Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 3

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Auflösung des ersten und Einsetzung eines neuen Arbeiter- und Soldatenrats

Es gab im Verlauf der Revolution in Oberhausen viele filmreife Szenen – die Verbrüderungsszenen auf dem Hauptbahnhof, als Oberhausener Mädchen mit den belgischen Fremdarbeitern tanzten, die schrill spielenden Musikkapellen und roten Fahnen an der Spitze der Demonstrationszüge aus Hamborn, die mit der Straßenbahn anreisenden Revolutionäre aus Mülheim auf der Zeche Osterfeld, der Wortwechsel zwischen dem „nie im Feld gewesenen“ Matrosen und Oberbürgermeister Most im Sterkrader Rathaus – eine neue Szene dieser Art kam durch den Auftritt von Pfarrer Löbbel von der Herz-Jesu-Kirche am Neujahrstag hinzu.

Mit theatralischem Gehabe bot der Pfarrer der Revolution die Stirn und erhob am folgenden Tag (auf der Titelseite der „Oberhausener Zeitung“!) „flammenden Protest gegen […] Willkür und Rechtsverletzung“. Folgendes war, nach Darstellung des Pfarrers, vorgefallen:

„Als heute morgen 11 1/​4 Uhr auf der Herz-Jesu-Kirche zur letzten hl. Messe geläutet wurde, erschienen 5 Revolutionsmänner von der Altmarkt-Versammlung in der Kirche und forderten sofortige Einstellung des Läutens. Der anwesende Messdiener, ein Schulkind, ließ sich einschüchtern und stellte das Läuten ein. Als ich einige Minuten später in der Sakristei erschien und den Sachverhalt erfuhr, befahl ich sofort Fortsetzung des Läutens. Prompt erschienen wieder die Abgeordneten, drangen in die Sakristei ein und forderten, ohne sich vorzustellen oder zu legitimieren, abermals in brüskem Ton die Einstellung des Läutens. Ich erwiderte ihnen, dass ich vorläufig in der Kirche ganz allein zu sagen habe und niemand anders, und dass geläutet werde genau so lange, als ich wolle, und wies ihnen die Tür.“71

Pfarrer Löbbel beendete seinen Leserbrief mit folgendem Aufruf: „Deutsches christliches Volk, erhebe dich und mache Front gegen die neue Schreckensherrschaft! Erhebe dich und gib Antwort auf diese Gewalttätigkeit durch deinen Stimmzettel bei der Wahl zur Nationalversammlung!“

Dass es auf dem Altmarkt um die Toten vom Schacht Königsberg ging, interessierte den katholischen Pfarrer überhaupt nicht. Dass ein Redner von der Stadt als Geste des Beileids forderte, bei der Beisetzung des Bergmanns Meyer die Flaggen auf halbmast zu setzen72, wurde wohl durch die Glocken der Herz-Jesu-Kirche übertönt. Der Streit darüber, wer letztlich die Verantwortung trug für die Verlegung der ▶ Freikorps-Truppe auf den Schacht Königsberg, hatte das Klima in der Oberhausener Öffentlichkeit nachhaltig vergiftet.


Abb. 6: Glaubenskrieg im Lager der Arbeiterparteien, OZ vom 3. Januar 1919

Dass in der aufgeheizten Stimmung der Jahreswende eine Zusammenarbeit zwischen Arbeitervertretern und bürgerlichen Kräften im ▶ Arbeiter- und Soldatenrat nicht mehr möglich war, kann nicht überraschen. Scharfmacher in beiden Lagern wollten diesen Rat nicht mehr. Den Todesstoß versetzte ihm die radikale Linke. In einer Arbeiterkundgebung auf dem Altmarkt am 2. Januar 1919 wurde der erste, sehr breit in der Oberhausener Bevölkerung verankerte Arbeiter- und Soldaten-Rat für abgesetzt erklärt und ein neuer proklamiert, dessen „Anerkennung“ Demonstranten noch am gleichen Tag von der Stadtverwaltung erzwangen. Der neue – linksradikal orientierte – Arbeiter- und Soldatenrat, aus insgesamt etwa zehn Spartakus- bzw. USPD-Mitgliedern zusammengesetzt, repräsentierte nur eine Minderheit der Oberhausener Arbeiterschaft, geschweige denn der Oberhausener Bevölkerung.

