Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 3

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Der Abtransport der Kohle

Erst nachdem die Besatzer die Eisenbahnen zumindest notdürftig betreiben konnten, war daran zu denken, von Oberhausener Zechen Kohle abzutransportieren. Es dauerte nach Beginn der Besatzung noch Monate, bis das richtig in Gang kam. Nach Einstellung des Zugverkehrs hatten die Zechen zunächst auf Halde weiterproduziert. Bis April wurde die Produktion auf den großen Werken der GHH wegen der massiven Behinderungen des Eisenbahnverkehrs Schritt für Schritt eingeschränkt. Standen zu Beginn der Besetzung im Januar sechs Hochöfen im Feuer, so waren Ende März nur noch drei Öfen in Betrieb.255 Seit der Verordnung des französischen Besatzungsgenerals Degoutte vom 15. April war jeglicher Transport von Kohle nur noch mit einem von der Besatzungsmacht beglaubigten Passierschein möglich.256

Am 20. April schnitt die Besatzungsmacht durch Sperrung der Brücken über den Rhein-Herne-Kanal die GHH-Werke auf Oberhausener Gebiet von den Zechen Osterfeld, Sterkrade, Jacobi, Vondern und Hugo ab und unterband dadurch die normale Kohle- und Kokszufuhr. Die Besatzung konnte aber nicht verhindern, dass eine unterirdische Verbindung von der Zeche Vondern zur Zeche Oberhausen hergestellt wurde, über die bis Anfang Juni täglich 4.000 bis 5.000 Tonnen Koks zur Eisenhütte gelangten. Dann zerstörten die Franzosen das Verbindungsgleis von „Oberhausen“ zur Eisenhütte.

Auf „Concordia“ wurde im Frühjahr 1923 zunächst der Hafen am Kanal besetzt, aber auf dem Wasserweg konnten Franzosen wegen der Sabotageanschläge keine Kohle transportieren. Die Besetzung von Schacht 4/​5 am 16. März beantworteten die Bergleute sofort mit Niederlegung der Arbeit, stießen aber auf Widerstand der Betriebsleitung, die die Kohleförderung trotz der Besetzung nicht unterbrechen wollte. Verschärft wurden die betriebsinternen Konflikte noch durch die Forderungen der auf Concordia besonders starken kommunistischen Gruppen. Diese unternahmen auf Belegschaftsversammlungen den Versuch, den verhandlungsbereiten Betriebsrat zu entmachten. Kommunistische Redner äußerten den Verdacht, dass die Eigentümer von Concordia, die Rombacher Hüttenwerke, wegen ihrer finanziellen Abhängigkeit von einer französischen Großbank nicht zur Einstellung der Förderung bereit seien. Im Lauf des April kam die Arbeit allmählich wieder in Gang, es wurde aber nur für den Eigenbedarf der Zeche gefördert.

Ganz im Süden der Stadt wurde die Zeche Alstaden am 22. April von französischer Infanterie besetzt. Auf der Zeche Roland rückten am 15. April französische Truppen ein; die Belegschaft legte sofort die Arbeit nieder; so hatte die Besatzungsmacht nur etwa 75 Mann zur Verfügung, um die auf Halde liegenden Kohlen zu verladen; sie schafften durchschnittlich 500 Tonnen Briketts pro Tag. In Oberhausen bemerkte man, nicht ohne Schadenfreude, dass die Besatzer gar nicht wussten, welche Art von Kohle hier auf Halde lag. „Sollten sie die Magerkohle von Roland in ihre Hochöfen schütten, dann dürften sie allerlei Erfahrungen machen.“257 Ob die auf Roland lagernden Bestände bewusst unbrauchbar gemacht worden waren, wie dies nach dem Beschluss des Zechenverbandes auf fast allen Zechen ab April geschah258, ist unbekannt. Am 14. Juli wurde die Besetzung der Zeche Roland beendet.259

