Buch lesen: «WIR. Heimat - Land - Jugendkultur»
Originalausgabe
© 2020 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage Oktober 2020
Vertrieb für den Buchhandel: Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de
Privatkunden und Mailorder: https://shop.hirnkost.de/
Lektorat: Klaus Farin
Genderneutral – ja oder nein? Wir überlassen es den Autor*innen,
welche Variante sie wählen. So viel Freiheit und Vielfalt muss sein.
ISBN:
PRINT: 978-3-948675-53-0
PDF: 978-3-948675-55-4
EPUB: 978-3-948675-54-7
Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.
Diese Publikation und das dazugehörige Projekt wurden gefördert von:
KLAUS FARIN UND GÜNTER MEY (HRSG.):
Wir.
Heimat – Land – Jugendkultur
Inhalt
Vorwort
Gelegenheitsstrukturen – Jugendliche in ländlichen Regionen
GÜNTER MEY
Lebensrealitäten von Jugendlichen in ländlichen Regionen
Annotationen aus der Peripherie von Jugendforschung
DETLEV LINDAU-BANK UND MARGIT STEIN
Boomer 4.0
Millennials auf dem Land
BENJAMIN OLLENDORF, SUSANNE BORKOWSKI UND GÜNTER MEY
Perspektiven junger Menschen auf Gelegenheitsstrukturen in ländlichen Regionen
Ergebnisse einer Online-Umfrage zu Zukunftsaussichten, Freizeitbedingungen und Partizipationsmöglichkeiten
1Hintergrund der Erhebung
2Die WIR-Studie
3Die soziografischen Daten der Jugendlichen
4Regionale Bildungs- und Karrieremöglichkeiten
5Mobilität
6Tagesstruktur und Freizeitaktivitäten
7Medien
8Jugendkultur und -szenen
9Mitbestimmung und Engagement
10Probleme und Konflikte
11Gehen und Bleiben
12Zusammenfassung, Diskussion und Fazit zur WIR-Studie
PATRICK KÜPPER UND TOBIAS METTENBERGER
„Gehen oder Bleiben?“
Zufriedenheit junger Menschen mit den Lebensbedingungen in ländlichen Räumen
SARAH BEIERLE
Was hält junge Menschen in ländlichen Räumen?
BARBARA HALLMANN UND SIBYLLE SPERLING
Leerstand makes Landleben
Kultur- und Bildungsprojekte in der Altmark
MIESTE HOTOPP-RIECKE
Freygang, Faschos, Rote Rüben
Der Kinosaal in Mieste, Heimat und Dorfkraft für Kultur und Zusammenhalt
KRISTINA MILZ
wir.macht.neu #5 Wedemark
Oder: Erwachsene wollen eine Erwachsenen-freie Zone
KRISTINA MILZ
„Der Jugendliche an sich, der interessierte mich schon mal gar nicht.“
Ein Festival für Freunde oder: Schöner leben ohne Nazis
Heimat
KLAUS FARIN
Heimat.
Identität im Wandel
KRISTINA MILZ
„Wem g’herst na du?“
Nachdenken über vergessene Spielregeln
KRISTINA MILZ
„Es geht darum, wer die schwersten Glocken hat.“
Der Tag, an dem die Kramperl kommen
GANGWAY
ZwischenWelten
Herkunft – Ankunft – Hinter Gittern – Zukunft
EDDA GEHRMANN
„Davon werden sie mindestens die nächsten zehn Jahre noch erzählen.“
Ein Gespräch mit dem Bürgermeister Andreas Brohm
KLAUS FARIN
Abspann
Die Autor*innen
KLAUS FARIN UND GÜNTER MEY
WIR. Heimat – Land – Jugendkultur
„Heimat“ ist wieder angesagt – vor allem in ländlichen Regionen hat der Wunsch nach Entschleunigung und Wiederüberschaubarkeit der Lebensumwelt Konjunktur: das Dorf als Hort der Sicherheit und Ruhepol inmitten einer sich global immer schneller und unbeeinflussbarer verändernden Welt: „Hier ist die Welt noch in Ordnung.“ Doch die Prozesse der Individualisierung und Enttraditionalisierung prägen längst auch die Lebenswirklichkeiten auf dem Lande. Insofern werden sich Gemeinden für die Vorstellungen und Bedürfnisse der Jugendlichen öffnen müssen sowie deren Orientierungsmuster und lebensweltliche Praktiken berücksichtigen, wollen sie nicht zur jugendfreien Zone werden.