Die Auflösung des alten und die Einsetzung des neuen Arbeiter- und Soldatenrats löste sofort heftige Protestkundgebungen von seiten der Mehrheits-Sozialisten aus. Die MSPD rief in großen Anzeigen zu einer Versammlung „Gegen Bolschewismus und Spartakusse!“73 am 5. Januar auf. Hauptredner auf dem Altmarkt war Hermann Albertz, Vorsitzender der Mehrheits-Sozialdemokraten in Oberhausen. „In scharfen Worten geißelte er das Vorgehen des sich selbst, unter Missbrauch der Mülheimer Sicherheitswehr, eingesetzten neuen Rates. Die im alten Rat vertretene Spartakusrichtung hatte, die Bergarbeiterbewegung ausnutzend, stets versucht, die Bergarbeiter gegen ihre in langjähriger Tätigkeit bewährten Führer aufzuhetzen.“74 Auch wenn aus heutiger Sicht der polemische Ton etwas befremdlich anmutet (weil wir wissen, wie verhängnisvoll sich die Spaltung der Arbeiterbewegung bald auswirken sollte) – in der Sache hatte Hermann Albertz mit seiner Kritik an der putschistischen Einsetzung des neuen Rates recht. Innerhalb der Arbeiterschaft war die Stimmung seit längerem nicht weniger gereizt als bei den Konflikten zwischen den Vertretern der Arbeiterparteien und des Bürgertums. In den Akten des GHH-Archivs findet sich ein Flugblatt, das offensichtlich von seiten der Mehrheitssozialisten in diesen Tagen verteilt worden war:


Abb. 7: „Flammender Protest“ der bürgerlichen Parteien, GA vom 11. Januar 1919

„Arbeiter! Seid auf der Hut! Der Bolschewismus droht! Er umschleicht Euch stündlich! Lichtscheues Gesindel schleudert verbrecherische Flugschriften ins Land, raunt Euch unsinnige Gerüchte ins Ohr! Was wollen diese Verbrecher am deutschen Volke! Ein wüstes Durcheinander, Aufhebung jeder Ordnung, Zerstörung der Arbeitsstätten! Deutschland soll ein Trümmerfeld werden, in dem Verzweiflung, Kummer und Elend herrschen.“75

Eine auf der Altmarkt-Kundgebung der Mehrheits-SPD am 5. Januar gefasste Resolution, die später Oberbürgermeister Havenstein übergeben wurde, verweigerte dem neuen Arbeiter- und Soldatenrat die Anerkennung, forderte die Wiedereinsetzung des alten Rates „unter Ausschluss der Spartakusse“ und die Durchführung der Wahlen zur Nationalversammlung.76 Diese letzte Forderung war in Oberhausen, wie sich bald herausstellen sollte, überflüssig. Denn trotz der linkslastigen Zusammensetzung unternahm der Oberhausener Rat als Ganzes nichts, was die Durchführung der Wahl hätte behindern können. Die Befürchtungen der Mehrheits-Sozialdemokraten waren trotzdem nicht ganz unbegründet, denn die soeben neu gegründete KPD wollte die Einberufung der Nationalversammlung verhindern – notfalls durch Gewalt, wie sich im Spartakusaufstand in Berlin und der Besetzung des „Vorwärts“-Gebäudes zeigte.

Am 12. Januar 1919 demonstrierten die Deutsche Demokratische Partei (DDP), die Deutsche Volkspartei (DVP), die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), das katholische Zentrum und die christlichen Gewerkschaften gegen den neuen, linksradikalen Arbeiter- und Soldatenrat. In riesigen Anzeigen wurde zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen: „Es soll flammender Protest erhoben werden gegen Terrorismus und Vergewaltigung der bürgerlichen Freiheit.“77 Im Zusammenhang mit der bürgerlichen Demonstration am 12. Januar kam es in der Lothringer Straße am Moltkeplatz zu einer Schießerei, bei der vier Menschen starben und weitere Personen – z. T. schwer – verletzt wurden. Die rechtskonservative „Oberhausener Zeitung“ nannte die Namen der Todesopfer. Sie lastete die Verantwortung für das Blutbad der Sicherheitswehr des neuen ▶ Arbeiter- und Soldatenrates an.