Als der Sommer zu Ende ging, waren die auf Halde liegenden Kohlen der Oberhausener Zechen von der Besatzungsmacht weitgehend abgeräumt. Die Versorgung der Bevölkerung mit Kohlen für den Winter machte deshalb im Herbst zunehmend Sorge. Noch Ende Mai hatten sich die Zechenbesitzer strikt geweigert, dem Vorschlag der Reichsregierung zu folgen und Kohle unentgeltlich an die Bergarbeiter zu verteilen,

„um die Bestände verschwinden zu lassen […], weil eine solche Maßnahme nichts anderes als eine Erziehung zum Diebstahl darstelle und mit einer großen Demoralisation verbunden sei; außerdem habe sie deswegen einen bedenklichen kommunistischen Einschlag, weil gerade erst eine kommunistische Unruhewelle über weitere Teile des Ruhrgebiets gegangen sei“.260

Schikanen im Alltag

Mehr noch als der „Kampf um die Kohle“261 drangen die täglichen Schikanen der Besatzung ins Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten. Jede Kleinigkeit wurde in der Lokalpresse ausgewalzt, meist in sehr aggressivem Stil und mit entsprechenden Kommentaren versehen.

Die Polemik der deutschen Presse gegen die französische Besatzungsmacht war in den ersten Wochen der Besetzung besonders heftig. Im „Generalanzeiger“ wurde im Februar in großer Aufmachung (halbseitig) ein Bild aus einer Pariser Zeitung abgedruckt, auf dem Frankreichs Marianne einen deutschen Mann erwürgt. Darüber stand in riesigen Lettern: „Was Frankreich erreichen will.“ Gemeint waren damit die angeblichen Absichten hinter den angedrohten zollpolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Besatzung.262

Auch die häufigen, sehr detaillierten Berichte über die Übergriffe einzelner Besatzungssoldaten, nicht selten in Kneipen, trugen sicher nicht zur Entspannung und Besonnenheit bei, die andererseits doch ständig angemahnt wurde. Frauen, die mit Soldaten Kontakt aufnahmen, wurden in der Presse regelrecht an den Pranger gestellt. Ein junger Mann zeigte drei Frauen an, die „mit zwei belgischen Soldaten an einem Tisch saßen und sich von ihnen mit Getränken, Kognak und Bier traktieren ließen“. Die Bevölkerung habe sich „über das Verhalten der Weiber entrüstet“. Die Polizei gab das Vernehmungsprotokoll an die Presse weiter, die die Namen und vollständigen Adressen der „Frauenspersonen“ mit veröffentlichte.263 Ein Mädchen aus Osterfeld, die „ihre Würde so wenig achtete“, sich mit einem belgischen Offizier einzulassen und mit ihm im Bottroper Busch spazieren zu gehen, erhielt von ihren Mitbürgern „fürchterliche Prügel“. Für Mädchen war es offenbar schon gefährlich, mit Besatzungssoldaten nur zu sprechen; „junge Burschen aus Osterfeld“ schnitten zwei Mädchen aus Gladbeck bei ihrer Ankunft in Osterfeld-Nord die Haare ab, weil sie sich während der Bahnfahrt „mit Belgiern eingelassen“ hatten.264 Auch dass ein französischer Unteroffizier mit einigen Kameraden im städtischen Hallenbad duschte, ohne zu bezahlen, löste Empörung und administrative Verwicklungen aus.265 Als sich französische Posten in der Nähe des Altmarkts einen Spaß daraus machten, Passanten erst mit Steinen zu bewerfen und dann angeblich auch zu beschießen, wurde die Empörung so groß, dass der französische Ortskommandant als Disziplinierungsmaßnahme für seine Soldaten eine Ausgangssperre nach acht Uhr abends verhängte.266 Ein Oberhausener Polizist musste vors Kriegsgericht in Bredeney, weil er sich geweigert hatte, einen französischen Offizier zu grüßen.267 In Osterfeld wurde ein Bergmann, als er trotz der nächtlichen Ausgangssperre nach Hause ging, verhaftet und von belgischen Soldaten auf der Wache misshandelt. Es kam zum Gerichtsverfahren gegen den verantwortlichen Unteroffizier, der aber alles abstritt. „Da [der Bergmann] K. weder ein Wort Französisch verstand, noch der deutschen Sprache mächtig war, wurde er wenig gefragt.“ Er erhielt aber vier belgische Francs als Entschädigung.268

