Buch lesen: «Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4»

Schriftart:

Oberhausen

Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet

Studienausgabe

Herausgegeben von Magnus Dellwig und Peter Langer

unter Mitarbeit von Otto Dickau, Klaus Oberschewen und Burkhard Zeppenfeld

Band 4: Oberhausen in Wirtschaftswunder und Strukturwandel

Verlag Karl Maria Laufen

Die Herausgeber und der Verlag bedanken sich bei den Sponsoren für die großzügige Unterstützung. Nur so konnte die Studienausgabe der Oberhausener Stadtgeschichte realisiert werden.


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Karl Maria Laufen

Oberhausen 2014

Alle Rechte vorbehalten

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Autoren und Herausgeber haben sich bemüht, alle Bildrechte zu klären. Sollte dies im Einzelfall nicht oder nicht zutreffend gelungen sein, wird um Nachricht an den Verlag gebeten.

Bildredaktion: Ingo Dämgen

Register: Saskia Eßer

ISBN 978-3-87468-320-3

ISBN des Gesamtwerkes: 978-3-87468-316-6

Überblick über das Gesamtwerk

Band 1: Oberhausen in vorindustrieller Zeit

Band 2: Oberhausen im Industriezeitalter

Band 3: Oberhausen in Krieg, Demokratie und Diktatur

Band 4: Oberhausen in Wirtschaftswunder und Strukturwandel

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Überblick über das Gesamtwerk

Grußwort

Vorwort der Herausgeber

■ PETER LANGER

Wirtschaftswunderjahre

Die Stadt Oberhausen zwischen 1955 und 1970

■ MAGNUS DELLWIG / ERNST-JOACHIM RICHTER

Wirtschaft im Wandel

Oberhausen 1960 bis 2010

1. Oberhausen um 1960 – eine Zeitenwende, und keiner merkt es

2. Die 1960er Jahre – die Krise der Großindustrie beginnt

„Die Concordia-Krise – ein Schock für Oberhausen“ Interview mit Friedhelm van den Mond (Teil 1)

3. Die 1970er Jahre: Zechenschließungen, Stahlkrise und neue Gewerbegebiete

„Für die Menschen in Oberhausen begann der Wandel mit dem Bero-Zentrum“ Interview mit Friedhelm van den Mond (Teil 2)

4. Die 1980er Jahre – Aufbruch zur Stadt der Dienstleistungen

„Strukturbruch in Oberhausen – das war vor allem die Stahlkrise!“ Interview mit Friedhelm van den Mond (Teil 3)

„Das Knappenviertel ist ein Ort des sozialen Strukturwandels“ Interview mit Klaus Wehling (Teil 1)

5. Die 1990er Jahre: Die Neue Mitte Oberhausen – Aufbruch zu neuen Ufern der Stadtentwicklung

„Überzeugungsarbeit in Oberhausen und im Ruhrgebiet für die Neue Mitte“ Interview mit Friedhelm van den Mond (Teil 4)

„Das Stadtteilprojekt Knappenviertel gibt Mut zu neuen Lebensperspektiven und ist Vorbild für ganz Oberhausen“ Interview mit Klaus Wehling (Teil 2)

6. Die Jahre 2000 bis 2011: Oberhausens Wirtschaft im frühen 21. Jahrhundert

„Historischer Städtebau prägt die Stadt“ – das Beispiel Antonyhütte, Schacht IV Interview mit Klaus Wehling (Teil 3)

■ MAGNUS DELLWIG / ERNST-JOACHIM RICHTER

Die Neue Mitte Oberhausen: Motor des Strukturwandels für Oberhausen

Interview mit Burkhard Drescher

■ MAGNUS DELLWIG / ERNST-JOACHIM RICHTER

Die Neue Mitte Oberhausen als Trendsetter im Ruhrgebietstourismus

Interview mit Axel Biermann

■ HUGO BAUM

Schlaglichter aus 45 Jahren erlebter Kommunalpolitik

Erinnerungen an meine aktive Zeit in Oberhausen von 1945 bis 1990

■ MANFRED DAMMEYER

Bildung und Kultur in der Arbeiterstadt Oberhausen

Persönliche Anmerkungen

■ BRITTA COSTECKI

Ich bin viele: Von den Geschichten der Frauen zur Frauengeschichte

Interview mit Ingeburg Josting

■ VERA BÜCKER

Unbeirrt durch die Zeiten

Katholische Kirche, Katholiken und katholisches Milieu in Oberhausen

1. Entstehung der katholischen Kirchengemeinden in Oberhausen

2. Lebensläufe: Katholiken im Nationalsozialismus

3. Veränderungen in katholischer Kirche und katholischem Milieu seit 1945

■ HELMUT FABER

Die Evangelische Kirche in Oberhausen

Wechselwirkungen zwischen Industrie, Kirchengemeinden und Kommune

■ ROLAND GÜNTER

Stadtentwicklung und Stadtgeschichte

Eine Oberhausener Strukturgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert

■ HELMUT PLOSS IN VERBINDUNG MIT HEINRICH BAHNE UND HELMUT CZICHY

Die breite Vielfalt

Ökologie und Umweltschutz in Oberhausen 1949 bis 2011

1. Die 1950er Jahre: Dicke Luft und ein Naturschutzgebiet

2. Die 1960er Jahre: Der Blaue Himmel über der Ruhr und das Abfallproblem

3. Die 1970er Jahre: Umweltschutz wird zum Thema

4. Die 1980er Jahre: Umweltkatastrophen und Umweltfortschritte

5. Die 1990er Jahre: Global denken, lokal handeln

6. Die Jahre nach 2000: Neues Jahrtausend, alte Probleme

■ GERD LEPGES

Theater und noch mehr Kultur in Oberhausen

Oder: Von der Kultivierung eines Kaufmansssohnes

■ KLAUS OBERSCHEWEN

Das K 14: Links und Frei!

Interview mit Walter Kurowski und Heinz Brieden

■ GUSTAV WENTZ

Die „sportfreudigste Stadt“ hat sich für Breitensport entschieden

Oberhausens Sportgeschichte weist viele Facetten auf

■ SARAH BENNEH-OBERSCHEWEN / ERCAN TELLI

Ohne Migration kein Oberhausen

Chancen erkennen und Potenziale fördern

1. Ohne Migration kein Oberhausen

2. Die Herausforderungen der Gegenwart: Integrationspolitik und Aktivitäten gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Oberhausen

3. Zwischen Heimat und Heimweh

4. Geschichten, die Mut machen – Migrantinnen und Migranten in Oberhausen

5. Die Vergangenheit als Teil der Gegenwart und Zukunft – was können wir aus den Geschichte(n) der Migration lernen?

■ DIETER BAUM

Erinnerungen an das Schladviertel

Ein Stadtviertel im Wandel der Zeit

■ MAGNUS DELLWIG

Oberhausen im Ruhrgebiet – ein produktives Spannungsverhältnis

Stadtentwicklung im Wechselspiel von Städtekonkurrenz und dem Wettbewerb der Städte um den bestmöglichen Weg in die Moderne

1. Stadtentwicklung im Ruhrgebiet

2. Oberhausens Besonderheiten – Oberhausens Chancen

3. Gemeinsam in Oberhausen! – Wir in der Metropole Ruhr! – Das passt zusammen!

4. Schluss

Zeittafel

Danksagung

Abkürzungen

Begriffserläuterungen

Anmerkungen

Register

Autorinnen und Autoren

Abbildungsnachweis

Klappentext

Grußwort

2012 wurde Oberhausen 150 Jahre alt. Das war und ist ein guter Grund sich zu erinnern. Immer wieder haben mich im Laufe der Jahre Oberhausenerinnen und Oberhausener angesprochen, ob es nicht mal wieder Zeit würde für ein neues Oberhausen-Geschichtsbuch.

Immerhin ist das letzte 1965 erschienen, das ist fast ein halbes Jahrhundert her. Den Anstoß, von der Idee zur konkreten Umsetzung zu kommen, gab die Verabschiedung von Dr. Peter Langer als Leiter der Heinrich-Böll-Gesamtschule Mitte 2009. Damals habe ich ihn, den Vorsitzenden der Historischen Gesellschaft Oberhausen (HGO), gebeten, in seiner hinzugewonnenen Freizeit sich um ein neues Stadtgeschichtsbuch für Oberhausen zu kümmern.

Er hat die Aufgabe angenommen und sie gemeinsam mit seinem Mitherausgeber Dr. Magnus Dellwig sowie den Autorinnen und Autoren, dem Redaktions- und dem Herausgeberteam zum Erfolg geführt.

Pünktlich zum Jubiläumsjahr 2012 lag ein neues und umfassendes Werk über die Stadtgeschichte vor. Es gliedert sich in vier Bände:

■ Band 1 beschreibt die vorindustrielle Zeit bis zum 19. Jahrhundert. Er stellt die Stadtteile in den Mittelpunkt für eine Zeit, zu der es Oberhausen noch nicht gab.