Abb. 8: „Frauen und Jungfrauen, Männer und Jünglinge, schreitet restlos zur Wahl!“ GA vom 18. Januar 1919

„Die Leute, die an der Lothringer Straße (Moltkeplatz) die Schüsse abgaben, durch welche leider hiesige Personen verletzt wurden, hatten, nach der Angabe des Arbeiterrates, den Auftrag, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, und werden die Folgen ihrer Tat, die wir natürlich schwerstens verurteilen müssen, zu tragen haben.“78

Ein Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats wies diesen Vorwurf entschieden zurück. Wer die Schüsse wirklich abgegeben hatte, konnte nie geklärt werden.

Die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919

Die Wahl zur Nationalversammlung fand am 19. Januar 1919 in Oberhausen ohne Störungen statt. Entgegen anderslautenden Vorwürfen setzte sich der Arbeiter- und Soldatenrat für eine ordnungsgemäße Durchführung ein, obwohl die in ihm vertretenen Parteien USPD und KPD diese Wahl boykottierten. Der Rat dementierte in einer öffentlichen Erklärung die Gerüchte, er beabsichtige, die

„Wahlen zur deutschen Nationalversammlung und preußischen Landesversammlung zu stören. […] Der Arbeiter- und Soldatenrat wird sich jeder Beeinflussung der Wahlhandlung enthalten und hat seine Organe entsprechend angewiesen. Um Missdeutungen zu vermeiden, wird der A.S.R. weder vor noch in den Wahllokalen bezw. Wirtschaftsräumen Sicherheitsmannschaften aufstellen.“

Diese Erklärung wurde in einer riesigen Wahlanzeige von den bürgerlichen Parteien als Ergebnis einer Besprechung mit den Führern des Arbeiter- und Soldatenrates veröffentlicht79 – ein eigenartiger Vorgang, der die Vermutung nahelegt, dass der Rat sich zu diesem Zeitpunkt gegenüber den bürgerlichen Kräften bereits in der Defensive befand!

 

Tabelle 1: Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld80

Otto Most, der Oberbürgermeister von Sterkrade wurde über die Liste der DVP in die Nationalversammlung gewählt. Die Wahlbeteiligung von 73 Prozent erscheint aus heutiger Sicht durchaus normal. Eine überwältigende Mehrheit der Oberhausener Bevölkerung unterstützte durch ihre Stimmabgabe die parlamentarische Demokratie. Bei den eine Woche später folgenden Wahlen zur preußischen Landesversammlung war das Ergebnis in Oberhausen ganz ähnlich.

Verglichen mit den Reichstagswahlen in Oberhausen vor dem Krieg konnten die bürgerlichen Parteien ihren Stimmenanteil in etwa halten, die SPD gewann etwa zehn Prozent hinzu – ein phantastischer Vertrauensvorschuss, der ganz schnell wieder verloren gehen sollte. Das gute Ergebnis der Wahlen vom Januar 1919 hätte für die Vertreter der bürgerlichen Parteien und der SPD Anlass sein können, etwas gelassener mit den Forderungen der Bergarbeiter umzugehen als in den Wochen und Monaten zuvor.

2. Die großen Streiks im Frühjahr 1919

Das unterkühlte Amtsdeutsch der Bekanntmachungen vermittelt auch heute noch ein eindrucksvolles Bild von der desolaten Ernährungssituation, die sich seit Kriegsende kaum verbessert hatte:

Milchversorgung. Wie zu erwarten war, ist die der Stadt auf der rechten Rheinseite verbliebene Vollmilchmenge erheblich zurückgegangen, so dass es vorläufig nicht mehr möglich ist, die im Umlauf befindlichen Milchkarten mit Vollmilch versorgen zu können. Auf C- und B-Karten wird statt ¾ Liter nur noch ½ Liter Vollmilch verausgabt. Personen über 70 Jahren erhalten statt Vollmilch Magermilch.“81

Lebensmittel der Woche. […] Jeder einzelne Bezugsschein für: Kartoffeleinkellerungskarte: 5 Pfund, Butter: 25 Gramm Margarine, Fett: 20 Gr. Margarine, Graupen: 125 Gramm Nudeln, Marmelade: 250 Gramm […]. Die Herabsetzung der Kartoffelwochenmenge von 7 auf 5 Pfd. beruht auf Anordnung der Reichskartoffelstelle und gilt für das ganze Reich. […] Fleisch und Fleischwaren dürfen nur auf die Abschnitte der Reichsfleischkarte abgegeben und entnommen werden. […] Die Wochenkopfmenge an Fleisch ist von 200 auf 300 Gramm erhöht worden.“82