Derartige Bagatell-Zwischenfälle, die die Zeitgenossen aber keineswegs als Bagatellen empfanden, füllten fast täglich die Spalten der Lokalzeitungen. Aber die Presse berichtete auch von ernsten Zwischenfällen mit Toten und Verletzten. Am 21. Februar wurde ein „Schupobeamter“ auf dem Bahnhofsvorplatz von französischen Soldaten tödlich verletzt. Bei seiner Beerdigung brachte eine riesige Menschenmenge ihre Empörung zum Ausdruck.269 Ein Kellner wurde im Juli 1923 nachts bei der Rückkehr von der Arbeit von einer französischen Patrouille in der Nähe der seit langem besetzten Zeche Roland schwer misshandelt und getötet. Der französische Unteroffizier erhielt später dafür zwei Jahre Gefängnis auf Bewährung. Zur Nervosität der französischen Wachsoldaten mag es beigetragen haben, dass sich die Bevölkerung oft nachts auf den Halden mit Hausbrand versorgte, weil sie schon lange keine Deputatkohle mehr erhalten hatten.270

Trotz Zensur und kurzfristigen Erscheinungsverboten wurden in der Lokalpresse weiterhin auch kleinste Übergriffe dokumentiert. Paradoxerweise gewannen die Kommentatoren der Besatzung manchmal auch etwas Positives ab, sie freuten sich über die geschlossene Abwehrfront aller Bevölkerungskreise, einschließlich der Arbeiterschaft.

„Wer hätte noch vor Jahresfrist gedacht, dass die Ruhrbevölkerung einen derart hartnäckigen Widerstand gegen fremde Mächte leisten würde. Wer hätte anzunehmen gewagt, dass fünf Jahre nach der Revolution die Arbeiterschaft eine so straffe vaterländische Disziplin halten würde, wie wir es seit dem 13. Januar täglich erleben. […] In den Gefängnissen sitzen Arbeiter und ‚Bürgerliche‘ einträchtig bei einander. Dort ist alles gleich, dort ist alles nur deutsch, nur Opfer einer und derselben Sache.“271

 

Anlass dieses Leitartikels waren blutige, den Kommunisten angelastete Arbeitslosenunruhen im benachbarten Mülheim a.d. Ruhr.

Hungerunruhen

Die Lage der Arbeiter hatte sich durch die beschleunigte Inflation und durch die schrittweise Stilllegung vieler Zechen und Großbetriebe sowie des ganzen Eisenbahnverkehrs so sehr verschlimmert, dass sich der Zorn in Streiks und gewalttätigen Unruhen entlud. Diese Arbeiterunruhen richteten sich ab dem Frühjahr nicht gegen die französische Besatzungsmacht, sondern gegen die Betriebsleitungen und gegen die eigenen staatlichen Behörden. Es begann im April in Mülheim a.d. Ruhr, wo es im Zusammenhang mit der gewaltsamen Besetzung des Rathauses sechs Tote und über 30 Verletzte gab. Im Mai kam es im Osten des Reviers, zunächst in Dortmund, dann in Gelsenkirchen und in Bochum zu regelrechten Aufständen, die in den Kreisen der bürgerlichen Rechten in das gedankliche Schema einer zweiten Dolchstoßlegende eingeordnet wurden: Es sei nicht zu verkennen, „dass sich hierbei neue Symptome eines Verfalls der Front gen Westen zeigten.“272