Die Stiftung Respekt!, 2010 aus dem Berliner Archiv der Jugendkulturen heraus gegründet, wollte diese beiden Themen – die ambivalente Renaissance der „Heimatliebe“ und die Lage von Jugendlichen in ländlichen Regionen – genauer untersuchen und verband beide in ihrem Projekt „WIR. Heimat – Land – Jugendkultur“. Gemeinsam mit mehr als 30 Partner*innen realisierte Respekt! ab 2018 einen bunten Strauß aus quantitativen und qualitativen Befragungen, Workshops, Fachtagungen und journalistischen Erkundungen. Dabei wurden die Jugendlichen nicht nur befragt, sondern konnten auch in verschiedenen partizipativen Kreativworkshops eigene Ideen, Wünsche und Positionen entwickeln und dabei erkennen, dass die Erwachsenenwelt sich für ihre Perspektive interessiert. Denn nachhaltige Veränderungen lassen sich heute nur noch erzielen, wenn die Menschen bei der Entwicklung und Implementierung neuer Maßnahmen selbst aktiv mitwirken. Das gilt nicht nur für Großbauprojekte, sondern auch für die kleinteilige Beziehungsarbeit mit Jugendlichen vor Ort. Identifikation – mit der Schule, dem Jugendhaus, der Gemeinde – entsteht letztlich durch Teilhabe und die Erfahrung von Respekt.
Ausgangsüberlegungen1
Spätestens seit Ulrich Becks Zeitdiagnosen in den 1980er Jahren gilt es in den deutschen Sozialwissenschaften (und darüber hinaus) als sicher, dass Menschen im Zeitalter einer „zweiten Moderne“ unter veränderten Bedingungen leben: Aufgrund einer weitreichenden ökonomischen Aufwärtsbewegung in der BRD („Fahrstuhleffekt“) nach dem Zweiten Weltkrieg sind zwar die Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht grundsätzlich reduziert, haben alle Milieus jedoch mehr Geld und Freizeit zur Verfügung. Traditionelle Verbindlichkeiten, die aus Klassen- und damit verbundenen Kulturzugehörigkeiten resultieren, erodieren zunehmend. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist ein „Wegbrechen“ vormals selbstverständlicher, traditioneller Orientierungsmuster, Strukturen und Verhaltenssicherheiten. Betroffen davon ist auch ein grundsätzlicher menschlicher Modus des Sich-in-Bezug-Setzens zur Welt: das Gefühl, eine „Heimat“ zu haben.
Wenn Menschen heute einerseits pluraler und individueller als zuvor leben, weil sie vom Wohlstandswachstum, einem gewandelten Arbeitsmarkt mit immer mehr Gewicht auf dem Dienstleistungssektor, flexiblen Arbeitszeiten sowie der Bildungsexpansion profitieren, so führt dies andererseits auch dazu, dass Forderungen nach steigender Flexibilität und Mobilität an sie herangetragen werden. Dementsprechend steht jede*r Einzelne immer wieder vor der Aufgabe, sich in andere geografische und soziale Kontexte oder Räume einzuordnen. Was gestern noch als Heimat unhinterfragt vertraut und mit bestimmten Zuschreibungen des Typischen und Überschaubaren verknüpft war, wird durch einen Ortswechsel fragwürdig. Umgekehrt verändern sich Orte und soziale Zusammenhänge durch immer wieder neu Hinzukommende, diese „stören die Ordnung“ mitunter oder finden Niederschlag in Konstruktionen von Etablierten und Außenseitern: „wir und die Anderen“. Und auch den weniger mobilen Menschen kann mit Vorurteilen begegnet werden, die wiederum mit Abgrenzung beantwortet und als Ausgrenzung erlebt werden. So entsteht in ländlichen Regionen mit Rekurs auf Heimat ein neuer Definitionsraum – und eine Arena für Aushandlungen.