Die miserable Versorgung mit Lebensmitteln löste auch in Oberhausen Ende Januar/​Anfang Februar mehrfach spontane Hungerunruhen aus. Die schwersten Zwischenfälle ereigneten sich auf der Zeche Concordia. An mehreren Tagen plünderten dort Belegschaftsmitglieder die Lebensmittellager.83

Der Hunger und die Kälte reichten allein schon aus, um die Empörung der Arbeiter, vor allem der Bergleute, anzustacheln. Politische Gründe kamen hinzu, als die Sozialisierungsverhandlungen der Zechenbesitzer mit den Gewerkschaftsführern keine greifbaren Ergebnisse brachten. Wie in den anderen Städten des Ruhrgebiets waren in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld ab Montag, dem 17. Februar, die Bergleute auf allen Zechen im Streik; Straßenbahnen verkehrten nicht, Schulen blieben geschlossen. Die Redakteure der „Oberhausener Zeitung“ befürchteten Schlimmes: „Möge ein gütiges Geschick noch in letzter Stunde das Ruhrrevier vor der völligen Zerrüttung bewahren.“84

Die blutigen Kämpfe in Dorsten und anderen Städten des nördlichen Reviers lösten auch in Oberhausen Gewaltaktionen linker Gruppen aus, die aber, verglichen mit dem ▶ Freikorps-Terror eher harmlos blieben. Hermann Albertz wurde „verhaftet“ und mehrere Stunden festgehalten, weil er angeblich den „Zug der Spartakisten nach Münster“ verraten hatte. Die städtische Polizei wurde durch „Spartakisten“ entwaffnet.85

Aber gleichzeitig wurde im ersten Nachkriegs-Februar Karneval gefeiert! Der Musikverein kündigte einen Beethoven-Abend an, die Humoristengesellschaft Edelweiß „humoristische Vorträge, anschließend Tanzkränzchen“. Die Straßen waren von „feiernden Arbeitern“ bevölkert.86 Derartige Berichte klingen nicht nach „Schreckensherrschaft“, die die Spartakisten angeblich ausübten.

Die Haltung der Arbeiterschaft war keineswegs einheitlich: Die großen Bergarbeiter-Gewerkschaften veröffentlichten auch in Oberhausener Zeitungen große Anzeigen gegen eine Beteiligung am Streik, für dessen Beginn „unverantwortliche spartakistische Elemente“ verantwortlich gemacht wurden. Die Reichsregierung wurde aufgefordert, „im Auftrage des überwiegend größten Teils der Belegschaften […] unverzüglich die geeigneten Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung zu treffen und dafür zu sorgen, dass die Bergarbeiter ungestört ihrer Arbeit nachgehen können.“87 Dies war eine eindeutige Aufforderung zur militärischen Intervention – wie anders hätte es verstanden werden können?


Abb. 9: Aufruf der Bergarbeiter gegen den Generalstreik, GA vom 18. Februar 1919

In den großen Werken in Oberhausen spielten sich während der Generalstreiks-Woche überall ähnliche Szenen ab: Kleine Gruppen von bewaffneten Arbeitern oder größere Demonstrationszüge, unter denen sich immer auch bewaffnete Gruppen befanden, drangen in die Betriebe ein und verlangten die Einstellung der Arbeit. Die ▶ Obleute der Arbeiter in den Betrieben solidarisierten sich nicht mit den Eindringlingen, die von ihren Anführern nicht immer unter Kontrolle gehalten werden konnten. Es gab Warnschüsse, die aber nirgendwo Schaden anrichteten, und in einigen Fällen Prügeleien und Misshandlungen. Die GHH-Berichte nennen zwei Verletzte, die im Krankenhaus behandelt werden mussten. Wegen dieser massiven Einschüchterungen ruhte in den großen Eisen- und Stahl-Werken der GHH in Oberhausen und Sterkrade jeweils für einzelne Tage die Arbeit.88

Im benachbarten Sterkrade spitzte sich die Situation Mitte Februar ebenfalls zu. Schon Mitte Januar hatte eine kommunistische Gruppe vom Arbeiter- und Soldatenrat eine härtere Gangart gegenüber der Stadtverwaltung gefordert. Auf dem Sterkrader Rathaus wehte die rote Fahne. Oberbürgermeister Most erinnert sich, wie