Die unverändert harten Repressionsmaßnahmen der Besatzungsmacht verschärften die sozialen Spannungen und provozierten weitere Terroraktionen. In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni zerfetzte eine Bombe einen belgischen Militärtransport auf der Hochfelder Eisenbahnbrücke in Duisburg. Der Anschlag forderte sechs Tote und über 30 Verletzte. Die Besatzungsmacht reagierte mit einer totalen Verkehrssperre für das westliche Besatzungsgebiet. Wieder mussten auf den Militärzügen, dieses Mal auf der Strecke zwischen Oberhausen Hbf und Gladbeck-West, Deutsche als Geiseln mitfahren. Sterkrade musste am 3., 5. und 6. August jeweils zehn Geiseln stellen.273 Rings um den Oberhausener Bahnhof wurden spanische Reiter aufgestellt. Besonders in Lirich und Alstaden, die schon seit 1919 zum „Brückenkopf“ des besetzten Gebietes zählten, wurde das öffentliche Leben für einige Tage fast völlig abgeschnürt.274

Im Alltag drückte die immer unerträglicher werdende Geldentwertung auf die Stimmung. Die Inflation hatte schon 1922 ein galoppierendes Tempo erreicht; täglich wurde im Lokalteil der Zeitung der Kurs des US-Dollars und des holländischen Gulden bekanntgegeben, der Dollar stand am 19. Januar bei fast 23.000 Mark. Ein Monatsabonnement des „Generalanzeigers“ kostete 1.250 Mark; Postbezieher wurden Ende des Monats aufgefordert, 550 Mark nachzuzahlen. Obwohl sie als Folge der Kriegswirtschaft lange vor der Besetzung des Ruhrgebietes begonnen hatte, wurde die Geldentwertung voll den Franzosen angelastet. Die Oberhausener Stadtverwaltung verglich jeden Monat die Lebenshaltungskosten mit dem Vormonat; ein Vergleich der Preise vom Dezember 1922 mit denen vom Februar 1923 zeigte eine Erhöhung um mindestens das Drei- bis Vierfache. „Was uns die Besatzung gebracht hat, lehrt die Zusammenstellung besser als alle gründlichen Besprechungen und Untersuchungen wirtschaftlicher Vorgänge.“275

Mitte Juli betrug das Tempo der Geldentwertung über 30 Prozent pro Woche, Anfang August 80 Prozent!276 Die Geschäfte und Warenhäuser waren seit Wochen leer; selbst die Grundnahrungsmittel waren knapp geworden, und dies trotz einer guten Ernte, denn die Bauern horteten ihre Erzeugnisse, weil sie schon bald eine neue Währung erwarteten. Wenn es überhaupt Kartoffeln gab, wurden sie den Händlern aus den Händen gerissen. Besondere Wut zogen deshalb einzelne Händler auf sich, die Nahrungsmittel ins Ausland verschoben. S. wurden aus dem Grenzgebiet große Mengen an Vieh und Fleischwaren nach Holland gegen harte Devisen verkauft. Holländische Metzger protestierten heftig gegen diese Konkurrenz.277 Wie am Kriegsende 1918 während der großen Grippe-Epidemie erhöhte der Hunger die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten; vor allem die Tuberkulose nahm in besorgniserregendem Tempo zu; das Oberhausener Gesundheitsamt zählte in der Stadt 151 Tuberkulose-Tote innerhalb eines Jahres.278