Eine Folge davon scheint die derzeit in Europa beobachtbare Renaissance des Regionalpatriotismus zu sein. „Heimatliebe“ zu zeigen und auszuleben, ist auch für viele Jugendliche heute nicht mehr peinlich, nicht mehr per sé „rechts“ und „nationalistisch“, sondern Teil ihrer Alltagskultur und Identitätssuche. Dies führt – gerade angesichts der aktuellen Zuwanderungen Geflüchteter auch in die ländlichen Regionen Deutschlands – zu einer weiteren Frage: Wer gehört zu dieser Welt, zu dieser Ordnung? Wer definiert das neue deutsche „Wir“ (und wie)?
Jugend(kultur) und ländliche Heimat
Um die Frage nach Heimatkonstruktionen zu beantworten, schien uns die Fokussierung auf Jugendliche und ihre Szenen besonders vielversprechend. Denn diese stellen posttraditionale Vergemeinschaftungsformen dar, die eine eigene Kultur entwickeln und dadurch gesellschaftlichen Tendenzen zur Individualisierung mit Zugehörigkeits- und Identifikationsangeboten begegnen – mit anderen Worten: Jugendlichen eine (kollektive) Heimat geben oder zumindest temporär ein Ort sein können, der Heimat ganz bestimmend mitprägt. Szenen sind in der Lage, besondere Bindeoder Absetzungskräfte zu entwickeln (vgl. z.B. Hitzler/Niederbacher 2010). Sie werden häufig entweder als Anlass genommen, in der Provinz zu bleiben, weil sie etwas bieten, das in der Stadt oder anderswo nicht einholbar zu sein scheint, oder aber als etwas identifiziert, das gerade nicht in der Provinz, dafür aber in der Stadt vorzufinden ist, weswegen die alte Heimat verlassen werden muss.
Die Entwicklungen der permanenten Mobilität und die Notwendigkeit, die Heimat zu verlassen, eine neue zu suchen oder gar „mehr-heimig“ zu sein, betreffen insbesondere junge Menschen, die nicht nur von den Effekten der „zweiten Moderne“ stärker betroffen, sondern zusätzlich unter Bedingungen der umfassenden Mediatisierung und Glokalisierung aufgewachsen sind: So wird durch Internet und (digitale) Medien für die Einzelnen nicht nur ein enormes Spektrum soziokultureller Möglichkeiten, Handlungs- und Identifikationsangebote immer transparenter und potenziell verfügbarer, sondern darüber hinaus werden diese Angebote stärker für kulturelle Prozesse der selektiven Aneignung und Neukontextualisierung zugänglich. Das Verfügbarkeitsangebot bewirkt, dass der Reiz steigt, etwas und „sich“ jenseits der Heimat auszuprobieren. Das Kursieren kultureller Angebote bewirkt kulturelle Transformationsprozesse, bei denen das vormals geografisch und kulturell Entfernte oder „Fremde“ immer schneller in die „eigene“ Kultur integriert werden kann (und muss!). Dadurch wird „Heimat“ als Sinnhorizont des Kontinuierlichen und Vertrauten zunehmend fluider und permanent revisionsbedürftig.
Aktuelle Veränderungen, die „die Jugend“ in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, treten in den Städten zwar stärker sichtbar zutage, prägen längst aber auch die Lebenswirklichkeiten auf dem Lande. So klagen Freiwillige Feuerwehren, Karnevals- und Schützenvereine, aber auch kirchliche und andere Jugendgruppen und -verbände vielerorts über Nachwuchsmangel. Selbst Jugendliche, die gerne in Landgemeinden leben, schließen sich nicht mehr automatisch den Jugendgruppen und Vereinen ihrer Eltern und Großeltern an, sondern sie prüfen kritisch: Was bringt MIR das, wenn ich mich dort engagiere? Selbstverständlich prägen die (großstädtischen) Jugendkulturen – und eben die via World Wide Web verbreiteten Informationen – auch Jugendliche auf dem Land. Was für (eher) großstädtische Jugendkulturen schon immer galt, überträgt sich nun also auf die Vereine und Organisationen in den Landgemeinden. Die Jugendlichen dort fordern dies explizit eher selten – sie stimmen „mit den Füßen“ ab und bleiben den Angeboten, die nicht zu ihnen passen, einfach fern. Landgemeinden und dort beheimatete Organisationen werden sich gegenüber den Bedürfnissen der jugendkulturell geprägten Jugendlichen öffnen müssen, wollen sie nicht zur jugendfreien Zone werden. Das bedeutet neue Herausforderungen auch für die Jugendarbeit auf dem Land – nicht zuletzt, damit aus dem „Ich bin dann mal weg“ vieler Jugendlicher vielleicht ein „Ich bleib erst mal hier“ oder „Ich komme gerne zurück“ wird. – Dies ist eine Erkenntnis aus der Online-Befragung im Kontext des WIR-Projektes, die Benjamin Ollendorf, Susanne Borkowski und Günter Mey in diesem Band vorstellen.