■ Band 2 setzt 1758 an. Er schildert die Industrialisierung und die Stadtbildung von der Gründung der St. Antony-Hütte bis ins frühe 20. Jahrhundert.

■ Band 3 befasst sich mit dem Zeitraum von 1914 bis 1945 und stellt dabei die politische Geschichte in den Mittelpunkt.

■ Band 4 ist zeitlich gesehen der aktuellste Band. Er behandelt die Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei macht ihn die Vielseitigkeit der thematischen Zugänge zur Stadtgeschichte besonders lesenswert.

Beeindruckende 35 Autorinnen, Autoren und Interviewpartner haben die Stadthistorie aufgearbeitet und auf mehr als 1.800 Seiten dargestellt. Das ist bislang einmalig in der Geschichte der Städte im Ruhrgebiet. S. ist ein überaus spannendes Bild von der Entwicklung Oberhausens entstanden, das eine große Verbreitung und Leserschaft verdient.

Mein ganz besonderer Dank gilt den zahlreichen Autorinnen und Autoren, die in ihrer Freizeit mit großem Zeitaufwand und noch größerem Enthusiasmus dieses umfassende Oberhausener Geschichtsbuch geplant, geschrieben und herausgegeben haben.

Die Erstveröffentlichung im September 2012 fand bei der geschichtsinteressierten Bürgerschaft derart großes Interesse, dass die neue Stadtgeschichte schon zu Weihnachten 2012 vergriffen war.

Den Herausgebern ist es daraufhin gelungen, finanzielle Förderer und den Oberhausener Verlag Karl Maria Laufen für eine Neuveröffentlichung als Studienausgabe zu gewinnen. Diese verfolgt den hohen Anspruch, allen Interessierten in Stadt und Wissenschaft das Werk zu attraktiven Konditionen erneut zugänglich zu machen. Ebenfalls ist beabsichtigt, Folgebände zu Themen von gesamtstädtischer Bedeutung zu veröffentlichen. Dafür danke ich allen Beteiligten im Namen der Stadt Oberhausen, ihrer Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich.

Glück auf und viel stadtgeschichtliches Lesevergnügen!

Klaus Wehling

Oberbürgermeister

Vorwort der Herausgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Ihnen vorliegende letzte Band des vierbändigen Werkes Oberhausen – eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet, veröffentlicht anlässlich des 150. Jubiläums der Gründung der Bürgermeisterei Oberhausen 1862, bietet ein breites Spektrum von Beiträgen zur Zeitgeschichte seit Gründung der Bundesrepublik 1949. Mit der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der hier versammelten Themen und Beiträge gewinnt Band 4 ein von den übrigen Bänden deutlich abweichendes, sehr eigenständiges, sich jedoch auf der Höhe der Geschichtswissenschaft befindendes Profil.

Über keinen der vier Bände der Oberhausener Stadtgeschichte hat die Redaktionsgruppe so oft diskutiert wie über diesen Abschlussband. Zuerst wurde erwogen, die sehr wechselhaften, die Stadt grundlegend verändernden gut sechs Jahrzehnte in chronologischen Kapiteln darzustellen. Es war dann indes die im Vergleich zu den vorherigen Epochen noch einmal rasant zunehmende Vielfalt der wichtigen Felder der Stadtentwicklung, die Zweifel aufkommen ließen, ob einzelne Autorinnen oder Autoren diese Bündelungsleistung würden erbringen können; zu groß erschien der Zeitaufwand für umfassende Recherchen. Hinzu trat das Bewusstsein, dass eine solche „Breitband-Darstellung“ notwendigerweise zu thematischen Schwerpunktsetzungen des/​der jeweils Verantwortlichen führen müsste. Und diese subjektive Entscheidung würde – da waren wir uns einig – von der städtischen Öffentlichkeit um so fragwürdiger aufgenommen werden, je näher sich die Darstellung der Gegenwart näherte. – Eine solche, manches Mal strittige Aufnahme von Forschungsergebnissen ist unvermeidlich angesichts der Eigenart von Geschichte, immer erklärende und erzählende Zusammenhänge herzustellen: nämlich über das für die Gegenwart immer noch bedeutsame Leben in der Vergangenheit. Und je nach Standpunkt der Menschen heute ändert sich daher ihr Interesse an der Geschichte, mitunter auch ihre Bewertung von Vorgängen und Personen.

