns meine Schwester Eva. Sie übernahm die Aufgaben unserer Mutter und das war bestimmt sehr schwer für sie, denn wir waren nicht immer artig. Wir machten ihr das Leben oft schwer, aber im Grunde des Herzens hatten wir sie lieb. Einmal im Monat wurden Lebensmittelkarten für die Versorgung ausgegeben. Es war nicht viel, aber die Menschen waren nicht unzufrieden. Kinderreiche Familien mussten die Lebensmittelkarten einteilen für den ganzen Monat. Wir waren damit zufrieden, weil wir wenigstens die Grundnahrungsmittel erhielten. Ich erinnere mich, dass es in der Wohnung kalt war, da wir kein Holz und keine Kohle zum Heizen der Öfen hatten. Wir versuchten unserer Mutter eine Freude zu machen und suchten im Park von Babelsberg Reisig, um einen Ofen zu heizen, dass sie sich wärmen konnte, wenn sie nach Haus kam. Es sollte eine Überraschung sein. Es war kein Licht in der Wohnung als wir Papier zum Anheizen suchten. Wir fanden eine Zeitung die wir benutzten um Feuer zu machen Dabei übersahen wir die Lebensmittelkarten und verbrannten sie. Meine Mutter kam nach Hause und wir freuten uns, dass wir sie mit einem warmen Zimmer überraschten. Sie lehrte uns als Kinder nie mit Feuer zu spielen und wir standen ein wenig schuldbewusst und schauten sie an. Sie ahnte Fürchterliches und suchte nach den Lebensmittelkarten, die nicht mehr vorhanden waren. Sie war entsetzt und wir weinten mit ihr bitterlich und beteten, dass unser Vater bald nach Hause kommen würde, dass sie alle Sorgen nicht mehr allein tragen musste. Der russische Major half uns in diesem Monat wieder mit Essensresten aus, aber wenige Wochen später wurde er nach Russland mit seiner Familie abgezogen. Wir haben später versucht ihn zu suchen, aber leider ist es uns nicht gelungen ihn zu finden. Der Krieg war zu Ende und meine Mutter hörte nichts von unserem Vater. Sie wusste nur, dass er in verschiedenen Gefangenschaften gelandet war. Ich fragte meine Schwester über ihn aus und sie erzählte, wie ein alter Seemann, Geschichten über ihn. Meine Mutter war nicht zu Hause, als es klingelte an unserer Wohnungstür. Ich machte die Tür einen kleinen Spalt auf und sah einen fremden Mann stehen, der einen Seesack auf dem Rücken trug. Er schaute mich an, lächelte und ich schloss die Tür. Mein Bruder ging ebenso zur Tür und öffnete sie und der fremde Mann stand immer noch dort. Mein Bruder erklärte ihm, dass meine Mutter nicht zu Hause ist und wir dürfen keine fremden Menschen in unsere Wohnung lassen. Er wollte die Tür schließen als meine Schwester Eva angelaufen kam. Sie riss die Tür auf und umarmte den fremden Mann, es war unser Vater. Er nahm mich an die Hand, ebenso meinen Bruder. Ich schaute ihn an und konnte nicht fassen, warum ich meinen Vater nicht kannte. Ich war sehr misstrauisch, aber als er in der Küche die schönen Dinge, wie Honig, Butter, Brot, Mehl und Wolle aus seinem Seesack hervorholte, war kein Misstrauen mehr da. Wir landeten auf seinem Schoss und sprachen kein Wort und er drückte uns immer wieder. Was mir auffiel, waren seine großen Hände. Eva fing an alle schönen Dinge und Esswaren zu ordnen und vor Aufregung konnten wir nichts essen. Meine Mutter kam nach Hause, und die Freude war groß. Ich sah meine Mutter vorher noch nie mit einem so glücklichen Gesicht. Wir hatten in den letzten Jahren die Fröhlichkeit vergessen und so zog sie mit meinem Vater wieder ein. Mein Vater war immer fröhlich und guter Dinge und das half meiner Mutter sehr. In der Nacht nähte sie für uns Kleidung aus Stoffresten und strickte aus Wollresten Socken für uns.