Das Verhältnis von Jugendlichen zur „Heimat“ ist durch gesellschaftliche, mediale und globale Entwicklungen beeinflusst, die Menschen geografische und geistige Mobilität abverlangen. Der Einfluss dieser Rahmenfaktoren auf die Vorstellungen von Heimat ist sicher hoch. Dennoch gehen wir nicht davon aus, dass diese Faktoren zu einer Homogenisierung von Heimatvorstellungen führen. Vielmehr unterhalten Menschen konstant „intime“ Beziehungen zu Landstrichen, Dörfern, Stadtvierteln, Städten etc., weil diesen etwas Besonderes oder Einzigartiges zugeschrieben wird. Anzunehmen ist, dass Menschen in Franken beispielsweise Heimatkonzepte haben, die mit lokalspezifischen Narrativen über die Region oder besondere Orte korrespondieren, die sich von Narrativen und Orten in der ostdeutschen Altmark unterscheiden.
„Heimat“ stellt also keine individuelle Zuschreibung dar, sondern ist vielmehr eine Konstruktion, die konkret mit einem Raum oder einer Region verknüpft wird und in die Strukturen hineinwirken, die (lokal) überindividuell geteilt werden und es möglicherweise rechtfertigen, von einem Heimatkonzept der Jugendlichen in Franken oder dem Ruhrgebiet zu sprechen. Wie diese Vorstellungen im Einzelnen zu beschreiben sind, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sie aufweisen – all dies galt es herauszufinden.
Methodische Projektumsetzung
Um Einblicke in die Lebenssituationen von Jugendlichen im ländlichen Raum und in kleinstädtischen Milieus zu erhalten, wurde das Projekt in fünf hinsichtlich Bevölkerungsdichte, sozioökonomischer Lage und Anbindung an großstädtische Infrastrukturen sehr unterschiedlichen Regionen durchgeführt: im nordrhein-westfälischen Brühl, in den Landkreisen Fürth in Bayern, Nordsachsen und dem Saarpfalzkreis sowie in der Altmark in Sachsen-Anhalt. Dort hat die .lkj Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung) Sachsen-Anhalt als Projektträgerin von „WIR. Heimat – Land – Jugendkultur“ im Bundesland Sachsen-Anhalt durch die verschiedensten Beteiligungsformate und Methoden der kulturellen Bildung die Perspektiven sowohl der Jugendlichen als auch von Multiplikator*innen erhoben. Eine abschließende Tagesveranstaltung, der „Herbst-Salon: Heimat.Land.Jugendkultur“ im ehemaligen Leerstand der „Kleinen Markthalle“ Stendal, brachte die Akteur*innen aus Theorie und Praxis für Austausch und Ausblicke zusammen. Das parallel zu diesem Abschlussbericht erscheinende Buch Auf dem Lande alles dicht? Ein interdisziplinäres Lesebuch über die kreative Füllung von Leerstand der .lkj) Sachsen-Anhalt dokumentiert beispielhaft zahlreiche Versuche und Projekte zur Wiederaneignung und kreativen Umwidmung von Kultur- und Lebensräumen in sechs Bundesländern mit dem Fokus auf Sachsen-Anhalt.