Im September mussten die Betriebe die Beschaffung der Kartoffeln für ihre Belegschaften selbst übernehmen. Die Arbeiter sollten einen Teil des Lohnes in Kartoffeln ausbezahlt erhalten. Um kleinere Betriebe bei der Geldbeschaffung zu unterstützen, wurde eigens eine „Kartoffelkreditbank“ gegründet.279 Diese Regelung funktionierte offenbar nur zum Teil. Nach einer Vereinbarung des Zechenverbandes mit den Bergarbeiterverbänden vom Juli 1923 wurde ein Preis „für einen Zentner in Höhe von ungefähr einem halben Zimmerhauerschichtlohn“ zugrunde gelegt. Dieser Lohnanteil wurde auch sofort einbehalten, die Kartoffeln konnten aber in vielen Fällen von den Betrieben nicht beschafft werden. Deshalb sollten die Arbeiter ihre „ersparten Gelder“ nachträglich nach der dann gültigen Lohnordnung ausgezahlt erhalten; das waren pro Mann 32 Milliarden Mark. „Bei dem heutigen Kartoffelpreis wären das ca. 90 Pfund Kartoffeln. Also hat der Bergmann für 90 Pfund Kartoffeln sechs Schichten gearbeitet. Ist sich der Zechenverband der Tragweite dieses Beschlusses bewusst?“280 Diese provozierende Frage stellte der Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände, Ortsverband Oberhausen, nicht gerade eine linksradikale Organisation.

Ende Juli verlangten die Belegschaften der GHH und der Zeche Concordia Lohnvorschüsse. Am 31. Juli zogen die Arbeiter von Schacht 2 und von Schacht 4/​5 in einem „gewaltigen Zug“ vor das Hauptverwaltungsgebäude der Concordia, „das bald von den Streikenden ganz umzingelt war“. Sie stießen mit ihren Forderungen aber auf taube Ohren, deshalb marschierten sie zum Rathaus weiter. In mehreren Reden wurde bei der Kundgebung vor dem Rathaus vor allem der Wucher mit Lebensmitteln angegriffen. „Abends wurde dann allen Bergleuten über 20 Jahren zwei Millionen Mark, die von der Stadt vorgeschossen waren, ausgezahlt.“ Darauf kehrten die Bergleute an ihre Arbeitsplätze zurück. Polizeiposten waren glücklicherweise zurückgezogen worden. Die Arbeiter verhielten sich sehr diszipliniert; zu irgendwelchen Zwischenfällen kam es bei dieser Demonstration nicht.281

Bei der GHH versammelten sich die Belegschaften am 30. Juli ab sechs Uhr morgens in ihren Betrieben. Um 8.30 Uhr marschierten sie zur Hauptverwaltung, „öffneten hier gewaltsam das Tor und drangen in den Hof ein. Sämtliche Beamten der H. V. waren auf Anordnung der Direktion nicht zum Dienst erschienen.“ Nach Beratungen im Betriebsratsbüro wurde eine Delegation in die „Beamtenkolonie“ (Grafenbusch) geschickt, um die vereinbarten Forderungen dort vorzutragen: „1) Wirtschaftsbeihilfe (Höhe nach Vereinbarung). 2) Jeden Freitag Lohnauszahlung. 3) Auflösung der Werkspolizei. 4) Humanere Behandlung seitens der Beamten. 5) Wiedereinstellung der gesetzwidrig entlassenen Arbeiter.“ Direktor Holz lehnte alle Forderungen mit einem glatten „Nein“ ab. Er war nicht einmal bereit zu verhandeln, falls die Arbeiter in die Betriebe zurückkehrten. „Der Redner bedauerte dies lebhaft und führte weiter aus, dass die Direktion durch ihre ablehnende Haltung nur die Einigkeit der Arbeiter brechen wolle.“ Er forderte trotzdem zu „Ruhe und Ordnung“ auf – wie nach ihm mehrere Redner auch – und riet dazu, in die Betriebe zurückzugehen, um den Ausgang der weiteren Verhandlungen abzuwarten – dies obwohl doch Direktor Holz gerade jede Verhandlung brüsk abgelehnt hatte! Trotzdem kehrten die Arbeiter gegen Mittag alle in ihre Betriebe zurück. Die Redner beklagten, dass es unter den Arbeitern leider einige „Rüpels“ gebe, „die die ganze Sache mehr als politische, wie als wirtschaftliche ansehen würden“. Einige dieser „Rüpels“ waren während des Gesprächs mit Direktor Holz in den Garten von Paul Reusch eingedrungen und hatten unter anderem zwölf Stück Blumenkohl, 52 Kohlrabi sowie „aus der Waschküche des Herrn Kommerzienrat einen Fahrradmantel und zwei Päckchen Samen“ gestohlen. Die GHH-Direktion verfügte über Berichterstatter, die geradezu liebevoll auch alle Details registrierten!282