Um Geld für unsere Ernährung aufzubringen meldete sich mein Vater im Kohlenbergbau Schwarze Pumpe, um dort zu arbeiten. Er musste unter der Erde arbeiten. Die Arbeit war schwer und gefährlich, aber er hatte eine Familie, die ernährt werden musste. Trotz der schweren Zeit fingen wir an, Kinderspiele zu entwickeln. Mein Bruder machte aus einem Stück Seil ein Springseil für mich. Wir hatten sehr viel Freude mit einfachen Gegenständen zu spielen. Wir hörten keine Bomben und das änderte unser ganzes Verhalten. Eva ging schon zur Schule und vermittelte uns das Lernen. Die ersten Schuljahre waren für uns sehr schwer. Das Lernen machte uns große Schwierigkeiten. Wir hatten in den Kriegsjahren das Spielen vermisst und so zog es uns immer in den Park von Babelsberg um zu spielen, statt Schulaufgaben zu machen. Eva passte auf, dass wir lesen und schreiben lernten. Mein Bruder hatte immer noch seine Asthmaanfälle und der Arzt befürwortete einen Wohnungswechsel. Mein Bettnässen verbesserte sich und so beschlossen meine Eltern nach Kleinmachnow zu ziehen. Wir mussten uns von Ruth, Käthe und Hans, der Ruth nach dem Krieg heiratete, verabschieden. Sie hatten uns so lieb, als wären wir ihre eigenen Kinder. Wir waren sehr traurig und trösteten uns damit, dass wir nicht so weit voneinander entfernt waren, um sie wiederzusehen. Meine Eltern übernahmen eine Bäckerei. Die Besitzerin der Bäckerei zog nach West-Berlin und der damalige Staat machte eine staatliche Einrichtung daraus, dass nannte sich Konsumgenossenschaft. Der Gewinn wurde abgeführt an den Staat. In der Bäckerei befand sich eine große Wohnung, die wir bezogen. Wir übernahmen von der Vorgängerin Hühner, sowie einen Hund. Mit den Tieren waren wir sehr glücklich. Außerdem schenkte uns unser Vater ein altes Fahrrad mit dem wir ständig unterwegs waren. Manchmal mussten wir in der Bäckerei helfen und das taten wir nicht so gern. Aber wir hatten auch Pflichten zu erfüllen gegenüber unseren Eltern. Mein Bruder wurde wegen seiner Asthmaanfälle, die sich aber durch den Wohnungswechsel linderten, einmal im Jahr zur Kur geschickt. Er lernte dort Schach spielen und so lernte ich es von ihm. Er gewann meistens und ich wünschte mir sehnsüchtig, dass ich einmal das Erfolgserlebnis habe, ihn Schach matt zu setzen. Die Schule und auch die Lehrer in Kleinmachnow haben uns sehr gut gefallen und wir lernten gut durch die vielen Aktivitäten, an denen wir teilnahmen. Meine Schwester Eva war eine gute Schwimmerin geworden und ich war sehr stolz, dass sie Urkunden und Preise nach Hause brachte. Ich fand es toll und war stolz, so eine Schwester zu haben. Bei den Schwimmmeisterschaften war ich sehr oft dabei und fieberte, dass sie gewinnt. Mein Bruder bastelte sehr viel an technischen Dingen. Er fing an, kleine Gegenstände, die entzwei waren, wieder herzustellen. Mein Mathematiklehrer gründete einen Schachclub, in den ich eintrat und sehr viel lernte. Meinem Bruder erzählte ich es nicht und so forderte ich ihn eines Tages heraus, mit mir Schach zu spielen. Ich gewann und war glücklich und lernte weiter. Mit viel Fleiß wurde ich gut und wurde später von der Schule zu Schachturnieren geschickt. Ich gewann Schachspiele erst auf der städtischen Ebene und auch im Bezirk, dadurch wurde ich für den Staat interessant. Diese Aktivität rettete mich auch vor den anderen politischen Programmen, an denen ich normalerweise hätte teilnehmen müssen. So jung wie ich war, weigerte ich mich, die kommunistische Ideologie zu übernehmen. Ich erinnere mich, wie unsere Schule bei einer Gedenkfeier für Stalin in Schweigen verharrte und einige Jahre später war es nicht mehr erlaubt, nur seinen Namen zu erwähnen. Das war für mich völlig unverständlich, aber niemand war bereit, mir meine Fragen ehrlich zu beantworten. Im Alter von 14 Jahren durfte ich bereits zu den ganz großen Schachturnieren auf Landesebene fahren. Ich wurde von meinem Mathematiklehrer begleitet, der auch mein Trainer war. All das kam zu einem plötzlichen Halt, als ich an Rheuma erkrankte und für ein Jahr an den Rollstuhl gefesselt war. In dieser Zeit war ich sehr ungerecht und unzufrieden mit meinem Leben. Ich saß am Fenster im Rollstuhl und sah die Kinder spielen und die Menschen liefen umher und meine Wünsche waren keine materiellen Dinge, sondern ich bat den lieben Gott, mir meine Laufkraft wieder zu geben. Nach vielen Behandlungen wurden mir die Mandeln entfernt, dabei unglücklicher Weise durch einen ärztlichen Fehler auch das Zäpfchen. Die Sprache und das Laufen mussten wieder erlernt werden.