In Stendal fand auch ein erster Austausch über die Ergebnisse des Gesamtprojekts im Rahmen einer Tagung an der Hochschule Magdeburg-Stendal statt; teilgenommen haben neben dem gesamten Projektteam von Kinderstärken e. V. und .lkj) Sachsen-Anhalt als Expert*innen Sarah Beierle vom Deutschen Jugendinstitut Halle, Bernhard Heinzlmaier vom Institut für Jugendkulturforschung Wien, Patrick Küpper vom Thünen-Institut Braunschweig und Detlev Lindau-Bank von der Universität Vechta.
Um aussagekräftige Daten zu generieren, wurden sowohl im Projekt qualitative und quantitative Forschungsmethoden verknüpft als auch in Barcamps und Workshops subjektive Motivlagen, Begründungszusammenhänge und Widersprüche ermittelt.
Der vorliegende Band gibt Einblicke in dieses umfassende Projektvorhaben. Neben dem bereits erwähnten Bericht über die Online-Befragung finden sich im ersten Teil des Bandes Darstellungen anderer Untersuchungen, um die Befundlage zu Jugendlichen in ländlichen Regionen Deutschlands zu konkretisieren, daran anschließend einige essayistische Beiträge zu Jugendkultur. Der zweite Teil des Bandes widmet sich dem Thema Heimat in Essays und journalistischen Reportagen aus verschiedensten Regionen.
Ergänzend zu diesem Hauptband dokumentieren zwei weitere Werke die Ergebnisse des Respekt!-Projekts:
Der Band FREI – LAND – HALTUNG. Jugend auf dem Land, hrsg. von Kurt Möller, dokumentiert Interviews, die Studierende der Hochschule für Sozialwesen Esslingen zum Fokus unseres Projekts mit Jugendlichen in Baden-Württemberg geführt haben.
Der Band Heimat? schließlich enthält 25 literarische und essayistische Positionen von Schriftsteller*innen zu diesem Thema.
Literatur
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1986.
Hitzler, Ronald/Niederbacher, Arne: Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute. VS, Wiesbaden 2010.
Danksagung
Möglich wurden diese Bände nur dank mehrerer 2018 und 2019 stattfindender Projekte verschiedenster Träger und einer großen Zahl von Mitwirkenden, so etwa insgesamt 1.200 Jugendliche und erwachsene Multiplikator*innen, die an der wissenschaftlichen Studie und rund zwei Dutzend Kreativworkshops und anderen Events aktiv teilnahmen.
Stellvertretend seien hier genannt:
Besonders gedankt sei den Förderern:
1 –Einige der hier vorgetragenen Überlegungen gehen zurück auf die Projektvorarbeiten unter Beteiligung von Marc Dietrich von der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Gelegenheitsstrukturen
GÜNTER MEY
Lebensrealitäten von Jugendlichen in ländlichen Regionen
In den Auseinandersetzungen mit dem komplexen Themenfeld „Jugend in der ländlichen Region“ finden sich nicht selten Simplifizierungen, da sowohl „das“ Land wie „die“ Jugend im Kollektivsingular verhandelt werden, als auch am Ende eine Zuspitzung auf die schlichte Frage nach dem „Gehen oder Bleiben“ erfolgt. Mit einem solchen Narrativ wird übersehen, dass aufgrund hoher Diversifikation nicht nur Jugend „im Plural“ zu verstehen ist, sondern auch die ländliche Region je nach Lage und Angebotsstruktur divers ist. Mit Blick auf Forschungsfragen gilt es daher, über die Zufriedenheiten mit der Infrastruktur hinaus vor allem zu untersuchen, wie die Jugendlichen ihre Aktionsräume selbst gestalten und sich aneignen können, aber auch welche Optionen für Teilhabe überhaupt bestehen oder verunmöglicht werden. Am Ende entscheiden diese Fragen, welche Gelegenheitsstrukturen relevant werden und mit welchen Herausforderungen Jugendliche in den jeweils ganz spezifischen Räumen konfrontiert werden. Darüber wird auch möglich, die Perspektive auf „die Provinz“ neu zu justieren und deren Potenziale in den Blick zu nehmen.