Nach Auffassung der Redaktionsgruppe haben wir eine überzeugende Antwort auf diese Herausforderung gegeben: Im Sinne der Gebote moderner Geschichtstheorie nach Adressatenbezug, Multiperspektivität und Mehrdimensionalität (verschiedene Themen, Ereignis- oder Strukturgeschichte im Längsschnitt) vereint Band 4 jetzt Beiträge:

■ zu Themen wie Wirtschaft, Umwelt, Kultur, Kirchen, Sport, Migration, Geschlechter, Alltag und Städtebau,

■ zu methodischen Zugängen wie biografischen Sichtweisen (Hugo Baum) und Interviews (z. B. Friedhelm van den Mond, Burkhard Drescher, Klaus Wehling) über exemplarische Ereignisse (Gründung des soziokulturellen Zentrums K 14, Gespräch mit Heinz Brieden, Walter Kurowski) bis zu Strukturveränderungen der Stadt im zeitlichen Längschnitt (z. B. Wirtschaft, Umwelt, Migration, und Alltag),

■ und schließlich von handelnden Zeitgenossen (Hugo Baum, Manfred Dammeyer) über engagierte Mitbürger im gesellschaftlichen Raum (Roland Günter, Gerd Lepges, Ercan Telli, Gustav Wentz) bis zu Fachleuten und Fachhistorikern (Sarah Benneh-Oberschewen, Inge Josting, Magnus Dellwig, Peter Langer, Jochen Richter). Als Herausgeber möchten wir noch auf Folgendes hinweisen: Am Ende der vier Bände finden Sie jeweils eine Reihe von Begriffserläuterungen. Auf die dargestellten Begriffe wird im Text mit einem grauen Dreieck (▶) aufmerksam gemacht. Sodann möchten wir darauf hinweisen, dass die Autorinnen und Autoren für die mitunter wertenden Aussagen in ihren Beiträgen allein verantwortlich sind.

Die Darstellung historischer Prozesse kann kaum mit den Einordnungen und Beurteilungen aller übereinstimmen. Das ist auch gut und sogar notwendig, wenn neue Sichtweisen auf die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart entstehen sollen. Daher ist uns konstruktive Kritik immer erwünscht; sie wird unter stadtarchiv@oberhausen.de gerne entgegen genommen. Anonym verfasste Kommentare werden allerdings nicht beantwortet.

Die Herausgeber, die Mitglieder der Redaktionsgruppe und das gesamte Autorinnen- und Autorenteam von „Oberhausen – eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet“ wünschen Ihnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre.

Oberhausen, November 2014

Magnus Dellwig

Peter Langer

Klaus Oberschewen

Peter Langer

Wirtschaftswunderjahre
Die Stadt Oberhausen zwischen 1955 und 1970

Die 1950er und 1960er Jahre waren keine „bleierne Zeit“. Im Gegenteil: Nach zwölf Jahren Diktatur und Krieg, nach den Hungerjahren der Nachkriegszeit waren diese Jahrzehnte von einem – manchmal überschäumenden – Optimismus geprägt. Diese Stimmung wird von den Zeitungen am besten eingefangen. Auf die Zeitungen dieser Jahre stützt sich folglich dieser Essay.1

„Keine Nacht wie jede andere“ – die letzten Heimkehrer

Im Herbst 1955 trafen die letzten Spätheimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft in Oberhausen ein. Bundeskanzler Adenauer hatte bei seinem Moskau-Besuch als Gegenleistung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion ihre Freilassung erreicht. Während ihrer letzten Etappe vom Auffanglager Friedland ins Ruhrgebiet fieberte die ganze Stadt mit den Heimkehrern. In den Zeitungsredaktionen blieb man die ganze Nacht wach, um noch in der Morgenausgabe die Ankunft der entlassenen Kriegsgefangenen melden zu können. „Es war keine Nacht wie jede andere!“ titelte der „Generalanzeiger“ zehn Jahre später.2 Die Emotionen, die Redakteur Paul Huppers noch im Rückblick ergriffen, müssen im Originalton wiedergegeben werden:

„Oberhausen sank in tiefe Stille. Zwei späte Zecher übten sich mit wenig Erfolg auf dem Heimweg um Gesangeskünste, dann erfasste der Blick durch die breiten Schaufensterscheiben [der Geschäftsstelle] auf den Altmarkt und die Marktstraße kein Lebewesen mehr. Die gelben Blätter der Kastanien bewegten sich leise im Nachtwind.“

Irgendwann in den frühen Morgenstunden erfuhr der Redakteur, dass einer der Kriegsgefangenen, Josef Brykoszynski, mit einem Privatwagen in Mülheim angekommen war. Die Mülheimer Polizei brachte ihn mit einem Streifenwagen nach Oberhausen. Ankunftszeit: 3.46 Uhr. Mit dieser Meldung konnte die Morgenausgabe in Druck gehen, der Redakteur hatte Feierabend.