Ich konnte in dieser Zeit nur selten am Schulunterricht teilnehmen und fiel weit zurück. Als ich wieder in der Lage war am Unterricht teilzunehmen zu können, hatte ich fast ein ganzes Jahr nachzuholen. Trotz meiner Schachaktivitäten wollte man mich zwingen in die FDJ, das war eine Jugendorganisation der kommunistischen Partei, einzutreten. Ich weigerte mich, was mir Nachteile einbrachte, weil ich von vielen Aktivitäten ausgeschlossen wurde, durfte jedoch weiter Schach spielen. Außerdem hatte ich mich durch meine Schule einer Laienspielgruppe angeschlossen, und das nahm fast meine ganze Freizeit in Anspruch und half mir, das politische System ein bisschen zu vergessen. Mein Bruder sparte sich von seinem Taschengeld ein Rennfahrrad zusammen und fuhr damit viele Kilometer und so verbesserte sich sein Asthma und er wurde gesund. Er fing an am Boxunterricht teilzunehmen, darüber waren meine Eltern nicht sehr glücklich und verboten ihm, diese Sportart weiter auszuüben. Er bat sie ihre Entscheidung zu ändern und sie taten es, indem sie ihm erlaubten weiter am Boxunterricht teilzunehmen. Ich war 16 Jahre alt, als ich die Schule beendete. Wir hatten eine große Abschlussfeier in der Schule. Mein Vater war sehr genau mit der Uhrzeit und bestimmte, dass ich spätestens um Mitternacht vom Schulfest nach Hause kam. Ich verpasste den letzten Bus, die Bushaltestelle war direkt vor unserer Haustür. Einige meiner Klassenkameraden wollten mich begleiten, aber ich wollte nicht, dass sie meinetwegen die Feier verließen. Ich lief in der Mitte von der Straße, dort fühlte ich mich sicherer und konnte die Gegend besser überblicken. Die rechte Straßenseite war bewaldet. Auf der anderen Straßenseite brannte in den Häusern noch Licht. Ich hatte von meiner Schwester die ersten Stöckelschuhe an und konnte auf dem Straßenpflaster nicht gut laufen. Es war sehr dunkel, denn in dieser Gegend brannten nicht viele Straßenlaternen. Ich war sehr nervös und hatte das Gefühl, dass mich jemand verfolgte, aber ich sah niemanden. Ich schaute mich immer um, ob jemand in meiner Nähe war. Mir wurde so heiß, als wenn man mich mit heißem Wasser übergossen hätte und ich lief in Panik so schnell, dass ich die Schuhe ausziehen musste und in meinen Händen trug. Ich sah in der Weite ein Auto ankommen und musste die Straße verlassen, da ich Angst hatte, dass man mich überfährt. Unser Haus war 5OO Meter von mir entfernt, dadurch empfand ich mehr Sicherheit. Ich drehte ich mich um, weil ich fühlte, ich war nicht allein. Ich wechselte die Straße zum Seitenweg, wobei ich an mehreren dicken Bäumen vorbei musste. Ich stoppte und fühlte wieder die Hitze, die mein Körper fast verbrannte. Wollte mich umdrehen, dabei verspürte ich einen Schmerz auf meinen Kopf und fiel mit dem Gesicht auf die Straße, was sehr viele Schmerzen verursache. Mein Peiniger trat mir mit seinen Schuhen ins Gesicht. Ich verlor für einen Augenblick die Besinnung. Als ich zu mir kam, zog mich mein Peiniger an meinen Füssen zum Wald hin. In diesem Moment sah ich ein helles Licht und vor mir schwebte ein Engel in einem langen weißen Kleid. Dieser Engel hatte ein schönes Gesicht mit langem blondem Haar und sprach zu mir: „Steh auf, deine Zeit zu sterben ist noch nicht gekommen!“ Es war eine wunderbare Stimme, die sich wiederholte. Ich bekam so viel Kraft in mir, das ich versuchte, meinem Peiniger zu entkommen. Ich schlug um mich, fing an zu schreien und fühlte, wie sein Griff sich lockerte und ich krabbelte auf dem Weg weiter, weil ich plötzlich in meiner Todesangst ein Licht sah. Das Auto, das ich vorher gesehen hatte, gehörte einem Nachbarn Dr. G., der zu seiner Garagenauffahrt fuhr, und das Außenlicht an seinem Haus einschaltete. Er war ungefähr 1OO Meter von mir entfernt und hörte mein Schreien. Ohne zu erkennen um was es ging lief er in meine Richtung, wusste aber nicht, dass jemand Hilfe brauchte. Ich kroch wie ein Tier auf der Erde weiter, um Hilfe zu haben. Ich muss furchtbar ausgesehen haben, denn mein Gesicht war voller Blut ebenso mein Haar und meine Kleidung. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen und gab ihm meinen Namen. Ich fühlte seine Nähe und dann verlor ich das Bewusstsein. Im Krankenhaus kam ich zu mir und Dr. G stand an meinem Bett. Ich wurde in den Operationssaal gefahren, wo man eine Bluttransfusion vorbereitete und dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich aufwachte, waren mein Bruder und meine Mutter an meinem Krankenbett. Meine Mutter erzählte mir, dass sie um Mitternacht aufgewacht sei und in mein Zimmer geschaut habe. Als sie mich nicht vorfand, habe sie meinen Vater geweckt, der sie jedoch beruhigte und sagte, sie solle sich wieder hinlegen. Sie habe jedoch entgegnet, dass unser Kind immer pünktlich nach Hause gekommen sei und ihr das Gefühl sagt, dass etwas passiert war. Sie konnte nicht mehr einschlafen, und lief voller Unruhe in ihrer Wohnung umher. Das Krankenhaus konnte