„Das“ Land und „die“ Jugend sind in Auflösung begriffen
Wer über Jugendliche „auf dem Land“ oder gar von der „Landjugend“ spricht, denkt – explizit oder implizit – die Kontrastfolie „Stadt“ mit und erzeugt damit ungewollt oder gewollt eine Dichotomie: Land vs. Stadt. Dies ruft wiederum verschiedene Assoziationen hervor, die je nach Narrativ unterschiedlich ausfallen: Stadt als modern (oder gar progressiv, wenn nicht gleich innovativ) und dann eben Land als „traditionell“ (wahlweise eben nur rückständig), oder anders: „das“ Land als Idylle und Stadt als Moloch.1 Solche Kontrastfolien provozieren Einseitigkeiten und Simplifizierungen. In den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelte sich als Grundüberzeugung – dies zeigen auch die Beiträge von Detlev Lindau-Bank und Margit Stein sowie Patrick Küpper und Tobias Mettenberger in diesem Band dezidiert auf –, dass es „das Land“ oder „die“ ländliche Region so nicht gibt. Ländliche Räume sind im Plural zu denken. Es handelt sich um ganz verschiedene Soziotope, je nach Lage und Ausstattung. Das meint: Je nach Nähe oder Ferne zu urbanen Zentren, je nach soziodemografischer Zusammensetzung und sozio-ökonomischen Basisdaten handelt es sich um ganz verschiedene „Länder“. Dies gilt selbstredend auch für städtische Strukturen – Stadt ist nicht gleich Stadt, und in Metropolen lassen sich für die einzelnen Bezirke Differenzierungen vornehmen bis hin – wie in Berlin – auf der Ebene der „Kieze“.
Wer also über Jugendliche auf dem Land spricht, hat Diversifikationen ernst zu nehmen, denn ebenso, wie es „das“ Land oder „die“ Stadt nicht gibt, haben wir uns schon viel länger von der Rede über „die“ Jugend verabschiedet. Jugend wird spätestens seit den frühen 1980er-Jahren eingedenk des sog. Individualisierungstheorems von Ulrich Beck (1983, 1986) als eine sehr ausdifferenzierte Lebenslage „jenseits von Stand und Klasse“ aufgefasst und mit den Stichworten der Pluralisierung und Diversifikation versehen (Ferchhoff 2011, Krüger 2010, Mey 2011) – auch wenn sich zuweilen hinterrücks wieder „Stereotypien“ in der Geschichtsschreibung finden, spätestens dann, wenn „Generationsgestalten“ ausgemacht werden, die für eine doch mehr oder weniger homogene Gruppe stehen. Damit sind jene markanten Generationen gemeint wie „die 68er“ bis hin, dass in den seit 2002 unter der Leitung von Klaus Hurrelmann durchgeführten Shell-Jugendstudien am Ende die (ganze) Generation als „pragmatisch“ charakterisiert wird (Shell 2019).2
Solche generationalen Kategorisierungen sind aber gar nicht prinzipiell auszuschließen. Sie können – analytisch gesehen – auch sinnvolle Raster sein, um Trendaussagen zu schärfen oder historische Wandlungen anzuzeigen. Es sollte dann eben nur explizit gemacht werden, dass mit solchen Kontrastierungen einer Generation X vs. Generation Y etc. – ebenso wie mit „Jugend vs. Erwachsene“, „Stadt vs. Land“, wie aber auch „Ost vs. West“ oder „Frau vs. Mann“ – zuweilen mit dem Singularkollektiv im Versus mehr verdeckt als aufgedeckt wird. Denn bei solchem Vorgehen werden Unterschiede zwischen den Gruppen von den Differenzen innerhalb der Gruppen überstrahlt. Mehr noch: Es können sogar Gemeinsamkeiten zwischen diesen Gruppen unentdeckt bleiben, da sie hinter den „groben“ Rastern (Stadt, Jugend, Frau bzw. Land, Alte, Mann) verschwinden.
Wenn nun „die“ Jugend auf „dem“ Land betrachtet wird – und auch wenn dies wie im vorliegenden Band im Plural als die Jugendlichen in den ländlichen Regionen geschieht –, lässt sich allerdings durchaus sagen, dass dieses Forschungsfeld ein weitgehend peripheres Thema ist, selbst eingedenk einiger Konjunkturen, die es zu verzeichnen gilt.