Abb. 1: Spätheimkehrer 1955, GA vom 9./​10. Oktober 1965

„Auf dem Heimweg zu meiner Wohnung in der Blücherstraße, ein Weg von einer knappen Viertelstunde, begegneten mir zwei Eisenbahner, die zum Dienst gingen, aus einem geöffneten Fenster rasselte ein Wecker. In meiner Wohnung war ich allein, meine Frau war zu ihren Eltern ins Sauerland gefahren. Ich öffnete das Fenster nach der Nordseite, eine letzte Zigarette sollte die überbeanspruchten Nerven beruhigen. Es war 4.48 Uhr. Und dann in diesem Moment, in dem ich abzuschalten versuchte, erhob sich von weither, vom Kirchturm von St. Marien, die Stimme der ersten Glocke. Sie blieb nicht allein, zu ihr gesellten sich, mächtig heranrauschend wie Meereswogen, die tiefen Stimmen der Glocken von Herz-Jesu und der Christuskirche, und dann, als ich das Fenster nach Süden öffnete, traten mit hellerem Klang die Glocken der Klosterkirche und von St. Josef in Styrum hinzu. In den Blocks, die ich übersehen konnte, erhellten sich an zwei, drei Stellen Fenster, und während sich die Köpfe fragend und lauschend dem Glockenjubel zu dieser ungewohnten Stunde zuwendeten, brachte ein sanfter Wind die Ahnung des neuen Tages und des neuen Morgens mit – die Schicksalsnacht des 10. Oktobers 1955 war zu Ende!“3

Über der Schlagzeile prangte das Photo des weißbärtigen 72-jährigen Hieronymus Werm. Er war schon 56 Jahre alt gewesen, als der Krieg ausbrach, und 62, als er in Gefangenschaft geriet. Die anderen Spätheimkehrer, die in diesem Herbst als letzte noch eintrafen, waren durchweg viel jünger, teilweise noch nicht 40, der jüngste war 31 Jahre alt.4 Mehr als ein Jahrzehnt davor hatte man sie als ganz junge Männer an die Ostfront geschickt; jetzt mussten sie sich, gesundheitlich angeschlagen, vielleicht als Kriegsinvaliden, in einer völlig veränderten Stadt zurechtfinden. Um die Spätheimkehrer wurde es danach ruhig, es kam niemand mehr an. Die Vermissten wurden mit der Zeit für tot erklärt. Manche Kriegerwitwe konnte nach dieser Feststellung durch das Standesamt wieder heiraten. Noch Jahre später führte dies in Einzelfällen zu schwierigen Situationen, menschlich und juristisch. Wenn ein Vermisster doch wieder „nach Hause“ kam, konnte die zweite Ehe aufgelöst werden. Die Presse beschäftigte sich ausführlich mit diesem Problem, ohne aber zu sagen, wie viele derartige Fälle es in Oberhausen gab.5

Eine andere Folge des Krieges blieb noch auf Jahre täglich präsent: Die große Zahl von Kriegswaisen. Als im Frühjahr 1955 die Schüler des Geburtsjahrgangs 41 die Volksschule verließen – mit 14 nach der achten Klasse – und in den großen Lehrwerkstätten ihre Lehre begannen, war jeder Dritte Halbwaise. In den großen Hüttenwerken der Ruhr hatten von 470 handwerklichen Lehrlingen 150 keinen Vater mehr.6

Nur ein Teil der Spätheimkehrer kam wirklich „nach Hause“. Viele kamen zu ihren Familien, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt als Flüchtlinge und Vertriebene aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Grenze in Oberhausen gelandet waren. Dann hatte der Flüchtlingsstrom aus der Sowjetzone bzw. der DDR eingesetzt, der Jahr für Jahr „Quoten“ von mehr als tausend Personen nach Oberhausen spülte. Und in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kamen die ersten „Gastarbeiter“ aus den Mittelmeerländern, zuerst aus Italien. Ein sehr hoher Anteil der Menschen in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld musste sich in der Welt der Industrie, die nach wie vor diese Städte prägte, in den 1950er Jahren erst noch zurechtfinden. Und auch die übrigen, echten „Heim“-kehrer – als Jugendliche in den Krieg geschickt oder in der Nazi-Diktatur erwachsen geworden – fand eine für sie fremde Welt vor.