meine Eltern über den Unfall nicht unterrichten, da mein Vater das Telefon abgestellt hatte, um Ruhe zu haben, ohne es meiner Mutter mitzuteilen. Am nächsten Morgen klingelte eine Krankenschwester am Haus meiner Eltern um ihnen die Nachricht des Unfalls zu übermitteln. Ich konnte der Erzählung meiner Mutter nicht folgen, da ich noch unter Narkose stand. Als ich aufwachte fühlte ich einen Kopfverband, ebenso war mein Gesicht verbunden, wobei nur ein Auge frei war, mit dem ich etwas sehen konnte. Darüber war ich erschrocken aber der Doktor beruhigte mich und machte mir Mut. Er konnte noch nicht feststellen, ob die Kopfwunde durch einen Schlagring oder durch eine Luftpumpe verursacht worden war. Diese Wunde wurde genäht, nicht so die Platzwunden im Gesicht, bei denen die Ärzte nur die Wundränder aneinanderlegten, um die Narbenbildung im Gesicht zu vermeiden. Die Polizei suchte mich später im Krankenhaus auf, aber ich hatte meinen Peiniger nicht gesehen und so konnte ich keine Auskunft geben. Ich hatte das Gefühl, dass die Polizei mehr an der Aufklärung politischer Vorkommnisse interessiert war, als an kriminellen Verbrechen. Mein Bruder erzählte mir, dass er nach meinem Überfall die Strecke, die ich gelaufen war, abgesucht hatte, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Leider ohne Erfolg. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ich eine schwere Zeit, denn ich schaute mich immer nach einem Schatten um. Ich fühlte mich ständig verfolgt und jede Bewegung hinter meinem Rücken beunruhigte mich. Aus diesem Grund war es für mich nahezu unmöglich Arbeit zu finden und so beschlossen meine Eltern, mich mit dem Verkauf der Backwaren vertraut zu machen. Eines Tages holte ich frische Brötchen für unser Frühstück aus dem Geschäft. Im Laden stand ein Kunde und kaufte Brot und ich hatte auf einmal dasselbe heiße Gefühl, was ich vor dem Überfall hatte. Ich schaute den jungen Mann an, ich kannte ihn, er wohnte uns gegenüber. Ich war so aufgeregt und erzählte es meiner Mutter, dass ich dasselbe Gefühl hatte, als ich überfallen wurde. Meine Annahme war, dass dieser Mann der Täter gewesen sein könnte. Sie war sehr erschrocken und glaubte mir nicht, dass dieser Mann, der verheiratet war und drei Kinder hatte, eine derartige Tat begangen haben könnte. Meine Eltern dachten es wäre nur eine Einbildung von mir und ohne Beweise könnte keine Anzeige gemacht werden. Sie versuchten mich zu beruhigen und ich gab mich damit zufrieden. Ich war 17 Jahre alt und nicht glücklich in dem Geschäft meiner Eltern zu arbeiten und sprach mit meiner Mutter über dieses Problem. In dieser Zeit konnte man für 3O Pfennige mit der S. Bahn nach West-Berlin fahren, ohne dass man sich einer Kontrolle unterziehen musste, weil es noch keine Mauer gab. Mein Vater rief seinen Bruder an, der eine Fleischerei in West-Berlin besaß und bat ihn für mich um Hilfe, eine Arbeitsstelle zu finden. Jedoch der Bruder meines Vaters schickte mich wieder zurück. Er meinte ich wäre zu jung und unerfahren für die große weite Welt. Ich wollte nicht zurück in den Osten und kaufte mir von dem wenigen Geld das ich besaß, eine Busfahrkarte in die Lüneburger Heide. Dort wohnten Verwandte meiner Mutter, die ich von einem Besuch mit meiner Mutter einige Jahre vorher kannte. Sie besaßen eine Dorfkneipe und so dachte ich dort zu arbeiten. Meine Cousine und mein Cousin freuten sich als ich kam und richteten für mich ein kleines Zimmer ein, worüber ich mich sehr freute. Es war auch ein wenig Abenteuerlust in mir. Die Mutter von meinem Cousin war eine sehr sparsame Frau, für meine Begriffe sehr geizig. Sie teilte mir jeden Tag mein Essen zu. Es war meistens nicht genug und so ging ich manchmal hungrig ins Bett. Mein Cousin schimpfte mit seiner Mutter und er teilte mir das Essen ein, so dass ich nicht hungrig ins Bett musste. Ich hatte das Gefühl, das er mich mochte. Er erzählte mir jeden Tag, wie hübsch ich sei, was ich ignorierte. Eines Tages räumte ich mein Zimmer auf und er kam mir hinterher und roch nach Alkohol. Ich bat ihn, mein Zimmer zu verlassen, was er nicht tat. Er war groß und stark und warf mich auf das Bett und riss mir meine Bluse auf. Ich war entsetzt, riss mich los und rannte in die Lüneburger Heide. Er verfolgte mich, fand mich aber nicht, weil ich mich versteckte. Sein Elternhaus habe ich nie wieder betreten so lief ich zu einem jungen Mann, der dort in der Nähe der Kneipe wohnte und ein ständiger Gast war und bat um Hilfe. Er holte meine Sachen ab und brachte mich zum Bus nach Braunschweig. Es war eine große Enttäuschung für mich und ich hatte Angst allein zu sein. Mir fehlten meine Eltern, Geschwister und die häusliche Wärme. Ich hatte Sehnsucht und wollte zurück nach Haus und machte mir Vorwürfe, dass ich mein Elternhaus verlassen hatte. Der Busfahrer war ein sehr netter Mann und brachte mich zu einer Pension in Braunschweig, die er in Erinnerung hatte und die sehr preiswert war.