Einen Tag später beschloss die Konferenz der Betriebsleiter die Entlassung von 150 Arbeitern. Die Verwaltungsstelle der GHH in Wesel telegraphierte an Direktor Woltmann nach Hamburg: „Dieses vermutlich Ursache Mittwoch morgen eingetretener plötzlichen Verschärfung der Lage in Oberhausen.“283 Jetzt stellten die Arbeiter ein Ultimatum: Falls bis zehn Uhr ihre Forderungen nicht erfüllt seien, würde demonstriert.

Nach einer Betriebsversammlung im neuen Walzwerk formierten sich die GHH-Arbeiter zu einem riesigen Demonstrationszug auf der Essener Straße. Alles lief höchst diszipliniert ab. „Es waren Ordner zur Stelle, die für eine geregelte Aufstellung der Teilnehmer sorgten.“ Man zog am Werksgasthaus, dem Wasserturm und dem Schlackenberg vorbei Richtung Stadtmitte. „Dem Zug vorauf wurde eine weiße Fahne getragen, dann ein Schild, das dem Inhalt nach besagte: Wir beabsichtigen nichts gegen die Besatzungstruppen. Es folgten noch andere Schilder mit den Inschriften: Wir fordern unser gutes Recht! Unsere Kinder schreien nach Brot! Wir müssen hungern!“ Direkt hinter dem Schlackenberg, am Bahnübergang, sperrte eine Polizeikette die Straße. Weil angeblich eine Störung des Wochenmarktes zu befürchten gewesen wäre, wurde den Demonstranten der Zugang zur Stadt rigoros verweigert. Nach mehrmaliger erfolgloser Aufforderung, „die Straße zu räumen“, eröffneten die Polizisten das Feuer. Ein Arbeiter wurde sofort getötet, ein weiterer starb noch am gleichen Tag im Krankenhaus, ein dritter sechs Tage später; sieben Demonstranten wurden verletzt, zum Teil schwer.

Ganz im Gegensatz zum Reporter des „Generalanzeiger“ lastete der Polizeibericht die Katastrophe „linksradikalen Elementen“ an. Die Gewerkschaften hätten angeblich dazu aufgefordert, sich von der Demonstration fernzuhalten. Unter den 6.000 Demonstranten seien „außerordentlich viel Jugendliche“ gewesen, „von denen ein großer Teil sich mit Knüppeln, Latten und Spaten bewaffnet hatte“. Und man habe Äußerungen gehört, „wonach mit Gewalt Brot und Lebensmittel beschafft werden sollten“. Der Augenzeuge, auf den sich der „Generalanzeiger“ berief, hatte nichts von all dem bemerkt.284

Auch der interne Bericht der GHH-Direktion stützt den Polizeibericht nicht: Ziel des Demonstrationszuges sei es gewesen, in die Stadt zu ziehen, „um gemeinsam mit Notstandsarbeitern und Arbeitern der Konkordia [sic] in der Stadt vor dem Rathaus zu demonstrieren“. Allerdings seien die „Hetzer und Aufpeitscher“, die zum Sturm auf die Lebensmittellager drängten, „zahlreicher als gestern“ gewesen. „Die Menge drang darauf schrittweise weiter vor, die blaue Polizei, an Zahl etwa 20, machte sich schussfertig und warnte noch einmal. Die vordersten Arbeiter gingen auf die Polizei, teilweise mit entblößter Brust, zu und riefen: ‘Schießt doch ihr Bluthunde, ihr Verräter.’ Die Polizei kam in Bedrängnis und gab eine Anzahl Schüsse in die Luft ab. Der hinterste Teil des Zuges machte kehrt. Die vordersten drangen weiter vor; darauf schoss die Polizei in die Menge hinein.“285