„ein Haufen Spartakisten vor mein Rathaus zog, alles andere mit wenigen Ausnahmen fluchtartig von der Straße, nicht zuletzt auch aus dem Rathaus verschwand und eine bei mir eindringende Abordnung mich erst aufforderte, dann mit Brachialgewalt dazu bringen wollte, zum Gaudium der unten tobenden Menge persönlich die rote Fahne auf dem Dach des Rathauses zu hissen. Wer weiß, welchen Ausgang die Szene genommen hätte, wenn nicht meine beherzte Sekretärin […] sich währenddessen der draußen abgestellten Fahne bemächtigt und kurzerhand getan hätte, was mir zu tun unmöglich gewesen wäre.“89

Nicht weit vom Sterkrader Rathaus entfernt lief am 10. Februar – dem Tag, als General Watters Truppen in Hervest-Dorsten einmarschierten – im Werk Sterkrade eine stürmische Sitzung des ▶ Arbeiterausschusses ab. Werksdirektor Wedemeyer sah sich plötzlich mit einem stark vergrößerten Teilnehmerkreis konfrontiert, da Mitglieder des Arbeiterrates aus Oberhausen und Sterkrade anwesend waren.90

Die turbulente Sitzung im Werk Sterkrade war die Ouvertüre zu den revolutionären Ereignissen der Wochenmitte, als die „öffentliche Gewalt in die Hände der Spartakisten“ überging. Bewaffnete Trupps, „welche von auswärts kamen“, besetzten am Donnerstag (13. Februar) alle wichtigen Gebäude der Stadt; sie durchsuchten auf dem Bahnhof alle Züge nach Regierungstruppen. Der aus Weimar von der Sitzung der Nationalversammlung sofort zurückgekehrte Oberbürgermeister Most wurde mit einer Protestdemonstration gegen General Watters Vormarsch am Sterkrader Rathaus gegrüßt.

Die „Spartakisten“ übernahmen die Sicherheitswehr und erklärten den Sterkrader Arbeiterrat für abgesetzt. Offener Widerstand gegen diese putschistischen Aktionen kam von der Beamtenschaft, die in einer Versammlung forderte, die Wachposten von den öffentlichen Gebäuden abzuziehen. Im Rathaus richtete der Kommunist Thiele eine Filiale der zentralen Streikleitung ein – auf dem gleichen Flur wie Oberbürgermeister Most! „Größere Massen von Spartakisten zogen sich nun aus der Umgebung in Sterkrade zusammen und griffen von hier aus das benachbarte Bottrop mehrfach […] an.“91

Obwohl erheblich unter Druck, fühlte sich Most offenbar stark genug, an den folgenden Tagen ein „Ersuchen“ der Revolutionäre nach Zahlungen aus der Stadtkasse (zur Besoldung der revolutionären Sicherheitswehr) zunächst mit einem „ablehnenden Bescheid“ zu beantworten, zahlte aber nach einem „heftigen Auftritt“ 18.000 Mark „aus eigenen Mitteln“ an die „Fordernden“ und erklärte daraufhin seinen Rücktritt.92 Bereits einen Tag später konnte jedoch gemeldet werden, dass er im Amt bleibe, „da sich die Verhältnisse auch in Sterkrade wieder in geordneten Bahnen bewegen“.93 Ob die Berichte der sozialdemokratischen „Volksstimme“ in allen Einzelheiten zutreffend waren, kann heute niemand mehr klären. Zweifellos bringen sie jedoch zum Ausdruck, wie die revolutionären Ereignisse im ehrwürdigen Rathaus von Sterkrade von der Bürgerschaft gesehen und empfunden wurden.