 

Kapitel Zwei

In dieser Nacht schlief ich sehr schlecht und hoffte, der nächste Tag bringt mir Glück und Kraft, eine Arbeit zu finden. Am nächsten Morgen besorgte ich mir die Tageszeitung von Braunschweig, um die Stellenangebote zu lesen. Ich fand eine Anzeige vom Bertelsmann Lesering, die Verkäufer für ihre Bücher suchten. Ich stellte mich vor, und nach einem Gespräch wurde ich eingestellt. Es gab zwei Möglichkeiten für mich. Ich konnte im Geschäft arbeiten oder von Tür zu Tür gehen und die Bücher verkaufen. So entschied ich mich von Tür zu Tür zu gehen, weil mir von der Firma mehr Geld angeboten wurde. Zu meiner Überraschung war ich in der Lage eine große Anzahl der Bücher zu verkaufen. Ich zeigte eine ausgesprochene Verkaufsbegabung und merkte, dass viele Leute meine freundliche Art mochten. Mit meinem ersten Gehalt mietete ich mir ein möbliertes Zimmer bei einem älteren Ehepaar. Obwohl das Zimmer durch die alten Möbel sehr ungemütlich wirkte, war ich jedoch froh, eine Unterkunft zu haben. Bertelsmann Lesering eröffnete eine Zweigstelle in Karlsruhe und bot mir eine bessere Position an, wo ich mehr Geld verdienen konnte. Ich hatte ein wenig Geld gespart und fand eine kleine Wohnung in Karlsruhe, die von der Einrichtung gemütlich war und die in der Nähe meiner Arbeitsstelle lag. Ich lernte in der Firma ein Mädchen kennen, das aus Hannover stammte und ihr Elternhaus wegen ihrer Stiefmutter verlassen hatte. Sie war in meinem Alter und sehr aufgeschlossen. Wir kamen gut miteinander aus und entschieden uns eine größere Wohnung im gleichen Haus zu beziehen. Unser Leben gab Anlass zu endlosen Diskussionen. Ich fühlte mich sehr wohl in ihrer Nähe und wir gaben uns gegenseitig das Gefühl ein Heim zu haben. Die Möglichkeit mit ihr über meine guten und schlechten Erfahrungen im Leben sprechen zu können, knüpfte ein festes Freundschaftsband zwischen uns. Die Faschingszeit kam heran. Inge und ich gingen zum Karnevalsumzug, der direkt an unserer Wohnung vorbeiführte. Wir standen an der Straße und warteten. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand beobachtete und drehte mich um, wobei ich einem gutaussehenden jungen Mann direkt in die Augen schaute. Er lächelte mich an und ich erwiderte es. Der Karnevalszug zog an uns vorbei und wir hatten viel Spaß an den bunten Kostümen und das Lachen der Menschen steckte uns an. Ich erinnerte mich, dass ich schon lange nicht mehr so fröhlich war wie an diesem Tag. Den jungen Mann verloren wir aus unseren Augen. Der Karnevalsumzug war zu Ende und wir tranken auf unserem Zimmer eine gute Flasche Pfälzer Wein. Vier Wochen später gingen wir in unsere Stammkneipe, die gegenüber unserer Wohnung lag. Der Wirt kannte uns und gab uns unser Essen immer billiger. In der Kneipe sahen wir den jungen Mann vom Karnevalsumzug wieder. Er saß allein an einem Tisch, aber als wir uns hinsetzten, kam er an unseren Tisch und fragte ob er sich zu uns setzen dürfe. Wir stellten uns mit unseren Namen vor, was er ebenfalls tat. Er hieß Reiner und war Student in Karlsruhe. Er besuchte eine Hochschule, wusste aber noch nicht welche Laufbahn er später einschlagen wollte. Ich fand ihn sehr sympathisch. Wir trafen uns des Öfteren in unserer Stammkneipe zum Essen. Inge war immer mit mir. Es war eine komische Situation und ich hatte das Gefühl, dass er gern mit mir allein wäre. Mir ging es ebenso und ich hoffte innerlich, dass der Augenblick kommen würde. Wir trafen uns durch Zufall einige Tage später in unserer Kneipe. Er kam früher von der Schule und ich wollte, da Inge noch nicht zu Hause war, eine Kleinigkeit für uns zum Essen holen. Nach einem kurzen Gespräch beschlossen wir, ins Kino zu gehen. Ich brachte das Essen für Inge in unsere Wohnung und schrieb ihr, dass ich mit Reiner im Kino sei. Ich fühlte mich in seiner Gesellschaft geborgen und glücklich. Ich hoffte, dass dieser Abend nie zu Ende gehen würde. Wir verabredeten uns zum nächsten Wochenende. Er lud mich in seine Wohnung ein. Ich wartete sehnsüchtig auf das Wochenende und ging zu seiner Wohnung. Reiner hatte Essen gekocht und hatte den Tisch eingedeckt mit einer Kerze und einer Flasche Wein. Es war ein zauberhafter Abend und er machte mir eine Liebeserklärung, was ein wundervoller Moment für mich war. Ich blieb bei ihm und wir liebten uns in dieser Nacht und ich fühlte