Der Oberwachtmeister, der das Kommando an der Polizeisperre am Schlackenberg hatte, berief sich – wenig glaubhaft – auf einen Schießbefehl der Franzosen. Die Konzernleitung der GHH zog sich auf einen formalrechtlichen Standpunkt zurück; sie sei schon vor der Demonstration zu Lohnzugeständnissen bereit gewesen, habe aber die Ergebnisse der Verhandlungen auf Bezirksebene abwarten müssen. Die Organisatoren der Demonstration erklärten in einem namentlich gezeichneten Artikel ihre Motive: Sie hatten gehofft, wie tags zuvor die Arbeiter der Concordia von der Stadt eine finanzielle „Beihilfe“ zu erhalten. Es habe keine unbesonnenen Handlungen gegeben. Besonders wichtig war ihnen festzustellen,

„dass weder Spaten noch Knüppel mitgenommen wurden, sogar vor Hunger noch nicht einmal gesungen wurde; dass nicht mit Steinen geworfen worden ist, dass noch nicht ein Schimpf- oder Schmähruf den Polizeiarbeitern zugerufen worden ist, dass gleich beim zweiten, bestimmt beim dritten Schuss schon Blut floss, dass noch beim Zurückfluten in die Masse geschossen wurde, dass dann von der erregten Masse ‚Bluthunde‘ gerufen wurde, wobei noch drei Schüsse fielen und ein Opfer forderten.“

 

Dem stellte die Zeitung jetzt eine andere Schilderung der Vorgänge gegenüber, die im wesentlichen dem Polizeibericht entsprach, ohne aber offenzulegen, aus welcher Quelle diese Informationen stammten.286

Die öffentlichen Attacken gegen die Organisatoren der Demonstration vom 1. August wurden auf weiteren Betriebsversammlungen leidenschaftlich diskutiert. Die Betriebsleitung der GHH nahm dies zum Anlass, ihre Arbeiter in einer öffentlichen Erklärung dazu aufzurufen, umgehend an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren.287 Erst einige Tage nach dem Blutbad am Schlackenberg fanden auch die Gewerkschaften ihre Sprache wieder. Eine Versammlung des Christlichen Metallarbeiterverbandes verurteilte „aufs schärfste die Haltung der Direktion der GHH“, weil sie nicht rechtzeitig zu Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaften bereit gewesen sei. Gleichzeitig distanzierte sich der Verband aber von der Hungerdemonstration. „Die Verantwortung dafür tragen nicht die berufenen Führer der Arbeiterschaft, sondern jene unverantwortlichen kommunistischen, syndikalistischen und unorganisierten Hetzer.“ Am Ende stand der Standard-Appell an die Arbeiter, künftig „nur der Parole der berufenen Führer“ zu folgen.288

Die Beerdigung der drei Todesopfer gestaltete sich zu einer gewaltigen Trauerkundgebung in den Straßen vom Josefs-Hospital zum Liricher Friedhof, „einer Demonstration von bisher in Oberhausen nicht erlebtem Umfang“. Im Trauerzug ging die gesamte Arbeiterschaft der GHH mit, ihnen voran gingen die Direktoren der verschiedenen Abteilungen, aber auch „40 Fahnendeputationen, ausschließlich Sowjetfahnen, nicht bloß von hiesigen, sondern auch von auswärtigen, namentlich Hamborner Sowjet-Vereinigungen.“289 Die Schilderung dieses Trauerzuges wirkt fast surrealistisch: GHH-Direktoren unter Sowjetfahnen!