Nach dem Einmarsch in Bottrop, wo es blutige Kämpfe gab, standen Watters Truppen am 23. Februar in Königshardt. Die dann folgenden Ereignisse werden von Otto Most anschaulich und mit leicht ironischem Unterton geschildert:

„Am darauffolgenden Montag in aller Frühe stießen etwa 20 Mann von den Regierungstruppen über die Demarkationslinie vor, umstellten das neben dem Rathaus befindliche Clubhaus, wo das Hauptquartier der Spartakisten war, beseitigten mit der Waffe in der Hand jeglichen Widerstand und nahmen etwa 50 Spartakisten samt dem Führer Thiele, dem eine sich rasch ansammelnde Menge in aller Eile übel mitspielte, gefangen mit sich. Die Sache ging so rasch vor sich, dass, als ich, durch die Schüsse gerufen, aus meiner Wohnung heraneilte, nur noch die rasch hinwegrollenden Wagen und ein toter Spartakist im Vorgarten des Clubhauses zu sehen waren.“

Durch diesen „Handstreich […] irgendeines tatendurstigen Unterführers“ geriet Most in eine sehr schwierige Lage, denn Sterkrade musste mit einer gewalttätigen Reaktion aus dem revolutionären Hamborn rechnen, ohne auf die Unterstützung der Regierungstruppen hoffen zu können. Deshalb formierten einige Weltkriegsoffiziere in aller Eile eine Bürgerwehr.

„An Waffen war noch viel vorhanden; gerade in den Tagen zuvor war eine neue Aufforderung zur Abgabe bei der Kriminalpolizei erlassen worden, und ein kleines Lager hatte sich dort angesammelt. Das Oberkommando musste ich, der ich von militärischen Dingen so gut wie keine Ahnung hatte, selbst übernehmen. […] Es kam zu einem regelrechten Kleinkrieg zwischen Sterkrade und Hamborn, der in seinen Einzelheiten an manche mittelalterliche Fehde erinnerte und uns bei allem Ernst der Lage doch nicht selten lächeln ließ. Mit ungeheurem Ernst wurden beiderseits Patrouillen ausgesandt, Grenzsicherungen vorgenommen, Rapporte über die militärischen Bewegungen des Gegners erstattet, auch zweimal Schüsse gewechselt. Zu Schaden kam dabei aber niemand, obwohl das Spiel drei Tage dauerte. […] In der vierten Nacht schien alles gegen jeden Angriff bestmöglich gesichert zu sein, und ich hoffte, das an Schlaf Versäumte nachholen zu können. Aber kaum hatte ich mich hingelegt, da begann der Fernsprecher zu läuten, und mein ‚Adjutant‘, ein Weltkriegsoberleutnant, berichtete in großer Aufregung, dass nach Meldungen der weitest vorgeschobenen Posten Hamborner mit Reiterei anrückten. Einige Minuten später hieß es, auch schwere Artillerie sei im Anzug, ich möchte sofort zum Rathaus kommen und die notwendigen Befehle erteilen. Noch war ich beim raschen Anziehen, da schellte es wieder. Ich nahm den Hörer auf: ‚Hier Oberst Katendiek! Melde, dass ich soeben das Rathaus in Hamborn ohne Kampf besetzt habe.‘“94

 

Die Straftaten, die man ein Jahr später Thiele und den anderen Sterkrader Revolutionären im Duisburger Schwurgericht zur Last legte, waren Lappalien: Sachschäden und die angebliche Misshandlung des Sterkrader Försters. Trotzdem wurde Thiele wegen Nötigung zu neun Monaten Gefängnis verurteilt.95

Der Abbruch des Generalstreiks brachte auch das Ende des USPD/​KPD-Rates in Oberhausen: Drei Mitglieder, die wohl den linken Flügel dieses Gremiums bildeten, die Brüder Goppelt und Leo de Longueville, setzten sich aus Oberhausen ab. Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten die Lohngelder der Sicherheitswehr für mehrere Tage mitgenommen, ein Gerücht, das die sozialdemokratische „Volksstimme“ zum Anlass nahm für die hämische Schlagzeile: „Stiften gegangen“.96 Die „Volksstimme“ benannte die verschwundenen Personen zunächst nicht mit Namen. Einige Tage später ist von „Oberhausener Spartakistenführern“ die Rede, über die „die tollsten Gerüchte unsere Stadt“ durchschwirrten. Angeblich hätten sie „Hunderttausende“ mitgenommen.97 Eines der „tollen Gerüchte“ über Leo de Longueville – der 1933 von der S. ermordet wurde – malt das Bild, wie er auf einem Schimmel, der aus Paul Reuschs Pferdestall im Lipperfeld entwendet war, durch die Stadt ritt. Doch gehört die Episode mit dem Schimmelreiter vielleicht auch in die Zeit der Herrschaft der „Roten Armee“ ein Jahr später – da sind sich die Erzähler nicht so ganz sicher.