seine Nähe, die mir Geborgenheit gab. Inge fühlte sich vernachlässigt, da ich mehr und mehr Zeit mit Reiner verbrachte und wir fast unzertrennbar wurden. Eines Tages sagte er mir, dass er mich seinen Eltern in München vorstellen wollte. Wir fuhren in seinem VW nach München. Die Eltern lebten in einer großen Wohnung, die sehr schön ausgestattet war, aber sehr kalt auf mich wirkte. Die Familie war streng katholisch. Ich hatte ein wenig Herzklopfen und hoffte, dass seine Eltern mich mochten. Seine Mutter war eine nette Frau, aber ich merkte, dass der Vater eine strenge Kontrolle über seine Familie hatte. Er nahm mich in eins der Zimmer und stellte viele Fragen an mich. Ich fühlte mich wie eine kriminelle Person, die verhört wurde. Menschen aus dem Osten wertete sein Vater als Menschen zweiter Klasse. So gab er mir zu verstehen, dass ich nicht gut genug bin für seinen Sohn und keinen finanziellen Hintergrund von meinem zu Hause hätte. Er bestand darauf, dass ich die Wohnung verlasse. So verließ ich die Wohnung und ging zum Auto. Auf dem Weg dorthin musste ich mich erst einmal beruhigen. Reiner folgte dem Wunsch seines Vaters bei ihm zu bleiben. Ich überlegte, ob ich einen Zug nach Karlsruhe nehmen sollte. In München kannte ich mich nicht aus und so beschloss ich auf Reiner zu warten, setzte mich ins Auto und schlief ein, aber die Kälte weckte mich auf. Ich war so enttäuscht, weil er mich alleine ließ. Dabei hätte ich ihn so nötig gebraucht, um über die Enttäuschung, die mir sein Vater bereitet hatte, hinweg zu kommen. Außerdem hatte ich Angst in der unbekannten großen Stadt allein auf die Straße zu gehen. In den frühen Morgenstunden kam Reiner. Er hatte gewartet, bis sein Vater schlief, brachte mir eine Decke und wickelte mich darin ein. Ich fühlte mich verloren und verlassen und hoffte, dass sein Vater die Entscheidung rückgängig machen würde. Leider war es nicht der Fall und am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Auto nach Karlsruhe zurück. Ich sprach mit Inge, was ich in München erlebt hatte und sie gab mir Mut und Trost. Reiner bat mich am nächsten Wochenende mit ihm zu der Mutter seines Vaters mitzukommen, die in Baden-Baden wohnte. Sie besaß ein großes Haus. Ich wollte keine Besuche mehr machen, denn ich konnte keine weitere Enttäuschung ertragen. Nach Bitten von ihm sagte ich jedoch zu und fuhr mit. Seine Großmutter war eine sehr nette alte Dame, die mich sofort umarmte, als er mich ihr vorstellte. Sie strömte viel Wärme aus und ich mochte sie vom ersten Augenblick an. Wir aßen zusammen und sie erzählte mir dabei, mit viel Traurigkeit, dass ihr Sohn keinerlei Kontakt mit ihr habe. Sie wusste nicht, warum er das tat. Für mich war so eine Situation in der Familie fremd. Beim Abschied drückte sie mich und bot mir an, dass ich sie jederzeit aufsuchen könne. Wir kamen zurück nach Karlsruhe. Inge erhielt einen Brief ihres Vaters. Er teilte ihr mit, dass er sehr krank sei und bat Inge nach Haus zu kommen. Wir wollten in Verbindung bleiben, als sie Karlsruhe verließ. Leider habe ich nie wieder etwas von ihr gehört. Nach unserem Besuch in München bestand der Vater darauf, dass sein Sohn nach Hause kommt. Der Vater hatte ohne sein Wissen das Zimmer gekündigt und die Zahlung seiner Schule ebenfalls. Er hatte ihn angemeldet an einer Hochschule in München und wollte damit erreichen, dass wir getrennt wurden. Ich fühlte mich jeden Morgen sehr schlecht und führte es auf meine Situation zurück. Trotzdem suchte ich einen Arzt auf, der mir mitteilte, dass ich im ersten Monat schwanger bin. Ich war so erschrocken und wollte es nicht glauben. Ich teilte es aber sofort Reiner mit, der erfreut war, mir Trost zusprach, und er bat mich ihn zu heiraten. Wir wollten es beide ohne Finanzierung seiner Eltern schaffen. Wir fuhren noch einmal nach München und sprachen mit seiner Mutter. Sie gab uns den Rat, weil wir so jung waren, unser Leben nicht zu ruinieren und das Beste wäre eine Abtreibung. Ich wunderte mich darüber, weil die Familie sehr streng katholisch war. Durch den Rat der Mutter war ich so durcheinander und bat Reiner mich zum Zug nach Karlsruhe zu bringen. Ich brauchte Zeit für mich allein um über meine Situation nachzudenken. Er brachte mich zum Zug und ich merkte, dass er doch sehr abhängig von seinen Eltern war. Ich fühlte mich im Zug so allein und verlassen und mir fehlte wieder meine frühere Geborgenheit meiner Familie. Inge, meine Freundin war nicht mehr mit mir und so fühlte ich die Einsamkeit noch mehr. Ich rief meine Eltern an und bat um das Kommen meiner Mutter. Zu dieser Zeit gab es noch keine Mauer und so freute ich mich, dass sie sofort zusagte. Reiner rief mich des Öfteren an und erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich merkte, er rückte immer weiter weg von mir und so zweifelte ich an seiner Liebe. Noch einmal besuchte ich seine Großmutter, die mich bat, bei ihr im Haus zu bleiben, aber ich hatte schon den Entschluss gefasst, in mein Elternhaus zurückzugehen. Ich wartete sehnsüchtig auf meine Mutter und als sie in meiner Wohnung war, fühlte ich mich nicht mehr allein. Sie gab mir ebenso den Rat nach Hause zu kommen. Trotzdem wollte ich noch einmal mit Reiner sprechen, um ihm meine Entscheidung mitzuteilen. Meine Mutter half mir über die Zweifel, die ich wegen der Rückkehr in den Osten hatte, hinweg. Wir sprachen über das ungeborene Kind, das ich behüten wollte. Vor ihrer Abreise bekam ich starke Blutungen, wahrscheinlich war es die Aufregung, dass sie mich verließ. Ich suchte den Arzt auf, aber er fand nichts Bedenkliches und bestätigte mir, dass alles in Ordnung sei. Er war der Meinung, dass es psychische Probleme sind. Ich musste mich von meiner Mutter trennen, aber wir wussten beide, dass wir uns bald wiedersehen werden. Diese Situation beruhigte mich ein wenig. Ich kündigte meine Arbeitsstelle und auch meine Wohnung und brachte einige Gegenstände, die ich nicht mitnehmen konnte zu einer Arbeitskollegin, die mir oft behilflich war. Sie wollte meine persönlichen Sachen zu meinen Eltern schicken. Inzwischen wurden in Berlin die ersten Hindernisse gebaut, um die Menschen zu hindern, in den Westteil Berlins zu flüchten. Um Berlin zog man Stacheldraht. Soldaten kamen, die den Auftrag hatten, die Grenzen nach Westberlin zu überwachen. Es gab zu dieser Zeit noch keinen Schießbefehl und so flüchteten unzählige Menschen nach Westberlin. Sie hinterließen ihre Häuser und manchmal auch ihre Familien, um der kommunistischen Diktatur zu entgehen. Meine Mutter besuchte für zwei Tage Verwandte in Westberlin und hoffte, dass mein Vater flüchten würde, um mit ihr in Westberlin ein neues Leben anzufangen. Mein Vater wollte unser Haus nicht verlassen. Mein Bruder versuchte zu flüchten, aber es gab inzwischen den Schießbefehl gegen Flüchtlinge, die in den Westen wollten und es gelang ihm nicht mehr. Meine Mutter kam zu meinem Vater in die DDR zurück. Sie machte sich Sorgen um mich, denn ich machte mein Vorhaben, nach Haus zu kommen, rückgängig wegen der politischen Situation. Ich blieb in Karlsruhe, wobei ich jeden Tag mit meinen Eltern telefonierte, die mich aber baten nach Haus zu kommen. Im siebenten Monat meiner Schwangerschaft entschloss ich mich, nach Kleinmachnow in mein Elternhaus zurückzukehren. Ich wusste nicht, was mich an der Grenze erwarten würde. Inzwischen hatte man die Mauer gebaut, um die Flucht der Menschen in den Westen zu verhindern. Ich packte das Nötigste in zwei Koffer und setzte mich in den Zug nach Helmstedt. Das war zu dieser Zeit die Grenzstation. Der Zug hatte, bedingt durch die starken Schneefälle, stundenlange Verspätung. Um Mitternacht war ich so hungrig wie ein Wolf, da ich in der Aufregung vergessen hatte, mir etwas Proviant in meine Reisetasche zu packen. Ich stieg aus und sah nur eine weiße unfreundliche Schneewelt vor mir. Kaum einen Menschen, das machte mir Angst und ich wusste nicht was mich erwartet. Mein Bruder wartete auf meine Ankunft viele Stunden und er ging in die Bahnhofshalle, um sich aufzuwärmen. In dieser Zeit fuhr der Zug ein. Zwei Männer kamen auf mich zu und fragten mich nach meinem Namen und ob ich von Karlsruhe käme. In diesem Augenblick kam mein Bruder, umarmte mich und wir fingen beide an zu weinen. Ich fühlte mein zu Hause und merkte, was ich in den letzten drei Jahren vermisst hatte. Die beiden Männer beobachteten uns und ich nahm an, sie waren vom Staatssicherheitsdienst. Mein Bruder fuhr mit seinem Auto über Magdeburg nach Kleinmachnow. Wir brauchten viele Stunden, denn die Straßenverhältnisse waren eine Katastrophe. Endlich, zu Hause angekommen war die Freude groß. Meine Eltern hatten gekocht und gebacken und