Franz Goppelt und Leo de Longueville wehrten sich wenige Tage später in einem Leserbrief im „Generalanzeiger“ gegen den Vorwurf, sich widerrechtlich größere Geldsummen angeeignet zu haben und schilderten die Vorgänge so: „In einer Sitzung des engeren A.- und S. -Rates Oberhausen wurde beschlossen, bei der Reichsbank Geld zu beschlagnahmen, um die Löhnungsgelder sicher zu stellen und verschiedene Genossen zu sichern.“98 Die Verfasser des Briefes seien beauftragt worden, das Geld abzuholen, doch habe der Bankangestellte erst nachgefragt, ob dies wirklich im Auftrag des ▶ Arbeiter- und Soldatenrates geschehe. Dies sei vom „Genossen Hasberg“ verneint worden, worauf die Bank sich weigerte, Geld auszuzahlen.99

Wie auch immer dieser eigenartige Vorgang wirklich abgelaufen sein mag – die geflohenen Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrats offenbarten in ihrem Leserbrief unbeabsichtigt zweierlei: Das Finanzgebaren des Arbeiter- und Soldatenrates war reichlich dubios; und der Rat war zumindest in seinen letzten Tagen heillos zerstritten, obwohl ihm nur noch Mitglieder der USPD und der KPD angehörten. Es ist sicherlich nicht zu gewagt, diese innere Zerrissenheit als eine wesentliche Ursache seines Scheiterns anzusehen – neben dem Fehlen einer politischen Massenbasis in der Stadt.

Am 6. März marschierte die Brigade Gerstenberg, aus Hamborn kommend, in Oberhausen ein. Die Truppe bestand aus „mehreren Kompanien Infanterie, Artillerie, Pionieren und einer Minenwerfer-Abteilung“ und hatte „außer Maschinengewehren usw. schwere Geschütze“. Es gab angeblich nur einen Auftrag für die Soldaten: „Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung“, worunter auch verstanden wurde, „den Arbeitswilligen die Arbeitsmöglichkeit zu erhalten oder zu verschaffen“.100 Brauchte es dazu Minenwerfer und schwere Geschütze?

Der Verfasser des Artikels im „Generalanzeiger“ begrüßte die Soldaten mit geradezu hymnischen Tönen:

„Eine Freude ist es, diese Kerntruppe zu beobachten. Da waltet noch der alte Geist der deutschen Kampftruppen, die den Feind 4 harte Jahre hindurch von den deutschen Gauen in Ost und West und Süd fernhielten. Die Bürgerschaft, die in den vergangenen Wochen so manche schwere Stunde der Sorge durchlebt hat, kann mit vollem Vertrauen in die Tüchtigkeit und Verlässlichkeit dieser ausgezeichneten Soldaten in die Zukunft blicken.“101

Die Truppe begann sofort mit Hausdurchsuchungen und der Beschlagnahmung von Waffen. Diese Suche scheint nicht sehr ergiebig gewesen zu sein, denn größere Waffenfunde wären von der lokalen Presse sicher in entsprechender Aufmachung gemeldet worden. Auch die in den folgenden Tagen vor allem in den Nachbarstädten mehrmals wiederholten Anzeigen mit der Aufforderung zur Waffenablieferung lassen vermuten, dass erheblich weniger Waffen beschlagnahmt werden konnten, als die Militärs erwartet hatten.102 Wurden hier bereits die versteckten Arsenale angelegt, die dann ein Jahr später beim Kampf der „Roten Armee“ zum Einsatz kamen?

In Oberhausen blieb es nach dem Generalstreik und der darauf folgenden Auflösung des radikalen Arbeiter- und Soldatenrats zunächst vergleichsweise ruhig. Die Stadtverordnetenwahlen lösten am 2. März 1919 endlich die noch aus der Kaiserzeit stammende, nach dem preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht gewählte, Versammlung ab.


Tabelle 2: Stadtverordnetenwahlen 2.März 1919 in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld 103

Der „Generalanzeiger“ wunderte sich über das „vollkommen veränderte Gesicht“ der neuen Versammlung. Die „Hüttenpartei“, d. h. die Fraktion der von der GHH abhängigen bürgerlichen Stadtverordneten, war nicht mehr die dominierende Gruppierung.104 Stärkste Partei war das Zentrum, und das sollte im Oberhausener Rathaus bis 1933 so bleiben. Die Verluste der Sozialdemokraten im Vergleich zu den Wahlen zur Nationalversammlung kündigten schon die katastrophalen Einbrüche der SPD bei späteren Wahlen an.