die häusliche Wärme machte mich glücklich. Unser Hund Prinz und meine Katze Susi sprangen mir entgegen und schleckten mich ab. Wir waren wieder eine Familie und noch ein ungeborenes Kind dazu. In meinem Zimmer war alles an seinem Platz, so wie ich es verlassen hatte. In dieser Nacht hatte ich sehr gut geschlafen und ich fühlte die Bewegung meines Kindes. Vielleicht wollte sie mir mitteilen, dass sie auch glücklich sei. Am nächsten Tag ging meine Familie mit mir zum Einkauf für mein Kind. Es gab im Osten nicht sehr viel, aber wir fanden genügend Babykleidung. Ich bekam zwei Briefe von Reiner, dass er sehr bedauerte, dass ich ihn nicht über mein Vorhaben, in den Osten zurück zu gehen, unterrichtet hatte, und er hoffte, dass mit mir alles in Ordnung sei. Keine Frage über das kommende Kind oder ob ich Hilfe brauchte. Ich war sehr enttäuscht, aber ich fühlte, dass ich durch meine Familie etwas stärker geworden war. Wenige Tage war es bis zum Weihnachtsfest und ich war glücklich bei meiner Familie zu sein. In dieser Zeit las ich mein Lieblingsbuch " Vom Winde verweht", damit wollte ich mich ablenken, um die Enttäuschungen, die ich durch Reiner erfahren hatte, zu vergessen. Nach dem Weihnachtsfest bekam ich brieflich eine Aufforderung beim Staatssicherheitsdienst zu erscheinen. Mein Vater kam mit mir, denn er machte sich Sorgen, dass man mich vielleicht verhafteten würde. Wir mussten in ein Büro, das sehr unfreundlich wirkte, warten bis wir geholt wurden. Am Tisch saß ein Offizier, der an seiner Uniform lauter Orden hatte. Er teilte mir in einem scharfen Ton mit, dass ich mich durch die Flucht aus der DDR staatsfeindlich verhalten hätte und ich dafür ins Gefängnis gehen müsste. Ich wusste, dass es in der DDR ein Gesetz gab, werdenden Müttern besonderen Schutz zu geben. Der Offizier unterhielt sich mit meinem Vater über das Bäckereigeschäft und fragte ihn, ob er eine Schwester hätte. Mein Vater bejahte die Frage und der Offizier stand auf und ging an einen Schrank und holte eine Mappe mit Bildern hervor. Er zeigte auf ein altes Schulbild auf ein Mädchen, was mit ihm die Schulbank teilte. Mein Vater erkannte seine Schwester und das Verhalten des Offiziers veränderte sich plötzlich und er wurde zu uns sehr freundlich. Er erzählte uns, dass er Erna, die Schwester meines Vaters verehrt hatte bis zum späten Alter. Er wurde immer freundlicher und erzählte aus seiner früheren Schulzeit. Dann verabschiedete er sich von uns, mit den Worten: „Nimm Deine Tochter und geh nach Hause." Ich hatte nie wieder eine Aufforderung bekommen, bei dem Staatssicherheitsdienst zu erscheinen. Es war der 27. Februar und ich las am Abend das letzte Kapitel meines Buches, als ich das Fruchtwasser verlor und meine ersten Wehen setzten ein. Mein Bruder war zu Haus und brachte mich mit dem Auto zum Krankenhaus nach Potsdam. Unterwegs begann ein Schneesturm und wir kamen nur langsam vorwärts. Ich hatte starke Schmerzen und mein Bruder fuhr so schnell er konnte. Manchmal schleuderte er mit dem Auto von der rechten zur linken Seite und dann kamen noch geschlossene Schranken an der Eisenbahn dazu. Er ignorierte alles und fuhr an der Seite der Schranken über die Eisenbahnschienen, was verboten war. Es war eine Fahrt, die wir beide nie vergessen haben. Im Krankenhaus angekommen, nahm man mich sofort auf und ich lag 6 Stunden in Wehen. Der Arzt wollte nicht länger warten, um einen Kaiserschnitt durchzuführen. Es war mir egal, denn ich war total erschöpft. Die Hebamme kam und bat mich, dass ich noch einmal zum Pressen, ansetzte, was mir auch gelang. Dann hörte ich ein Schreien meines Kindes und die Hebamme zeigte mir ein kleines Mädchen, das einen so großen Kopf hatte, dass ich mich erschrak. Sie beruhigte mich und ich vergaß im Moment den Namen, wie ich sie nennen wollte. Aber schnell stotterte ich Susi und sie lachte und brachte mich in ein Nebenzimmer. Es war der 28. Februar. Im Krankenhaus warteten viele Männer auf die Geburt ihrer Kinder und ich fühlte mich allein ohne Reiner. Die Krankenschwester erklärte mir, dass mein Ehemann das Kind sehen möchte und sie meinte damit meinen Bruder. Es war so lustig und er tat auch so, als wäre es sein Kind. Er nahm die kleine Susi in seinen Arm und hatte ein verschmitztes Lächeln auf seinem Gesicht.

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