Als „Besonderheit“ wurde auch vermerkt, dass erstmals „vier Frauen ins Rathaus einmarschieren“105: Für die SPD Leonore Albertz und Anna Schleisick, jeweils mit der Berufsbezeichnung „Ehefrau“ aufgelistet, und für das Zentrum die Lehrerin Maria Kleine-Hülsewische und die Hausfrau Henriette Büssem. Für die gemeinsame Liste der Deutschen Volkspartei und der Deutschnationalen saß weiterhin GHH-Chef Paul Reusch in der Stadtverordnetenversammlung.106

Im April rollte noch einmal eine große Streikwelle über das Industrierevier. Linksradikale Gruppen proklamierten sehr weitgehende Forderungen von der Einführung der Sechsstundenschicht für Untertagearbeiter bei vollem Lohnausgleich bis zur Anerkennung des Rätesystems durch die Regierung, von der Auflösung der ▶ Freikorps bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetrepublik.107 Die großen Bergarbeiterverbände distanzierten sich denn auch von dem Aufruf zum Generalstreik.

Vielleicht deshalb begannen die Streiks auf den Oberhausener Zechen erst mit Verzögerung: am 2. April zunächst auf den Zechen Jacobi und Sterkrade und bei Concordia auf Schacht II und III. Einen Tag später waren alle GHH-Zechen im Ausstand. Die Regierung verhängte den Belagerungszustand; General Watter gab dies in großen Zeitungsanzeigen bekannt.108 Der Zechenverband platzierte ebenfalls riesige Anzeigen in die Zeitungen, um die Bevölkerung mit apokalyptischen „Warnungen“ in seinem Sinne „aufzuklären“.109 Der Belagerungszustand und der öffentliche Druck schien die Bergarbeiter in Oberhausen wenig zu beeindrucken: Am 11. April waren alle Oberhausener Zechen – als letzte hatten sich die Bergarbeiter auf Roland dem Streik angeschlossen – im Ausstand.110 Damit war aber der Höhepunkt erreicht; es wurde geschätzt, dass 75 Prozent aller Bergarbeiter des Ruhrgebiets um die Monatsmitte streikten; in der zweiten Aprilhälfte flaute die Streikwelle überall ab. Für die Oberhausener Zechen wurde am 22. April gemeldet, dass alle Bergleute wieder angefahren seien.111

Welche Bilanz kann für Oberhausen und die nördlichen Nachbarstädte nach der zweiten Phase der Revolution gezogen werden?

■ Zwar hatte es vor allem während der Streikwoche im Februar in den Betrieben Einschüchterungen mit Waffen gegeben, vereinzelte Fälle kurzer Freiheitsberaubung und leichter Körperverletzung sowie verschiedentlich disziplinloses Verhalten der linken Sicherheitswehr, aber keine einzige schwere Gewalttat gegen Menschen (Körperverletzung oder Mord) kann den revolutionären Arbeitern zur Last gelegt werden.

■ Zwar war die Pressefreiheit kurzfristig eingeschränkt, aber nur was die lokale Berichterstattung anging; die überregionale Berichterstattung blieb frei, und keineswegs alle kritischen Blätter wurden von der „Zensur“ erfasst.

■ Zwar gab es beim Arbeiter- und Soldatenrat einen reichlich dubiosen Umgang mit Geld, aber größere Summen standen ihm in Oberhausen gar nicht zur Verfügung.

■ Zwar fielen einzelne „Revolutionäre“ verschiedentlich durch eine radikale Rhetorik auf, aber insgesamt war der Rat um „Ruhe und Ordnung“ bemüht.

Es folgten zehn Monate, die Wehler als eine „Latenzphase“ bezeichnet, „in welcher der Vulkan der Revolution meist nur unterirdisch aktiv war“.112 Die wirklich schweren Kämpfe im Ruhrgebiet standen noch bevor. Ursache dafür war die „maßlose Erbitterung“113 bei vielen Arbeitern nach dem abgebrochenen Generalstreik vom Februar 1919 und dem Scheitern der versprochenen Sozialisierung des Bergbaus.